Nach der Bluttat von Hanau waren sich die meisten deutschen Politiker und Meinungsmacher einig: Die Bundesrepublik wird von fanatisiertem Rechtsterrorismus heimgesucht. Fast alle Verlage und Parteien drückten ihre Sorgen aus. Die deutsche Demokratie sei in Gefahr, warnte die Welt. Erinnerungen an den Untergang der Weimarer Republik vor Hitlers Machtergreifung machten die Runde. Schnell war man mit Verantwortlichen bei der Hand. Die rechte AfD trage die Hauptschuld. Selbst die eher zurückhaltende Frankfurter Allgemeine packte den Zweihänder aus: Die AfD habe «Blut geleckt» mit ihren Parolen aus der «Hölle des Hasses».
Vielleicht ist es ratsam, der deutschen Aufgewühltheit etwas weniger expressionistisch zu begegnen. Deutschland steht nicht am Abgrund. Mitnichten wanken die demokratischen Institutionen. Der Mehrfachmord von Hanau war die üble Tat eines geistig schwerstverwirrten Einzelkriminellen. Der bis dahin unscheinbare Bankangestellte Tobias R. lebte in einer Wahnwelt eingebildeter Hirnmanipulationen. Durch die Ermordung von Ausländern wollte er sich in eine Zeitschlaufe einklinken, um den Fehlversuch der Schöpfung an ihrem Ursprung vor vier Milliarden Jahren zu korrigieren.
Dieses Verbrechen als politisch motivierten Terrorakt zu deklarieren, wie es Deutschlands Innenminister Seehofer tat, wird dem seiner psychiatrischen Eigenlogik folgenden Killer kaum gerecht. Es ist auch unfair seitens der Regierung, Parteien und Politiker der Opposition für die Wahnsinnstat eines klinisch Wahnsinnigen haftbar zu machen. Natürlich hat der Täter in seiner verschobenen Wahrnehmung auch Signale aus der realen Politik empfangen. Aber wenn einer einen Western im Fernsehen anschaut und nachher auf der Straße alle Menschen erschießt, die ihn an Indianer erinnern, ist nicht der Western schuld.
Kein Missverständnis: Die Frage rechts- und linksextremer Gewalt ist relevant in Deutschland. Insgesamt ist die linksextreme Szene größer und gefährlicher. Doch seit der Flüchtlingskrise 2015 mehren sich anscheinend Anschläge und Gewaltverbrechen von rechts. Darüber soll man ernsthaft diskutieren, aber der Fall Hanau ist der falsche Anlass. Die Instrumentalisierung eines Geisteskranken für innenpolitische Zwecke schwächt das eigene Argument. Man kommt einer AfD nicht bei, indem man sie und ihre Wähler in die Nähe eines gewalttätigen Irren rückt.
Deutschland hat eine belastete Geschichte von Angriffskrieg, Diktatur und Völkermord. Es ist verständlich, dass die Politik und viele Deutsche auf rhetorische Entgleisungen und Gewaltakte von rechts empfindlicher reagieren. Die extreme Polarisierung zwischen linken und rechten Feinden der Demokratie brachte die Weimarer Republik zum Einsturz. Nachvollziehbar, dass die Deutschen heute dem politischen Stil mehr Wert beilegen. Wenn aber mittlerweile jeder, der rechts von Angela Merkel steht, öffentlich als «Nazi» angeprangert werden darf, dann stimmt etwas nicht mehr. Viele Leute empören sich zu Recht. Die Eskalation der Vorwürfe schafft nur Wut und Protestwähler.
Warum ist Deutschland heute so aufgepeitscht, so polarisiert? Das hat auch mit dem Ende der Ära Merkel zu tun. Die Kanzlerin wirkt müde. Sie leitet Sitzungen, aber sie führt kaum mehr. Wenn es an der Spitze schwächelt, brechen Rivalen- und Revierkämpfe aus. Das ist der normale Lauf der Dinge. Merkels Machtvakuum produziert Unruhe im System. Deutschlands Seele ist deshalb nicht in Gefahr.
Lange stand die Physikerin wohltuend für unaufgeregte Sachlichkeit. Ihre Kritiker warfen ihr einen Mangel an Visionen vor, aber genau darin lag ihr Trumpf. Unter vielen Großmäulern regierte Merkel ohne Großmaul. In einem zutiefst sozialdemokratischen Land verkaufte sich die Bürgerliche den Wählern mit Understatement als das geringere Übel. Sie verkörperte die Mitte der Mitte in einem Staat, dessen Bürger sich nach sozialer Harmonie und einer staatlich gehegten Marktwirtschaft sehnen. Von Ideologien und politischen Grossexperimenten haben die Deutschen nach zwei Weltkriegen genug. Zum Glück.
Merkel kam von rechts, aber sie rückte nach links, um die noch Linkeren zu verhindern. Das ist ihr gelungen. Die Folge, von ihr wohl unterschätzt, war das Aufkommen einer Opposition von rechts. Bei allem Getöse: Die AfD stellt genauso wenig eine Bedrohung für die Demokratie dar wie die Linkspartei oder die von der AfD als «Diktatorin» verleumdete Kanzlerin. Im Gegenteil: Die AfD ist Ausdruck der Lebendigkeit der Demokratie in Deutschland. Wie übrigens auch die Tatsache, dass eine in der DDR aufgewachsene Politikerin an allen West-Alphatieren vorbei zur Chefin der Regierung aufsteigen konnte.
Muss man die AfD nach Hanau polizeilich überwachen? Wir haben unsere Zweifel. Die Rechtspartei mit einigen dubiosen Mitgliedern, aber solider Verankerung im Grundgesetz, stagniert im Osten bei beachtlichen 25, im Westen bei 15 Prozent. Von der Regierungsübernahme ist sie meilenweit entfernt. Doch sie vertritt den legitimen Unmut vieler Wähler, denen sich das Land und die CDU unter Merkel zu weit nach links verschoben haben. Indem sie in die Lücke stieß, gefährdet die AfD nicht, sondern stabilisiert sie die deutsche Demokratie. Niemand muss sie wählen.
Klar, auch Deutschland hat Probleme. Die Zweifel an der EU wachsen. Merkels Flüchtlingspolitik brachte mehr Kriminalität, mehr kulturelle Konflikte und damit mehr Fremdenfeindlichkeit ins Land. Sie hatte aber auch die Nebenwirkung, dass die Deutschen heute als weltoffener respektiert werden und unbefangener über die Wirklichkeit reden. Die Sozialwerke sind in Schieflage, wie überall, und der Euro ist eine langfristige Hypothek. Diesen Fragen könnte sich das Land wahrscheinlich etwas entspannter stellen, im Bewusstsein einer stabilen Demokratie auf der Grundlage beeindruckender Wirtschaftskraft.
Die Attacke von Hanau ist ein abscheuliches Verbrechen, aber sie steht nicht für eine Renaissance historischen Unheils. Man wünscht den Deutschen von aussen einen etwas versöhnlicheren Umgang mit sich selber.
Dieser Beitrag von Roger Köppel ist zuerst in der Weltwoche erschienen.