Die Befürworter der EU scheinen Europa für eine zarte Pflanze zu halten. So warnen Politiker und Medienvertreter die Öffentlichkeit regelmäßig vor der immensen Gefahr sogenannter populistischer Bewegungen. Martin Schulz, der ehemalige EU-Parlamentspräsident und aktuelle Kanzlerkandidat der SPD, warnte kurz vor den österreichischen Präsidentschaftswahlen, dass sich „Europas Charakter ändern würde“, sollte Norbert Hofer, der Kandidat der „rechtsorientierten“ Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), die Wahl gewinnen. Es ist bei weitem nicht klar, wie die Wahl einer Person auf einen größtenteils repräsentativen Posten das Wesen eines ganzen Kontinents verändern kann.
Genauso wenig ist es klar, dass eine Person wie Schulz sich anmaßen sollte, den Charakter Europas zu definieren. Europa war schon immer ein umstrittener Begriff. Aus geographischer Sicht ist die Frage, wo Europa beginnt und endet, nicht endgültig geklärt. Vor nicht allzu langer Zeit haben die westlichen Medien darauf beharrt, dass Russland und die Ukraine in Eurasien liegen. Die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei stiftete weitere Verwirrung.
Mindestens genauso viel Unklarheit besteht hinsichtlich des Charakters von Europa. Kurz nach dem Kalten Krieg benutzten viele Berichterstatter den Begriff „Altes Europa“, um auf den Teil Europas zu verweisen, der nicht zum Sowjetblock gehörte. Im Gegensatz dazu wurde die ehemaligen Ostblock-Staaten „Neues Europa“ getauft. Noch heute gelten einige dieser Länder wie Ungarn, Polen und die Slowakei als weniger „europäisch“ als die westlichen EU-Länder und werden durch die EU belehrt, was es bedeutet, europäisch zu sein.
„Europa war schon immer ein umstrittener Begriff.“
Aus historischer Sicht war Europa schon immer gespalten. Der Zusammenbruch des Weströmischen Reiches führte zu religiösen, politischen und kulturellen Unterschieden, die bis heute bestehen. Und seit seinem Zerfall gab es regelmäßig Versuche, das römische Reich wiederherzustellen. Der erste Versuch der Wiederherstellung erfolgte im Mittelalter durch Karl den Großen, welcher zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Karl der Große eine christliche Version des Römischen Reichs anstrebte und nicht ein vereintes Europa. Seitdem wurden Vorstellungen von Europa präsentiert, angefochten und wieder fallen gelassen. Aufgeklärte Köpfe beschrieben einen Kontinent, der sich wissenschaftlichen und säkularen Werten verschreibt, während im 19. Jahrhundert die Idee der europäischen Einigung an der Fähigkeit einer einzelnen Nation festgemacht wurde, den ganzen Kontinent durch Eroberung zu vereinen.
Vielleicht verkörpert Napoleon am ehesten die Rolle des europäischen Einigers. Als er 1804 zum Kaiser gekrönt wurde, wurden Erinnerungen an Karl den Großen wach. Für Teile der französischen Eliten ist Napoleon noch heute die Personifikation eines geeinten Europas. 2002 erschien im französischen Magazin Historia ein Artikel mit dem Titel „Napoleon – der wahre Vater Europas“. Das Titelbild zeigte Napoleon, wie er die Alpen überquert, sein Hut mit einem EU-Abzeichen geschmückt. „Die Geschichte bestätigt Napoleons Vision von einer großen europäischen Familie“, schrieb auch Dominique de Villepin, der ehemalige Außenminister Frankreichs, in seinem Buch „Les Cent-Jours ou l’Esprit de Sacrifice“.
Das tatsächliche Fundament, auf dem die EU errichtet wurde, war nicht Europas angeblicher Charakter; vielmehr war es der Imperativ, einen weiteren Konflikt in der Größenordnung des Zweiten Weltkriegs zu vermeiden und Deutschland wieder in die westliche Welt zu integrieren. Die Einigung des Kontinents wurde eher von Realpolitik – sicherheitspolitischen Aspekten und wirtschaftlicher Notwendigkeit – getrieben als von philosophischer Reflektion über die Bedeutung und das Wesen von Europa. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer gab genau dies zu, als er behauptete, dass „deutsche Probleme nur unter einem europäischen Dach gelöst werden können“. Adenauer zog es natürlich vor, dass dieses Dach unter deutscher Führerschaft errichtet wird. Diese Ansicht teilt auch Angela Merkel, die dieses Dach nutzte, um den deutschen Nachbarstaaten ihre Flüchtlingspolitik aufzuzwingen.
„Es stellte sich als viel leichter heraus, das nationale Bewusstsein zu schwächen, als eine aufrichtige Identifikation mit der EU zu kultivieren.“
Das Legitimitätsproblem der EU
Entgegen der Aussage von Martin Schulz hat Europa keinen Charakter. Anhänger der europäischen Einigung hofften, dass die vielen nationalen Identitäten über die Zeit schwinden und eine Identifikation mit Europa an ihre Stelle treten würde. Daher hat die EU ihr Bestes getan, um diese nationalen Identitäten zu untergraben. Seit den 1970ern hat sie Volksgruppen wie die Katalanen oder die Schotten bestärkt, ihr kulturelles Bewusstsein zu pflegen und zu entfalten. Auch das Interesse an Minderheiten jeder Art erlaubte es der EU als deren Beschützer, als Kämpfer für sie und gegen ihre nationalen Regierungen aufzutreten.
Die Förderung regionaler Verbundenheit trug dazu bei, nationale Identitäten zu fragmentieren. Jedoch ging diese Schwächung des Nationalbewusstseins in vielen Fällen nicht mit einer aufkommenden Identifikation mit Europa einher. Es stellte sich als viel leichter heraus, das nationale Bewusstsein zu schwächen, als eine aufrichtige Identifikation mit der EU zu kultivieren. Seit den 1970ern zeigen zahlreiche Umfragen, dass die Völker Europas wenig Sympathie für die EU entwickelten und selbst die Befürworter der EU diese vor allem aus pragmatischen Gründen unterstützten. Die EU-Führung ist sich ihrer fehlenden Legitimität durchaus bewusst. Ihre gelegentlichen Versuche, breite Unterstützung für europäische Werte zu mobilisieren, zeichnen sich durch mangelnde Überzeugung aus.
Tatsächlich ist die Identitätskrise der EU ein unlösbares Problem. Die Konstruktion von Adenauers „Dach“ war größtenteils von der Notwendigkeit getrieben, eine Institution zu schaffen, welche die nationalen Eliten vor politischem Druck schützt. Seit ihrer Gründung war die EU Vorreiter bei der Entwicklung eines Regierungsstils, der bewusst die demokratische Willensbildung behindert. So sind die ständigen Angriffe auf jede Form von „Populismus“ von dem Wunsch getrieben, den Einfluss nationaler Souveränität zu schmälern. Seit vier Jahrzehnten stellen die Verfechter der EU kontinuierlich eine vage „Weltoffenheit“ und technokratische Herrschaft über die nationale Souveränität und Demokratie.
„Das Bekenntnis der EU zur Demokratie ist hauchdünn.“
Das Bekenntnis der EU zur Demokratie ist hauchdünn. Ihr Enthusiasmus für bevormundende Politik offenbart die autoritäre Grundhaltung dieses technokratischen Regierungsapparats. Heutzutage gleichen sich die „linke“, die EU befürwortende politische Elite und die traditionelle „Rechte“ in ihrer Verachtung demokratischer Entscheidungsfindung. Jürgen Habermas, einer der führenden politischen Theoretiker Deutschlands, verkörpert dieses „pro-europäische“ Denken. Er ist ein lautstarker Unterstützer des Kosmopolitismus und verunglimpft die nationale Souveränität. Habermas behauptet, dass nationale Wählerschaften die „Domäne des Rechtspopulismus“ seien und verurteilt sie als „Karikatur nationaler Makrosubjekte, die sich gegeneinander abkapseln“.
Das Misstrauen der EU gegenüber der repräsentativen Demokratie beruht hauptsächlich auf vier Annahmen. Erstens wird unterstellt, dass den Menschen nicht zugetraut werden könne, sich für eine Politik zu entscheiden, die die Gesellschaft erhält und weiterbringt. Zweitens wird behauptet, es bestünde ein wesentlicher Zielkonflikt zwischen Demokratie und Effizienz, und dass Effizienz in Krisenzeiten wichtiger sei als Demokratie. Drittens wird davon ausgegangen, dass Regierungen (insbesondere demokratische) nicht die Fähigkeit besitzen, mit den zentralen Problemen der heutigen globalisierten Welt umzugehen. Viertens wird angenommen, dass wirklich demokratische Prozesse aufgrund der Naivität der Wähler den „Rechtspopulismus“ begünstigen würden.
Die antidemokratischen Instinkte der EU sind am offensichtlichsten, wenn es um ihre Obsession mit dem Thema Populismus geht. Die EU stellt sich selbst als Leuchtturm der aufgeklärten Demokratie dar, während die Bürger – der Demos – fremdenfeindlich und engstirnig seien. Das ist der Grund, weshalb die EU-Technokraten nationale Wahlentscheidungen so beiläufig abweisen und ignorieren können. So sagte der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, als es so aussah, als würde die FPÖ die österreichischen Präsidentschaftswahlen gewinnen, dass der Wille der Wähler nicht ohne weiteres akzeptiert werden würde. „Mit den Rechtspopulisten ist weder eine Debatte noch ein Dialog möglich“, warnte er.
„Wenn es einen wirklich fundamentalen europäischen Wert gibt, dann ist es das Streben nach der politischen Freiheit.“
Junckers Behauptung, dass „keine Debatte“ möglich sei, offenbarte seinen Unwillen, für die Politik der EU gegenüber einer nationalen Wählerschaft Rechenschaft abzulegen. Ein Zeichen politischer Feigheit. Wenn die österreichischen „Rechten“ wirklich eine Gefahr sind, dann hat ein aufrichtiger Demokrat die Aufgabe, die Probleme derjenigen, die für Hofer stimmten, ernst zu nehmen und diese zu einem Meinungswechsel zu überzeugen. Das setzt die Bereitschaft zur demokratischen Debatte voraus – etwas, was Juncker und die restlichen EU-Oligarchen fleißig vermeiden.
Demophobie
In Europa stehen wir vor der Frage, ob wir uns für den technokratischen Regierungsstil der EU oder für demokratische Entscheidungsfindung durch Volkssouveränität entscheiden sollen. Hierfür ein Bewusstsein zu schaffen, ist eine der wesentlichen Herausforderungen für liberal gesonnene, tolerante und aufgeklärte Individuen im heutigen Europa. Wenn es einen wirklich fundamentalen europäischen Wert gibt, dann ist es das Streben nach der politischen Freiheit. Sie kam zunächst schwach in der Agora von Athen zum Vorschein, kristallisierte sich während der Renaissance und der frühen Moderne stärker heraus und entwickelte sich schließlich zum Fundament liberaler Demokratien.
Die Demokratie bringt nicht immer sofort die richtige Antwort hervor. Aus diesem Grund ist sie stets eine risikoreiche Angelegenheit. Doch das öffentliche Leben kann ohne Demokratie nicht aufblühen. Dass „rechte“ Parteien zunehmend an Stärke gewinnen, ist kein Argument gegen die Demokratie; es ist ein Argument gegen die Technokratie. Geschichtlich gesehen ist die elitäre Verachtung gegenüber der Masse ein Merkmal „rechter“ politischer Ideologien. Heutzutage wird dieses Verhalten von „Linken“ und „Rechten“ geteilt – selbst diejenigen, die einst die EU als böse kapitalistische Institution verurteilten, ziehen sie nun dem wechselhaften Wesen der Demokratie vor.
Die Einstellung der europäischen politischen Klasse gegenüber den normalen Menschen ist herablassend und ablehnend. Die Öffentlichkeit wird als fremdenfeindlich, homophob und islamophob dargestellt. Dabei erkennt die EU-Elite, die anderen so bereitwillig ein Phobie-Label aufdrückt, ihre eigene Phobie nicht: die Demophobie.
Von Frank Furedi.
Dieser Beitrag ist zuerst bei Novo Argumente erschienen.
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