Tichys Einblick
Kleinkonservatismus contra Universalismus

Deutschland gegen Europa

Statt von den Erfahrungen unserer Nachbarn mit Fremdherrschaft und Totalitarismus zu lernen, belehren wir Deutschen sie, weil sie konservativer sind als wir. So bringt Deutschland Europa in Gefahr. Von Kolja Zydatiss

Die Geschichte des Radios, insbesondere in Kriegs- und Krisenzeiten, fasziniert mich. So können Sie sich wohl meine Neugierde vorstellen, als ich jüngst auf dem YouTube-Kanal „Uncle-History“ auf eine Zusammenstellung der letzten Radioübertragungen aus verschiedenen europäischen Staaten und kolonialen Besitztümern unmittelbar vor ihrer Besatzung durch die Achsenmächte Nazideutschland und Japan gestoßen bin. Insbesondere die Sendungen aus Athen und Bandung in Niederländisch-Indien (dem Vorläufer des heutigen Indonesiens) haben es mir angetan.

Aus der griechischen Hauptstadt hören wir die am 27. April 1941 mit Pathos vorgetragenen Worte des Chefsprechers von Radio Athen, Kostas Stavropoulos: „Hallo, hier spricht das freie Athen. […] Achtung! In wenigen Momenten wird dieser Radiosender nicht mehr griechisch sein. Er wird deutsch sein und er wird Lügen verbreiten. Griechen! Hört ihm nicht zu. Unser Krieg wird weitergehen, und er wird fortgesetzt bis zum endgültigen Sieg. Es lebe die Nation der Griechen!“ Es erklingt die Nationalhymne. Motorisierte Einheiten der Wehrmacht rollten zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Straßen.

„Bis in besseren Zeiten“

Einen ganz anderen, nüchterneren Ton, der in meinen Ohren nicht von Kampf und Trotz, sondern von einer Art würdevoller Resignation spricht, wählte Sprecher Bert Garthoff, als er am 8. März 1942 in einer fernen Ecke des niederländischen Kolonialreichs ans Mikrophon trat. „Hier ist der Nirom in Bandung. Verehrte Hörer, wir schließen jetzt. Machen Sie es gut, bis in besseren Zeiten. Lang lebe das Vaterland, lang lebe die Königin.“

Auch die Übertragung aus Bandung endet mit der Nationalhymne, dem „Wilhelmus“. Bemerkenswerterweise war dies nicht das letzte Mal, dass sich die Mitarbeiter des Senders an die Bevölkerung in Niederländisch-Indien wenden konnten. Wie der damalige Nirom-Direktor Willem Stenfert 1946 der australischen ABC Weekly erzählte, lautete die erste Anweisung der Japaner an den Sender wohl, „weiterzumachen wie bisher“. Als die Besatzer jedoch herausfanden, dass die Mitarbeiter, sehr zur Überraschung der Hörer, die Sendungen weiterhin mit dem „Wilhelmus“ abschlossen, richteten sie laut Stenfert drei von ihnen als Vergeltung hin.

Zum Zeitpunkt ihrer berühmt gewordenen „letzten Worte“ konnten wohl weder der Grieche noch der Niederländer das ganze Ausmaß der Menschheitsfinsternis erahnen, die über die Welt hereinbrechen sollte. Für beide Radiosprecher nahmen die Kataklysmen des 20. Jahrhunderts übrigens ein gutes Ende. Garthoff war bis 1945 in einem japanischen Lager interniert. Nach dem Krieg konnte er seine Rundfunkkarriere fortsetzen. Er starb 1997 in Amsterdam. Auch Stavropoulos überlebte Krieg und Besatzung und verstarb 1974 in Athen. Beide Männer erlebten also noch die von Garthoff beschworenen „besseren Zeiten“. Millionen hatten nicht so viel Glück.

Rückkehr der Geopolitik

Befinden wir uns heute bereits mitten in einem neuen Weltkrieg – dem dritten nach gängiger Zählung – wie etwa die deutsche liberal-konservative Publizistin Annette Heinisch oder der einflussreiche israelische Minister und Likud-Politiker Israel Katz meinen? Das ist wohl übertrieben.

Offensichtlich ist aber auch: Die Geopolitik ist in letzter Zeit mit einer Wucht in unsere Welt zurückgekehrt, wie es nur wenige für möglich gehalten hätten. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hat unter anderem Russland einen blutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Eine antiwestliche Putsch-Welle hat Westafrika erfasst, Aserbaidschan hat Bergkarabach ethnisch gesäubert, die Terrorgefahr in Europa hat durch die unkontrollierten Migrationsströme der letzten Jahre massiv zugenommen und vom Iran unterstützte Dschihadisten haben ein Blutbad nach Art des Islamischen Staates in Israel begangen – bejubelt von feindlichen Elementen, die sich längst diesseits der sprichwörtlichen Tore befinden. Indes droht der russische Verbündete Serbien mit der Annexion des nördlichen Kosovo, derweil China seine militärischen Muskeln in Taiwan spielen lässt.

Das „Nie-wieder“ der Opfer

Die Einschläge kommen näher – die Menschen in Europa blicken so unsicher in die Zukunft wie schon lange nicht mehr. Wie die verschiedenen europäischen Staaten mit diesen Herausforderungen umgehen, hängt meines Erachtens zu einem großen Teil von den Lehren ab, die sie aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gezogen haben. Hier scheinen sich zwei sehr unterschiedliche Linien herauskristallisiert zu haben.

Auf der einen Seite haben wir einen schwer zu fassenden Konservatismus with a small c, wie man in der englischsprachigen Welt zu sagen pflegt. Er entspringt keinem Parteiprogramm oder zentralem programmatischen Text, er hat keinen Guru oder unumstößliche Glaubenssätze und nimmt in verschiedenen Ländern höchst unterschiedliche Formen an. Die gemeinsamen Nenner sind eine Abneigung gegen jeden Totalitarismus, egal ob links, rechts oder religiös, gegenüber jeder übermäßigen Zentralisierung und Gleichmacherei, ein tiefes Misstrauen gegenüber jedem umfassenden, utopisch-anmutenden Versprechen zur Perfektionierung und Erlösung „der Menschheit“. Hinzu kommt in vielen Fällen ein größerer Respekt für Werte wie Tradition, Familie, Religion, Heimatverbundenheit und nationale Souveränität, als heute in der akademisch gebildeten, globalistisch orientierten Professional-Managerial-Class üblich ist.

Diese Linie, sie ist die Linie der Leidgeprüften und Reifen. Sie ist – tendenziell – das „Nie-wieder“ der Opfer. Wir begegnen ihr etwa in Italien, wo die Alten (und manchmal auch die Jungen) frische Schnittblumen an den Abertausenden von kleinen Marienheiligtümern hinterlassen und sich bekreuzigen, aber auch die linken Partisanen in Ehren halten. Wo Ministerpräsidentin Giorgia Meloni als Europas Grenzschützerin im Mittelmeer auftritt, während sie mit dem Anführer eines anderen Frontstaats, der Ukraine, innig posiert und Rüstungspakete in Milliardenhöhe zusagt.

Dieses kleinkonservative Europa, wir finden es auch im stolzen Polen, das im 20. Jahrhundert zwischen rechtem und linkem Totalitarismus regelrecht zermalmt wurde und heute als Drehscheibe für die westliche Ukraine-Unterstützung und als eine Art europäische Grenzwacht zum Osten hin fungiert. Wir finden es in Prag, wo, jedenfalls als der Autor dieser Zeilen dort zuletzt zu Besuch war, die Flagge der Ukraine an jeder Straßenbahn prangte und die Verteidigungsministerin vor einigen Monaten nach der x-ten einseitig gegen Israel gerichteten UNO-Resolution polterte, man müsse aus dieser „Organisation von Terroristen-Fans“ austreten.

Eine weitere Bastion des europäischen Konservatismus mit kleinem c ist Dänemark. Das Land, dessen damaliger König Christian X. während der deutschen Besatzung jeden Tag demonstrativ unbewaffnet und ohne Leibwache durch die Straßen Kopenhagens ritt und dessen Widerstandskämpfer es schafften, rund 93 Prozent der jüdischen Bevölkerung dem Zugriff der Deutschen zu entziehen und ins neutrale Schweden zu schaffen. Ein Land, dessen heutige sozialdemokratische Regierung der Ukraine F-16 Kampfjets schenkt, hart gegen irreguläre Migration vorgeht, soziale Brennpunkte mittels Umsiedlungsaktionen entschärft und Kinder mit Migrationshintergrund zum Besuch von dänischsprachigen Kitas verpflichtet. Ein kleines Land, dem seine in Fragen der Migration und Integration lange Zeit liberaleren skandinavischen Vettern Schweden und Norwegen mittlerweile zunehmend folgen.

Zum kleinkonservativen Europa gehören nicht zuletzt auch die Niederländer – daar zijn we weer. Ein Volk, über das der ungarische Holocaustüberlebende und in seiner Wahlheimat Israel zum berühmten Satiriker avancierte Ephraim Kishon einst schrieb, es habe sich seine „Anständigkeit und Menschlichkeit auch zu einer Zeit bewahrt, in der diese beiden Eigenschafen in Europa nicht eben hoch im Kurs standen“. Ein Land, das in den letzten Jahren zwar viel (vor allem multikulturell bedingte) Dysfunktionalität hervorgebracht hat, aber auch die scharfzüngigsten Islamkritiker in ganz Europa, und in dem ein neues Bürgerlich-mit-Rechts-Bündnis versucht, den Kahn zu wenden und das Schlimmste zu verhindern.

Notabene: Entgegen aller Dämonisierungsversuche der üblichen Verdächtigen ist der hier skizzierte europäische Kleinkonservatismus alles andere als intolerant. Er akzeptiert wie selbstverständlich internationale Unterschiede, wie etwa die enge Zusammenarbeit von Polen unter der nationalkonservativen und erzkatholischen PiS und Tschechien, gesellschaftspolitisch liberal und laut Umfragen eines der atheistischsten Länder der Welt, in Bereichen wie der Verteidigungspolitik und der Ablehnung verpflichtender Brüsseler Aufnahmequoten für Asylbewerber zeigt.

Das „Nie-wieder“ der Täter

Im Gegensatz zum europäischen Kleinkonservatismus steht der progressive Universalismus der Deutschen. In der Bundesrepublik war dieser nicht immer hegemonial. Ein Politiker wie Helmut Schmidt zum Beispiel, der die Nazis und den „Scheißkrieg“ noch miterlebt hatte, vertrat etwas ganz anderes. Und auch die allermeisten Ostdeutschen können mit ihm wenig anfangen. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich der progressive Universalismus in Deutschland zunehmend durchgesetzt, zuletzt maßgeblich vorangetrieben während der 16 Jahre währenden Regentschaft einer nur nominell konservativen Bundeskanzlerin.

Der progressive Universalismus begründet mit „Nie wieder“ vor allem einen immer weiter ausufernden Katalog angeblicher „Menschenrechte“, der wohl bald in der „alternativlosen“ Forderung gipfeln wird, Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Gazastreifen, die von Kindesbeinen an im Vernichtungsantisemitismus der Hamas indoktriniert wurden, in die EU aufzunehmen. Außerdem im Programm: Immer mehr Zentralisierung, immer mehr global Governance, ein glücklicherweise völlig unrealistisches Streben nach der Überwindung aller Nationalstaaten und nationalen Partikularismen, ein „Kampf gegen rechts“, der vor bürgerlichem Konservatismus nicht haltmacht.

Auch wenn der progressive Universalismus sich genau so präsentiert, wie der Name, den ich mir für ihn ausgedacht habe, suggeriert, nämlich universalistisch, merkt man ihm das Teutonische an. Man riecht den Hegel’schen „Weltgeist“, die Kant’sche „Weltrepublik“. Und auch wenn er sich natürlich nicht mit Panzerketten durchsetzt, kann man ihn das „Nie-wieder“ der Täter nennen. Nicht, weil er einen notwendigerweise zum Täter macht, sondern weil er wichtige Fragen von Schuld und Verantwortung in Vergebungs- und Don’t-look-back-in-Anger-Kitsch ertränkt, indifferent für die Perspektiven der Opfer ist und – bemerkenswert für das Land, das Auschwitz hervorgebracht hat – nicht wirklich einen Begriff des Bösen hat.

Den Gipfel der Perfidie erreichen Deutsche, wenn sie beleidigt und verärgert sind, dass ihre einstigen Opfer, die Juden, auf ihrem Recht auf Differenz und der wehrhaften Souveränität des jüdischen Staates bestehen und nicht wollen, dass dieser unter Aufsicht sicherlich völlig unparteiischer UNO- oder EU-Funktionäre mit den Palästinensern zu einer Soße verrührt wird, die den Untergang Israels bedeuten würde. Oder wenn Deutsche als selbsternanntes moralisches Gewissen der Welt darüber wachen, dass das Opfer nicht rückfällig wird. So etwa herauszulesen aus einem Statement von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die am 16. Mai 2024 allen Ernstes sagte: „Unsere Staatsräson bedeutet, für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen. Sie bedeutet auch, alles dafür zu tun, dass sich Israel in diesem Krieg nicht selbst verliert.“

Im geistig-kulturellen Bürgerkrieg, der den Westen derzeit entzweit, ringen kleinkonservative Einflüsse zudem mit dem Wokeismus um die Vorherrschaft, einer Art Schwesterideologie und häufigem Begleiter des progressivem Universalismus, die ursprünglich aus der englischsprachigen Welt kommt. Charakteristisch für den Wokeismus ist es, Kolonialismus, Sklaverei, Industrialisierung und Wohlstand als eine Art Erbsünde des Westens zu postulieren, aus der sich ewige Schuld ergebe. Daraus folgt eine angebliche moralische Verpflichtung zu ständiger Selbstkasteiung und unbegrenzter Migration aus ärmeren Teilen der Welt. Der Westen und „Weiße“ werden radikal abgewertet, der Globale Süden und „People of Colour“ radikal aufgewertet, sodass ein neuer umgekehrter Rassismus entsteht. Als einziger Menschengruppe der Welt wird weißen Westlern das Recht abgesprochen, stolz auf die eigene Geschichte und das eigene kulturelle Erbe zu sein.

Bald Sendeschluss?

Dass der undogmatische Kleinkonservatismus von Ländern wie Italien, Polen, Tschechien, Dänemark oder den Niederlanden die besseren Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet als progressiver Universalismus und Wokeismus, liegt auf der Hand. Wo aber ein unvoreingenommener Beobachter viele antiautoritäre, antitotalitäre und im besten Sinne des Wortes liberale Motive erkennen kann, sieht das deutsche Establishment meist nur undifferenziert einen „Rechtsruck“, den es aufzuhalten gilt (im Namen des Nie-wieder, versteht sich).

Bemerkenswert ist, dass der deutsche Rechtspopulismus in Gestalt der AfD seinerseits einen deutschen Sonderweg einschlägt, vor allem in der Außenpolitik, wo sie sich dem vermeintlichem Alphawolf Russland regelrecht unterwerfen will, auf eine Weise, die etwa einer Giorgia Meloni oder einem Geert Wilders fremd ist. Außerdem hat sich die AfD in den letzten Jahren in krassem Gegensatz zu fast allen anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa nicht in Richtung Mitte und Anschlussfähigkeit, sondern in Richtung Rechtsaußen bewegt.

Wenn es um die derzeit größten Bedrohungen für Europa geht, dem revanchistischen, atomar bewaffneten russischen Imperialismus und der aggressiven Islamisierung (sowie mittelfristig auch das Streben Chinas nach der Weltherrschaft), ist auf Deutschland also nur bedingt Verlass.

Wie schlecht es um die westliche Freiheit in einigen ihrer einstigen Zentren wie Frankreich, Großbritannien oder Belgien bereits bestellt ist, zeigt die Tatsache, dass die zweitgrößte Weltreligion dort faktisch von Satirikern nicht mehr scharf angegriffen werden kann, es sei denn, sie sind lebensmüde. Juden müssen indessen an immer mehr Orten ihr Jüdischsein verbergen und Zuflucht im inneren Ghetto suchen.

Eine wahre Menschheitsfinsternis wie Zweiter Weltkrieg und Shoah, oder Jahrzehnte des realsozialistischen Mehltaus wie hinter dem Eisernen Vorhang, stehen uns in Europa wohl nicht unmittelbar bevor. Doch immer mehr vertraute Lichter gehen aus und das Grauen ist spürbar. Manche Völker in Europa kennen den Absturz von liebgewonnener Freiheit in die absolute Unfreiheit besonders gut. Wir sollten ihnen zuhören.


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