Tichys Einblick
Der Mensch steht nie im Mittelpunkt

Der Vater im Pflegeheim sagte am Telefon: „Sohn, die sperren uns ein!“

Ein Leser erzählt eine Geschichte, die vielen anderen bekannt vorkommen wird. Sie zeigt die Welt so, wie sie ist - was den Regierenden unbekannt bis egal zu sein scheint.

IMAGO / Joko

An einem Freitagnachmittag im März hatte meine Mutter ihren 83sten Geburtstag.
Nach dem Tod Ihres Mannes, meines Vaters, im Herbst letzten Jahres war sie umgezogen. Aus einem Pflegeheim im Norden Frankens an die Donau nach Ingolstadt. Im fränkischen Pflegeheim hatte sie zusammen mit meinem Vater ein Doppelzimmer mit ca. 30 m² bewohnt.

Mein Vater vor allem war bis zuletzt todunglücklich mit der Unterbringung. Als mittlerweile 50jähriger Sohn konnte ich das Gefühl der Mit-Verantwortung nicht immer verdrängen.

Um die Tragödie meiner Eltern besser greifen zu können, muss man ihre Lebensgeschichte im Groben kennen.
Sie lernten sich kennen im Brandenburgischen Braunkohlerevier Niederlausitz in den 50ern, heirateten und bekamen meinen großen Bruder 1959.
Mein Großvater, Land- und Gastwirt, war im Krieg in Norwegen stationiert – Flakhelfer. Meine Großmutter väterlicherseits brachte die Familie und den Hof durch schwierige Zeiten.

Meine Eltern verbrachten ihre ersten Jahre als junge Familie zum Teil in einem Zimmer zur Untermiete. Während meine Mutter ihrer Laborantentätigkeit nachging, brachte mein Vater sein Bauingenieurstudium zu Ende.
Ein Lebensmotto meines Großvaters war: „Jeder Ismus ist Beschissmus!“. Gemeint war damit, dass sich die Familie, auch sein Vater, nie gemein gemacht hat. Nicht mit den Nationalsozialisten, aber auch nicht mit den Kommunisten, die gerne Parteiveranstaltungen im Gasthof abhalten wollten. So kam es, dass in den wilden 1920er Jahren das Gasthaus oft genug leer blieb, da Streikposten oder Schlägertrupps verhinderten, dass überhaupt ein Gast in die Wirtschaft gelangen konnte. Man musste verkaufen, schließlich umziehen.

Aus dieser Distanz zu den wechselseitig Herrschenden erstarkte in meinen Eltern ein unbändiger Freiheitswille. Nach einer Unzahl von kleineren und größeren Gängeleien durch das kommunistische Regime, unter anderem sollte mein Vater wegen Hörens von „Feinsendern“ Rock`n Roll auf BBC von der Hochschule geworfen werden, war das Maß voll. Zwar entkam er dem Verdikt knapp, nachdem er sich öffentlich selbst bezichtigte und Besserung gelobte, aber der Entschluss war gefasst.

Die Familie zog nach Potsdam, um 1961 „rüberzumachen“. Leider war das Timing schlecht. Eine letzte Prüfung zum Diplom war zu schreiben und unglücklicherweise die Mauer über Nacht gebaut.

Der zweite Anlauf war deutlich waghalsiger. In einem Faltboot, jawohl Faltboot, kaum 3 m lang wurde die Flucht gewagt. Über die Ostsee. Mit nichts außer ein paar Habseligkeiten an Bord und meinem damals 3 jährigen Bruder!

Der liebe Gott oder höhere Mächte haben gewollt, dass das kleine Boot nicht von den schwenkenden Suchscheinwerfern der DDR-Küstenwache entdeckt wurde und in sternenklarer, windstiller Sommernacht mein Bruder keine Anstalten machte zu schreien, sondern selig schlief.

Die Flucht gelang! Man landete in Dänemark. Von dort aus über das Rheinland bis nach Nordbayern. Meine Eltern bauten sich, meinem Bruder und mir, Ende der 60er Jahre geboren, ein Zuhause. Die Söhne studierten. Einer wurde Pfarrer, der zweite Architekt. Was meinen Eltern immer blieb, war ihr gesunder Abstand zu den Mächtigen, und das Fernweh – vor allem Richtung USA und Canada.

Die Söhne zogen weiter südlich, gründeten selbst Familien fanden gute Arbeit und die Jahre vergingen. Die Eltern genossen das Leben im Ruhestand mit sehr viel Kultur, Oper, Theater, Reisen.

Ein schwerer Schlaganfall meiner Mutter zerstörte die Idylle. Mein Vater übernahm die häusliche Pflege und die Lage verschlechterte sich zusehends. Mein Buder und ich versuchten aus der Ferne alles, um zu unterstützen und das Leben im eigenen Haus solange es geht zu ermöglichen. Auch die Variante mit ausländischen Pflegekräften wurde ausprobiert.

Eine Beinamputation bei meinem Vater beendete diese Phase. Da keine andere Vorsorge getroffen war, z.B. bei Zeiten mit den Kindern gemeinsam einen gangbaren Weg finden, mussten meine Eltern ins Pflegeheim ziehen. Sie entschieden sich für die Einrichtung im dünn besiedelten Franken, damit sie weiterhin von Ihren Freunden besucht werden können. Noch wichtiger war der Fahrzeugumbau an ihrem BMW X1. Dadurch war es meinen Eltern möglich, jeden Tag das Heim zu verlassen und auf den immer noch schwach befahrenen, ländlichen Straßen, die sie wie ihre Westentasche kannten, ihre Freiheit zu suchen. In Kaffeehausbesuchen und zum gemeinsamen Abendessen mit ihrem Schwimmklub.

Dann kam Corona.
Mein Vater sagte am Telefon: „Sohn, die sperren uns ein!“

Und so war es auch. Während der ersten Welle 2020 Planlosigkeit der Führung, Missmanagement – alles bekannt. Nach einer Untersuchung im Krankenhaus musste mein Vater eine Woche in ein Einzelzimmer in Quarantäne, während meine schwer behinderte Mutter in ihrem gemeinsamen Zimmer nebenan saß. Das Verlassen des Heims (und vor allem die Rückkehr) war verboten.

Der Sommer brachte etwas Lockerung. Besuche im Pflegeheim waren weiterhin nicht möglich. Meine Eltern kamen heraus und besuchten uns wiederum im kleinstädtischen Hotel. Dort hatten wir ein paar Stunden gemeinsam. Der örtliche Banker, jeder kennt hier jeden, sagte zu mir zu dieser Zeit: „Ich habe einen Riesenrespekt Ihre Eltern so zu sehen, z.B. an der Tankstelle mit ihrem BMW, wenn sie durch die Lande fahren, zum Kaffetrinken. Und Ihr Vater Ihre Mutter immer antreibt: „Komm wir fahren, komm wir machen.“ Dazu muss man das Bild vor Augen haben, wie ein über 80 jähriger Rollstuhlfahrer seiner behinderten und halbseitig gelähmten Ehefrau ins Auto hilft und dann ihren Rollstuhl sitzend in den Kofferraum bugsiert. Der Freiheitsdrang blieb bis zuletzt stark.

Im Herbst 2020 starb mein Vater, Hinterwandinfarkt. Kein Corona. Ob die fach- oder allgemeinärztliche Betreuung zu dieser Zeit vollständig und durchgängig war, entzieht sich meiner Kenntnis. Mir bekannte Vorboten gab es jedenfalls nicht.
Meine Mutter verwand den Verlust einigermaßen. Auch sie ist zäh.

Mein Bruder und ich organisierten also ihren Umzug nach Süden. In die Nähe der Söhne. Wir entschieden gemeinsam, sie am Wohnort meines Bruders in einem neu errichteten Heim unterzubringen. Das war kurz vor Weihnachten. Am Heiligen Abend besuchte ich mit meiner Tochter die Oma und wir trafen uns draußen, da es nicht gestattet war, dass Personen aus mehr als zwei Haushalten aufeinandertreffen. Mein Bruder organisierte das. Er hat auf Umwegen Zugriff auf Coronatests beschafft. So war wenigstens er legitimiert in der Nähe meiner Mutter zu sein.

Ihren Geburtstag „feierten“ wir auf ähnliche Weise. Wir trafen uns illegal auf dem Parkplatz eines großen Einkaufszentrums (welches im Großen und Ganzen geschlossen war). Mein Bruder hatte sie wieder aus dem Pflegeheim geholt.
Wir schoben sie in den nahegelegenen Park. Schneeregen, 3°C. An einer Parkbank tranken wir einen Piccolo. Hinter einem EDEKA bei den Mülltonnen tranken wir noch einen Kaffee aus dem Pappbecher. Drinnen war nicht erlaubt.

Inzwischen ist meine Mama zweimal geimpft. Mit Tränen in den Augen fragte sie mich „Was hab ich jetzt davon?“

Alles Gute zum Geburtstag Mama.

Wie sehr ich diese Regierung und Ihre Helfershelfer verachte.

PS: Den Grabspruch für meinen Vater habe ich ausgesucht:
„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“.
B. Franklin.


Matthias Jacubasch

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