Wahltage sind Zahltage. Auch sind Wahlen das schärfste Schwert in der Demokratie. In diesem Sinne wählen die Deutschen am 26. September 2021 nicht nur den zwanzigsten Deutschen Bundestag seit 1949 und damit den neunten seit der Deutschen Einheit 1990. Die Deutschen werden auch sechzehn Jahren Angela Merkel im Bundeskanzleramt eine Abschlußnote geben. Es wird die schlechteste Note werden, die die Deutschen einem Kanzler, in diesem Fall einer Kanzlerin, seit Bestehen der Bundesrepublik gegeben haben. Bei keinem Kanzler war der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Politikdarstellung und Ergebnissen so eklatant. Angela Merkel brachte binnen sechzehn Jahren im Verbund mit einer beängstigend regierungstreuen Medienlandschaft das Vierfache Kunststück fertig, tatsächlich fabrizierte Politik von zuvor in Wahlkämpfen versprochener Politik diametral entgegen zu fabrizieren. Nichts von dem, was sie in den Wahlkämpfen vorher thematisierte, spielte nach der jeweiligen Wahl eine Rolle.
Angela Merkel versprach vor ihrer ersten Kanzlerschaft 2005-2009 eine weit schärfere Linie bezüglich der Wiederflottmachung des bundesdeutschen Sozialstaates als es die von ihr abgelöste Regierung Schröder mit der AGENDA 2010 (mit nachhaltigem Erfolg) in die Tat umsetzte. Auch versprach sie strikte Zuwanderungsregeln, eine Islamisierung der Bundesrepublik war mit ihr bis 2005 nicht zu machen.
Im Bundestagswahlkampf 2009 positionierte sich Angela Merkel noch für eine Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke. Sie zog das sogar nach der Wahl noch durch. Doch das Seebeben vor Fukushima 2011 nahm sie kurz danach zum Anlass, der deutschen Kernenergieerzeugung per einsamen Beschluss den Garaus zu machen. Inwieweit hinter dieser Kehrtwende ihr gemeinsamer Grönlandbesuch von 2007 mit Sigmar Gabriel (SPD) eine Rolle spielte, ist dabei nicht klar. Den drehenden Wind Richtung Weltrettung im Verbund mit dem wirkmächtigen Feuilleton wird sie damals sicher aufgenommen haben. Die Abkehr von der deutschen Kernenergie 2011 markiert jedenfalls Angela Merkels Neujustierung Richtung Schwarz-Grün auf Bundesebene. Sie leitete damit den Abstieg der Bundesrepublik von einem starken Demokratie-, Wirtschafts-, Energie- und Forschungsstandort zu einem inzwischen mittelmäßigem, störanfälligen, von Vertrauenskrisen geschüttelten Abziehbild der Bundesrepublik Deutschland ein. Angela Merkel erhob das Prinzip (ihrer) Moral über die Regeln der parlamentarischen Demokratie mit einer funktionierenden Gewaltenteilung.
Im Bundestagswahlkampf 2013 spielte das Thema Öffnung der EU-Außengrenzen und unkontrollierte Massenmigration in die Europäische Union hinein keine Rolle. Nichts deutete auf eine historische Abkehr bisheriger deutscher Positionen hin.
Im September 2015 geschah das Unfassbare. Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland entschied ohne das Parlament zu fragen den Bruch der Dublin-III-Regeln und ließ eine Völkerwanderung nach Deutschland zu. Die mit Zuwandern gefüllten Autobahnen von der Türkei über den Balkan, Ungarn und Österreich sind sicher noch gut gegenwärtig. Hätten die Ungarn nicht dicht gemacht, die EU gäbe es heute so nicht mehr. Angela Merkel weiß das sicher, wird es jedoch niemals zugeben. Damals begriffen viele Bundesbürger, dass die Bundeskanzlerin den Gesellschaftsvertrag zwischen dem Staat und seinen Bürgern brach. Sinngemäß lautet diese informelle Abmachung „Ich, der Staat nehme dir, Bürger, Steuern und Abgaben ab. Dafür garantiere ich dir nach Kräften innere, äußere und existenzielle Sicherheit“. Angela Merkel sagte im September 2015 öffentlich, die Bundesrepublik könne ihre Grenzen nicht kontrollieren. Ene Anmerkung: In der Coronapandemie beweist die Bundesrepublik ihren Bürger täglich, dass sie alles was sie kontrollieren und strafrechtlich verfolgen kann, bis ins letzte Jota auch vollziehen kann!
Der Automobilstandort wird dem marktunfähigen E-Auto geopfert, der Energiestandort wird an die „Zappelstromwand“ gefahren mit der Folge der europaweit höchsten Strompreise, der Forschungsstandort wird auf Linie gebracht – Geld bekommt nur die richtige Forschung mit der richtigen Haltung, der Wirtschaftsstandort wird zunehmend staatlich gesteuert. Die Liste könnte schier unendlich weitergeführt werden.
Die Meinungsfreiheit ist unter Druck. Waren die deutschen Medien vor nicht allzu langer Zeit noch Leuchttürme kritischen Journalismus, so sind die meisten freiwillig auf Regierungslinie eingeschwenkt. Kritische Journalisten haben Mühe, ihre Existenz zu finanzieren. Wer in der Bundespressekonferenz zu oft zu kritische Fragen stellt, wird aussätzig behandelt oder gleich putingesteuert geframt – selbst wenn es Journalisten sind, die jahrzehntelang aus Rußland putinkritisch berichteten. In Deutschland 2021 ist niemand sicher, der für die Freiheit des Wortes eintritt als rechts diffamiert und damit brotlos gemacht zu werden. Die Bundesrepublik ist nicht die DDR, ist keine Diktatur. Doch manches schmeckt und riecht verdammt schlecht.
Selbstverständlich gelang Angela Merkel dieser Absturz in die Mittelmäßigkeit nicht allein. Vorausgegangen war seit 2007 der Weg der SPD in sozialistische Illusionen und 2013 der SPD-Beschluss einen „Kampf gegen rechts“ unter Einschluss der Linksaußenpartei zu führen. Seitdem regieren in Deutschland informell sogar auf Regierungsebene bei der SPD deren Sympathien für die Antifa mit. Mit dem apologetischen und demokratietheoretisch fragwürdigen „Kampf gegen rechts“ spaltete die SPD die deutsche Bevölkerung auf eine wahrhaft dümmliche Weise. Linksdemokratisch nimmt dabei das zugelassene Feld ein, rechtsdemokratisch ist generell unter dem Verdikt „rechts wie rechtsextrem wie Nazi“ gestellt.
Eine intellektuell redliche Diskussion ist nicht mehr möglich. Die Verbrechen des Nationalsozialismus, der wegen des Wortstamms „Sozialismus“ nur noch im stalinschen Sinne „Faschismus“ genannt wird, sind zurecht präsent, die Verbrechen des Kommunismus haben sich in gute Laune verflüchtigt. Die SPD verriet damit den antitotalitären Konsens der „Friedlichen Revolution“ von 1989. Sie wechselte ins Lager der kommunistischen Lagerhalter. Meines Bleibens konnte daher in dieser Sozialdemokratie nicht mehr sein. Ich bin, wie bereits vor 1989, wieder Sozialdemokrat ohne Parteibuch. Die CDU/CSU unter Angela Merkel ist inzwischen nachgezogen – in das Lager des antifaschistischen Konsenses.
Josef Stalin klopft sich bei viel Wodka des Nachts mit Putin im Kreml auf die Schenkel. „Diese Demokraten. Denen ist wirklich nicht zu helfen. Die kaufen tatsächlich den Strick, an dem wir sie aufknüpfen. Von Lenin lernen ist gutes Lernen.“
Die SPD räumte kontinuierlich den Platz ihrer erfolgreichen Kanzler Brandt, Schmidt und Schröder in der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft und zog weit nach links. Die Gaußsche Glockenkurve, wonach ein Vielfaches an Wählerstimmen in der starken Mitte verloren geht, wenn am Rande nach Stimmen gefischt wird, ist für die SPD politisches Niemandsland geworden. Angela Merkel zog die gesamte Union hinter der SPD Richtung Grün in die linke Mitte und hinterließ ganz logisch rechts der demokratischen Mitte sehr viel freien Platz. In Politik und Gesellschaft gibt es kein Vakuum. Jetzt sitzt die AfD dort, wo früher große Teile der Union ihren festen Platz hatten.
Für die kommenden Bundestagswahlen geben CDU, CSU, SPD, Grüne das Bild von niedrigem und annähernd gleichem Niveau um die jeweils 20 Prozent. Es ist wie Sozialismus: gleich verteilte Armut (an Wahlprozenten).
Das Bild werde ich in einem weiteren Artikel skizzieren.
Gunter Weißgerber gehörte 1989 zu den Leipziger Gründungsmitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Er vertrat diese 1990 in der freigewählten Volkskammer und war anschließend bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. 2019 trat er aus der SPD aus.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Ungarisch in der Zeitung Magyar Nemzet