Und nun entlud sich im Zuge der Corona-Krise doch ein Crash. Auf einmal ist die Angst an den Finanzmärkten zurück. Zwischen dem 19. Februar und dem 9. März verlor der DAX über 22 Prozent, der Dow Jones zwischen 12. Februar und 9. März 20 Prozent. Vom 24. bis 28. Februar erlebten die U.S.-Börsen ihre schlimmste Woche seit der heißen Phase der Finanzkrise im Jahr 2008. Nach einer kurzen Stabilisierung brachen die Kurse ab dem 4. März weiter dramatisch ein. Am 9. März schloss der DAX mit minus 7,94 Prozent, einem der größten Tagesverluste aller Zeiten. Auch die großen US-Indizes schlossen über 7 Prozent im Minus. Der Ölpreis fiel um mehr als 20 Prozent, der schlimmste Absturz seit 1991. In den USA wurde der Börsenhandel kurzzeitig ausgesetzt. Donald Trump hatte auf Twitter auch gleich die Schuldigen ausgemacht: Die Lügenmedien, welche die Gefahr von Corona übertrieben und Russland sowie Saudi-Arabien, die sich um den Ölpreis stritten.
Dabei hatte alles so unaufgeregt begonnen. Viele Indizes, darunter auch Dow Jones, S & P, und DAX erreichten trotz der Corona-Epidemie neue Allzeithochs. Als Ende Dezember 2019 in der chinesischen Provinz Wuhan die ersten Fälle einer neuartigen Viruserkrankung der Atemwege auftraten, nahm man zwar Notiz davon, aber es schien weitgehend ein chinesisches Problem zu sein. Die Erreger gehören zu derselben Gruppe wie die Auslöser der SARS-Pandemie, die 2002 ebenfalls in China ausbrach. Spekulationen, dass das neuartige Corona-Virus aus einem sich in Wuhan befindlichen Labor für biologische Forschungen mit der höchsten Sicherheitsstufe, in dem auch Biowaffen entwickelt werden können, entwichen ist, lassen sich bislang nicht bestätigen. Die Anzahl der Infektionen in China stieg bis zum 22. Februar 2020 auf 75.000; über 1.200 Menschen in China starben an der neuen Krankheit.
Ein anderer Index allerdings, das sogenannte Shiller-KGV, benannt nach dem US-amerikanischen Ökonomen Robert Shiller, hatte bereits eine bedenkliche Höhe erreicht. Mit 33 lag es über dem Niveau des Börsencrash von 1929. Nur in der Technologieblase im Jahr 2000 lag dieser Indikator mit einem Stand von 45 noch höher. Das Shiller-KGV setzt die aktuellen Kurse nicht in Relation zu den Gewinnen des letzten Jahres, sondern zum Durchschnitt der inflationsbereinigten Gewinne der letzten 10 Jahre. Damit ist das Shiller-KGV höher, wenn in den letzten Jahren die Gewinne stiegen, und niedriger, wenn sie fielen.
Die Logik dahinter: Phasen stark steigender Unternehmensgewinne kehren sich irgendwann um, dann stagnieren oder sinken die Gewinne. Und das berücksichtigt dieser Indikator. In den letzten Jahren konnten die US-Unternehmen gute Gewinnsteigerungen erzielen. Diese waren aber oftmals nicht durch reales Wachstum erzielt worden, sondern durch Finanz-Alchemie. Bei niedrigen Zinsen belasten hohe Schulden die Gewinn- und Verlustrechnung der Unternehmen nur unwesentlich. Wenn diese Schulden dann genutzt werden, um Aktien zurückzukaufen, verteilen sich die annähernd gleich hohen Gewinne auf deutlich weniger Aktien. Die Gewinne je Aktie – steigen. Genau diesen Effekt nutzen US-Unternehmen nach 2008 massiv aus. Damit ist auch die Verschuldung des US-Unternehmenssektors auf einem Allzeithoch. Hinzu kam noch das Geschenk der Trumpschen Steuerreformen von 2018, das vielen US-Unternehmen einen weiteren Windfall Profit bescherte. Insofern war (und ist) die Bewertung der US-Börsen immer noch problematisch hoch.
„Wenn die US-Börsen Schnupfen haben, bekommt Europa die Grippe“ – dieser Spruch scheint zumindest teilweise noch zu gelten. Obwohl der DAX mit einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von 1,3 wesentlich niedriger bewertet ist als die US-Börsen (Dow Jones 3,6; S&P 500 3,0), brach der Deutsche Leitindex ähnlich dramatisch ein. Die andauernde strukturelle Schwäche der deutschen Wirtschaft und ihre einseitige Export-Orientierung macht sie verwundbar. Der primär amerikanische Wirtschaftskrieg gegen die deutschen Großkonzerne von Banken über die Automobilbranche bis zum Pharma tat sein übriges. Der Eurostoxx 50 hielt sich mit einem Minus von 11 Prozent etwas besser. Er hing den anderen Börsen in den letzten 10 Jahren allerdings deutlich hinterher.
Die Gelassenheit an den Börsen endete, als sich abzeichnete, dass sich Corona zu einer weltweiten Epidemie auswächst. Am 19. Februar gab es außerhalb Chinas über 1000 Infizierte, am 9. Märt waren es schon über 2800. Bis zu diesem Zeitpunkt waren 3809 Menschen an der Epidemie gestorben. Bis heute wächst die Zahl der Infektionen und der Todesfälle außerhalb Chinas exponentiell. Da hilft es auch nicht, dass die Zahl der Infektionen in China seit Ende Februar recht stabil ist und es den Anschein hat, dass die Epidemie im Abklingen begriffen ist.
Die Gefahren einer negativen Abwärtsspirale durch Corona sind real. Nach anfänglich ruhiger Behandlung des Themas in den Medien wurde die Berichterstattung immer aufgeregter. Auch Unternehmen und Politik reagierten. In Deutschland und vielen anderen Ländern wurden Großveranstaltungen wie die Internationale Tourismus-Börse in Berlin gestrichen. Am 8. März empfahl Gesundheitsminister Jens Spahn, vorsorglich alle Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern abzusagen. Der Reiseverkehr ging drastisch zurück, in den Läden kam es zu Hamsterkäufen. Italien, wo die Epidemie außerhalb Chinas mit über 9000 Infizierten und über 460 Todesfällen am stärksten zugeschlagen hat, griff zu drastischen Maßnahmen: am 8. März wurden Mailand und die gesamte Lombardei abgeriegelt, seit dem 9. März gilt das ganze Land als Sperrzone. Die Menschen können sich nicht mehr frei bewegen.
All dies hat natürlich Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Die OECD geht von einer Halbierung der Wachstumsrate für die Weltwirtschaft aus – von 2,9 auf unter 1,5 Prozent, wenn es nicht gelingen sollte, die Epidemie einzudämmen. Europa und Deutschland würden dann unweigerlich in eine Rezession fallen. Und diese könnte die Weltwirtschaft dann endgültig in eine Depression stürzen. Mit immer mehr Schulden musste in den letzten Jahren das Wachstum erkauft werden. Im Zuge der drastischen Staatseingriffe, die vor allem den Staaten selber, den großen Konzernen und oligopolistischen Strukturen durch die Niedrigzinsen halfen, sank das Produktivitätswachstum in den Industrienationen auf einen neuen Tiefstand. Die Staatschulden sind wesentlich höher als 2008, die Zinsen extrem niedrig und die Notenbankbilanzen aufgebläht. Bei einer globalen Rezession würden etliche Unternehmen in die Insolvenz rutschen, was wiederum weitere Pleiten nach sich ziehen würde. Ein Prozess des De-Leveraging würde einsetzen. Der Moment der Wahrheit wäre da.
Die G7-Staaten haben bekräftigt, dass sie handeln können und wollen. Am Donnerstag, dem 12. März, will EZB-Präsidentin Christine Lagarde bekanntgeben, was konkret sie zu tun gedenkt. Vorab hat sie schon einmal bekräftigt, die europäische Zentralbank „stehe bereit, angemessene und gezielte Maßnahmen zu ergreifen“. Dass Lagarde im Zweifelsfalle alle Register ziehen wird, steht außer Frage. Von der Doktrin der unabhängigen Zentralbank hat sie sich schon einmal vorsorglich verabschiedet. Auch der Internationale Währungsfonds hat bereits 50 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt.
Obwohl die Geld- und Zinspolitik an ihre Grenzen stoßen, haben die Staaten durchaus noch Handlungsoptionen, wenn sie zum Äußersten entschlossen sind und den Staatsinterventionismus auf die nächste Stufe heben. Sie können nun von der Geldpolitik auf direkte Staatsausgaben umstellen und so die Nachfrage aufrechterhalten – das wäre ein klassischer keynesianischer Moment. Die bekannte amerikanische Zeitschrift Fortune hatte so etwas eigentlich schon zu Beginn der Präsidentschaft Donald Trumps erwartet. Da blieb es allerdings aus, weil Trump im Kongress zum Beispiel für seinen Mauerbau nicht die notwendigen Mehrheiten zusammenbekam. Stattdessen machte Trump das, was Republikaner seit Ronald Reagan in diesen Fällen immer machen: er schaffte Gesetze und Verwaltungsverordnungen ab und senkte die Steuern, was das Staatsdefizit in die Höhe trieb.
Nun könnte es tatsächlich sein, dass die Staaten auf direkte keynesianische Ausgabenpolitik umschwenken. Der Spielraum dafür dürfte in den USA und Japan aufgrund der hohen Defizite und Schulden gering sein, aber etliche europäische Länder und vor allem Deutschland haben – zumindest gemessen an den beiden vorgenannten – noch Luft. Solche Maßnahmen können alles Mögliche beinhalten, zum Beispiel Infrastrukturinvestitionen, aber auch (indirekte) Lohnfortzahlungen und Steuerstundungen. Italien hat schon einmal ein 4,5-Milliarden-Euro-Programm initiiert und es kurzfristig auf 7,5 Milliarden aufgestockt. Und wer weiß – vielleicht gelingt es dann sogar, die Weltwirtschaft zu stabilisieren. Die Kosten in Form noch ungesünderer Wirtschaftsstrukturen wären allerding enorm.
Wie dem auch sei: Entweder kommen Crash und Depression. Oder noch mehr Staatswirtschaft und Protektionismus. Das Ende der Weltwirtschaftsordnung, die in Bretton Woods begründet wurde, ist unweigerlich eingeläutet. So auch der Volkswirt Henrik Müller, Professor für Wirtschaftsjournalismus an der TU Dortmund im Juli 2019 im Spiegel: „Die westlich dominierte Weltwirtschaftsordnung geht zu Ende – und es dürfte noch schlimmer kommen.“ Wie diese neue Welt aussehen könnte, analysiere ich in Teil III.
Max Otte ist Investor, Fondsmanager, Publizist und politischer Aktivist. Er hatte Professuren an der Boston University, der Hochschule Worms und der Karl-Franzens-Universität Graz inne und nahm einen Lehrauftrag an der Universität Erfurt wahr. Ende 2018 schied er freiwillig und mit Dank des Ministers als Beamter und Professor auf Lebenszeit aus, um sich ganz diesen Tätigkeiten widmen zu können. Otte hat über ein Dutzend Bücher geschrieben, darunter die Bestseller „Der Crash kommt“ (2006), eines der bestverkauften deutschen Wirtschaftsbücher aller Zeiten, und „Weltsystemcrash“ (2018).