Unsere Kultur ist ein zartes Gewebe. Gestern ist ein Teil dieses Gewebes gerissen. Die Bilder, die aus Paris gesendet werden, sind kaum zu ertragen, mehr als zu stöhnen und den Blick abzuwenden ist nicht möglich. Es ist unerträglich zuzusehen, wie der Spitzturm von Notre Dame kollabiert und diese grandiose Kathedrale von Feuer verzehrt wird.
Evelyn Waugh sagte einmal, wenn er sich bei einem Brand im Haus zwischen der Rettung seiner Kinder oder seiner Bibliothek entscheiden müsste, würde er die Bibliothek wählen, weil diese unersetzlich sei. Allein in einem Augenblick wie dem gegenwärtigen ist es möglich, in dieser Bemerkung ein Quäntchen Wahrheit zu entdecken.
Selbstverständlich ist mit einer Suche nach Schuldigen zu rechnen. Es wird kritische Prüfungen von Budgets, Überstunden und Sicherheitsstandards geben. Schon vor zwei Jahren berichtete dieser lesenswerte Artikel von den Finanzierungsproblemen für die Restaurierung der Kathedrale. Doch wenn Notre Dame durch einen Brand zerstört werden kann, dann ist gegenüber diesem unerträglichen Ereignis all das belanglos.
Wie ich schon vor ein paar Jahren in einem Buch schrieb, wird sich die Zukunft Europas mehr oder minder an unserer Haltung gegenüber den bedeutenden Kirchen und anderen kulturell wertvollen Bauwerken entscheiden, die das Herzstück unseres Erbes sind. Werden wir um sie kämpfen oder sie vernachlässigen? Sind wir gewillt, uns für ihre Pflege und Erhaltung einzusetzen?
Politiker scheinen zu glauben, Epochen würden nach den Einzelheiten der Entscheidungen von Regierenden beurteilt werden. Das ist nicht der Fall. Sie werden danach beurteilt, was sie hinterlassen haben; am meisten danach, wie sie mit dem umgegangen sind, was die Geschichte in ihre Obhut übertragen hat. Selbst wenn die aktuelle Katastrophe nur ein extrem außergewöhnlicher Unfall wäre – unsere Epoche muss sich eingestehen, dass sie Notre Dame nicht vor einer unfassbaren Schädigung bewahren konnte.
Wir werden künftigen Generationen Auskunft geben müssen über diesen Schatz, den wir nicht beschützt haben und wie es war, mit ihm zu leben. Zu Beginn dieses Jahrzehnts pendelte ich jede Woche für ein paar Tage zwischen London und Paris, wo ich in einer kleinen Wohnung am Rande von Le Marais lebte. Jedes Mal, wenn ich am frühen Montagmorgen auf die Straße trat, um zum ersten Eurostar zu eilen, fiel mein Blick als Erstes auf die berühmte Kathedrale. Eines Wintermorgens, es schneite heftig, hielt ich auf meinem Weg zum Bahnhof abrupt inne: ich war ganz allein auf der Straße mit der Kathedrale vor mir und saugte dieses Bild eines Bauwerks ein, dass ich schon hunderte Male zuvor gesehen hatte. Als ich in London eintraf, konnte ein Freund erkennen, dass ich noch immer leuchtete und für einen Wochenanfang viel zu viel Freude ausstrahlte. Er fragte, wie es mir gehe und ich erinnere mich, ihm nur geantwortet zu haben: „Heute morgen habe ich Notre Dame im Schnee gesehen.“
So war es.
Dieser Beitrag von Douglas Murray erschien zuerst am 15. April 2019 in The Spectator. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
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