Tichys Einblick
Hilfsdienst für Unrechtsregime

Der UN-Migrationspakt und die Verkehrung politischer Vernunft

Nur ein UN-Pakt gegen «Versagerstaaten» (failing states) wäre eine angemessene politische Antwort auf die Dramatik der Migration – zugunsten all der Menschen, die ihr Leben allzu gerne in ihrer sozio-kulturellen Sphäre verbringen möchten - die Allermeisten.

Fadel Senna/AFP/Getty Images

Politik ist immer nur so gut wie die Analytik der geschichtlichen Probleme, mit denen sie es zu tun hat. Was am UN-Migrationspakt schlecht ist, wurde nun ausgiebig diskutiert (1); die schlechte Analyse der geschichtlichen Realität, die ihm zugrunde liegt, nicht. Unterscheiden wir Migration in freiwillige und erzwungene oder ernötigte, dann haben wir es im ersten Fall damit zu tun, dass die Gründe rein individuelle sind, also ein bestimmte Vorliebe oder Affinität zu einem anderen Land oder einer anderen Kultur, in die man sich gerne einpasst, zu der man etwas beizutragen weiß und die man positiv als eigene Lebensdimension bejaht.

Dieser – im ganzen unproblematische und damit auch politisch irrelevante Komplex von Migration hat es nicht nur mit den Bewegungen innerhalb der europäischen Kulturen zu tun; man denke etwa auch an die Vielzahl von Europäern, die seit den sechziger Jahren nach Indien und Nepal ausgewandert sind.

Der problematische und deshalb allein politisch relevante Teil der Migration betrifft nur das Segment der aus sozio-ökonomischen und politischen Gründen ernötigten und erzwungenen Migration: Es sind grob gesagt die als «failed states» (oder vulgäramerikanisch als «shithole states») bezeichneten Länder, die als reine Emigrationsländer in solchen Unverhältnissen befangen sind, dass sie ihre Bürger zur Auswanderung in eben jene Länder treiben, die keine solchen sind. Daher der einsinnige Zug der Migrationsdrift aus den politischen Versagerstaaten in die erfolgreichen, v.a. die westlichen Demokratien.

Die Analytik der Migrationsproblematik hat es deshalb in erster Linie mit diesen politischen Unverhältnissen zu tun; ihr erster Adressat ist deshalb auch nicht der «Migrant», sondern der Staat, der aufgrund des Versagens seiner politischen Klasse zum «Emigrationsstaat» – man könnte fast sagen: «Vertreibungsstaat» – wird. Denn der Mensch ist gerne bei sich – er geht auf in seiner Landschaft, seinen Bräuchen und Gewohnheiten, zusammen mit seinen sprachlich und kul­tu­rell verwandten Landsleuten, mit denen er zu feiern und sich zu streiten weiß. Man kundschaftet gerne auch mal etwas anderes aus – und kehrt dann umso lieber zurück.

Von dem quantitativ geringfügigen Anteil an freiwilliger interkultureller Migration abgesehen ist die weltweite Migration ein Zwangsakt menschlicher Gewalt gegen die Freiheit, das Glück und Wohlergehen des Einzelnen, der die kulturelle Zerrissenheit mit seiner Ursprungsgemeinschaft als den Fluch seiner in Fremdwelten verstoßenen isolierten Existenz auszutragen hat. Dem Migrationspakt fehlt nun nicht nur jedes Verständnis für die existentielle Dramatik ernötigter Migration, sondern auch jedes Bewusstsein der politischen Verantwortung von «Emigrationsstaaten» für das rechtsstaatlich zu gewährleistende Allgemeinwohl ihrer Bürger. Keine Spur von einer politischen Verurteilung der zur Emigration nötigenden Staaten. Wenig erstaunlich ist deshalb, wenn es gerade Emigrationsländer sind, die den Pakt befürworten: Er garantiert ihnen die Aufrechterhaltung ihrer Unverhältnisse.

Migration als Dampfventil

Die politische Analyse revolutionärer Gesellschaftsprozesse, zu denen auch die «Migration» zählt, verdankt der marxistischen Geschichtstheorie einige ernstzu­nehmende Einsichten, die man sich bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen mag. Revolutionstheoretisch ist jede durch ökonomische, so­ziale und politische Missstände, Ausbeutung und Unter­drü­c­kung verursachte Flucht­­­be­we­­gung Anzeichen für ei­nen prä-re­vo­lutionären Zustand der Gesellschaft, der sich vor sich selbst in Sicher­heit zu brin­gen sucht.

Emigration ist die Bewegung, durch die re­vo­­lu­tionäre Potentiale & Ener­­gien veräußert und abgeführt werden, damit das Be­ste­hende erhalten werden kann – also Re­vo­lutionsverschiebung und –ver­schlep­­pung. Sie verhindert die revolutionäre Umwandlung der Gesellschaft und wirkt damit als den geschichtlichen Fortschritt blockie­ren­de Zementierung überholter Verhältnisse. Dies ist im Kern ge­nau das, was der jüngere marokkanische König bei sei­nem Amts­antritt in den neun­zi­ger Jahren öffentlich bekannt gab: Es sei im Grunde doch eine gute Sache, dass so vie­le junge Marokka­ner hinüber nach Spanien mach­ten, da ihr Leben hier so per­spek­tiv­los sei; außerdem würden sie ja mit ihrer Ar­beit dort ih­re Familien hier finanziell un­ter­stützen, das kä­me dem ganzen Land zu­gute.

Der Ge­winn ist so zwiefach: Die junge, re­­vo­lutions­af­fi­ne Ge­neration ver­lässt das Land (Dampf wird abgelassen) und hilft sei­ner­seits – durch öko­­no­mi­schen Rückfluss: der Fi­­nanzierung der sozialen Un­ter­­schicht – den revolutio­nä­­ren Druck im Inland zu min­dern und die National­öko­no­mie zu stär­ken. Dies gilt für alle mo­der­nen Migrationsbe­we­gun­gen. Im Kern ist die Emigration nichts anderes als das Dampf­ventil anti-moderner Staaten zur Auf­­recht­erhaltung ihrer ökono­mi­schen, wis­senschaftlich-technologischen Rück­ständig­keit, ihrer herr­schenden Ka­sten und ih­res gesellschaftlichen Unrechts.

Ist moder­ne Mi­gration nicht an­de­res als Re­vo­lu­tions­­­ver­schie­bung und -ver­schlep­pung, dann hieße Bekämpfung der «Mi­g­ra­tions­­­ur­sa­chen» im revolutionstheoretischen Sinne nun: Man kann die Ursachen der Mig­ra­tion nur dadurch bekämpfen, dass man die Mig­ra­tion selbst be­­kämpft – also nach Möglichkeit unterbindet, um die not­wendigen ge­­sell­schaft­li­chen Re­vo­lu­­tio­nen im Ursprungsland zu for­cieren. Denn die Migration ze­­mentiert die Ver­hält­­nisse, die sie verursachen, indem sie den prä-revolutionären Zu­stand nach außen ab­­leitet und da­­mit den geschichtlichen Pro­zess ge­sell­schaft­lichen Fort­­schritts blockiert. So müsste es zumindest «die Linke» sehen, wenn sie sich nicht längst aller politischen Theorie entledigt auf einen nur basischristlichen Bet- und Bußverein reduziert hätte (2).

Vielleicht versteht man erst vor diesem Hintergrund die viel­beklagte Wei­ge­rung der Emig­ra­tions­länder, ih­re Bürger bei Ab­schiebung wie­der aufzunehmen – wozu auch Dynamit re-importieren, das durch die Erfahrung alternativer politischer Verhältnisse eine erhöhte Ex­plosionsgefahr darstellt?

Aber widerspricht es nicht dem internationa­len Recht, den eigenen Staatsbürgern un­ter dem fa­denscheinigen Vorwand fehlender Pa­­pie­re die Wie­­der­einreise in ihr Land zu ver­wehren? Und die Ankunftsländer, die Personen oh­ne gül­­­tige Papiere ein­reisen lassen, handelten also gänzlich recht- und gesetzlos? Und müssten noch «Rück­füh­rungs­ab­kom­men» unter finanziellen Kom­­­­­pen­sa­tions­­lei­stun­­gen ab­schlie­­­ßen? Wird es nicht zu einem blühenden Geschäft ei­ner korrupten Welt, sich den Re-Im­port ihrer «re­­­vo­­­lutionären Elemente» ver­gol­den zu lassen? Der Mig­rant wird zur Waffe, selbst noch seine Rückführung: Er erhält ein Handgeld, ge­wis­sermaßen als Belohnung für seine sportliche Leistung, das EU-Territorium er­reicht zu haben, und erschließt sich so eine Verdienstmöglichkeit, die ihm sein Land nicht gibt.

Der Migrationsdruck läßt sich damit als politische Waffe einsetzen, um die Schwäche der westlichen Demokratien, ihrer moralisch selbstverordneten Wehrlosigkeit, vorzufüh­ren. Die Migrationspolitik macht sich damit nicht nur zum Kom­­p­lizen einer kriminellen Schleuserökonomie und zwischenstaatlicher Korruption, sondern vor allem des welt­­­­weit ge­sell­schaftlichen Unrechts und ihrer untragbaren Zu­stän­­de. Sie scheint von keinem tieferen Geschichtsbe­wuss­t­sein politischer Reali­tä­ten getrübt sich der naiven Illusion hinzugeben, geschichtlich über Jahrhunderte ge­wachsene Un­ver­hält­nisse menschlicher Gesellschaften ließen sich ohne Re­vo­lu­tio­nen und ihre mit­un­ter grauenhafte Ge­walt durch rein moralische Appelle auflösen; moralische Appelle, die, wie im UN-Migrationspakt, nicht einmal mehr an die Verursacher gehen, sondern die geordnete Staatenwelt in die Pflicht zwingen wollen, auszugleichen, was dort sein Unwesen treibt.

Migratorische Verwerfungen und politische Vernunft

Die Unverhältnisse sind allgemein bekannt. Sie sollen hier nicht ausführlich wiederholt werden. Sie reduzieren sich aber nicht auf die eklatante Disproportion von Geburtenrate und ökonomischen Subsistenzmöglichkeiten, die sich in innergesellschaftlicher Gewalt – und die Flucht vor dieser – entlädt, sondern weisen auf tiefergreifende, kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Faktoren, die recht präzise den Typus der Emigrationsländer definieren und ihn auf die muslimischen & afrikanischen Staaten eingrenzen.

Das Unvermögen zur Staatsbildung, und sei es durch Revolutionen oder Reformen, hat es ebensosehr mit der im Islam fehlenden Unterscheidung von Staat und Kirche (Religion) wie mit der mangelnden Ausbildung eines säkularen Rechtsverständnisses zu tun, die den Bürger als politisches Subjekt definiert und in seinem Selbstverständnis trägt. Nicht zuletzt ist es ein Erbe ehemaliger Kolonialherr­­schaft, die das os­ma­­ni­sche Reich wie ganz Af­rika so sau­ber mit dem Lineal unter sich auf­­­­teil­te – ohne jede Rück­­sicht auf die Völ­ker und Eth­nien, ihre kul­­tu­rel­len und re­li­giö­­sen Ei­genheiten (Sykes-Picot Abkommen), dass die ethnisch-kulturell zer­split­ter­ten Grup­­pen nie ein po­li­ti­sches Ge­mein­­schafbewusstsein ausbilden konn­­ten, es sei denn unter der Zwangs­­­rute einer dik­ta­to­ri­­schen Clan­­­­herrschaft, die zum Spielball internationaler Machtinteressen und ihrer Geopolitik wird.

Ist nicht auch dies ein Übel der arabi­schen & afrikanischen Welt, dass es an der Ausbil­dung eines politischen Verantwor­tungs­­be­wuss­t­seins der Ge­meinschaft fehlt, um sozio-ökonomisch selbsttragende Strukturen mo­dernen Le­bens zu erzeugen –  anstatt sich auf Roh­­stoff­­reichtum, Re­li­gions­ideo­lo­gie & Clan­­­herrschaft zu ver­lassen?

Es ist kein Zufall, wenn kein einziges mus­li­mi­sches oder afrikanisches Land durch mo­der­ne Erkenntniskultur und technologische Produktivität in Erschei­nung ge­­tre­ten wäre. Anders als Indien und Ostasien ist kei­nes der typologischen Emigrationsländer ein Pro­duk­­tionsort wis­sen­­schaftlicher und techno­lo­gi­scher Innova­tion, das die Subsistenz der explodierenden Bevölkerungszahl garantieren könnte.

Geburtenreichtum und sozio-ökonomische Rückständigkeit, Korruption und Clanherrschaft, ethnische und religiöse Zerrissenheiten unterlaufen jede Ausbildung eines modernen Staatswesens und erzeu­gen jene allgemeine Verelendung, die ihren inneren Druck in westliche Länder abführt.

Die Migrationspolitik vergeht sich überall am Prin­zip politischer Vernunft, die Negativität realgeschichtlicher Verhältnisse dort auf­zu­lösen, wo sie entspringen. Das betrifft auch die in­­ner­europäische Migration, wo immer sie be­­ste­hen­de Mißstände & Un­rechts­ver­hält­nis­­se konserviert oder zu neu­en Abhän­gig­­kei­ts­ver­hält­nis­­sen & macht­po­li­tischen Ver­wer­­­fungen führt.

Dazu ge­hört zum einen die «Kompetenzmigration» als Ab­schöp­fung der Bildungseliten ei­nes Landes (brain drain) durch den «Fach­kräf­te­­mangel» in an­­deren Ländern. Die Ab­wer­bung von Hoch­­kom­petenz zementiert die Rück­stän­dig­keit der Länder, vernichtet und miss­braucht ihre Bil­dungsanstrengungen und erhält da­­mit das ökonomische, so­zia­le und kulturelle Macht­ge­fälle zwischen den star­ken und schwä­­­cheren Gesellschaften, inner­euro­päisch den füh­ren­den In­du­strie­na­tio­­nen und den süd- und osteuropäischen Län­­dern: Ihre Über­le­gen­heit wird auf Gene­ra­­tio­nen fest­­­geschrieben, so dass ihrer Herr­schafts­position kei­ner­­lei Konkurrenz ent­ste­­hen kann, sie sich letztendlich sogar ihre eigenen Bildungsinstitutionen sparen kön­nen: Sie lassen andere Länder für sich aus­bil­­den und werben sie ih­nen dann durch ih­re über­­legenen Lebensverhältnisse ab.

Zum anderen überkreuzt sich damit die «So­zia­lmigration», durch die der Staat die Verantwortung für seine Arbeitslosen auf an­­de­­re abwälzt und ihnen die Ab­wan­de­rung in deren Sozialsysteme anempfiehlt, um da­­­mit wiederum sein «revolutio­nä­res Po­tential» abzuführen und die bestehenden Un­ver­hält­nisse zu erhalten. Was in den Auf­nahmeländern zu so­zialen Res­sen­timents und Ver­­werfungen führt, die die Gesellschaft spalten und ihren Zu­sam­men­halt auf­zuheben dro­­­­hen – bis hin zu Ghetto- und Pa­rallelge­sell­schaf­ten als rechtsfreien Räu­men, in de­nen jede rechtsstaatliche Ord­nung ver­sagt.

Was dann unter dem Begriff der «Aus­län­der­­­feindlichkeit» fehl­diag­nos­ti­ziert und zur moralischen Erpressung all­­gemeiner Befindlichkeiten ein­ge­setzt wird: In Wahr­heit handelt es sich um Staats­ver­­sagen, wo im­­­mer (E-)migration durch öko­no­­mische, soziale und po­li­tische Verhält­nis­­se erzwungen und (Im-)migration durch Ab­­werbungs- und Alimen­ta­tions­angebote gefördert wird: Sie bleibt politisch kon­tra­pro­duktiv ein Abzeichen staat­li­chen Versagens und da­mit ein Verschie­bungs­mo­ment re­volutionsaffiner Gesellschaften, das letzt­lich dort ex­plo­­­die­­­ren muss, wo­hin ver­scho­ben wurde: Aus der Verschiebung wird die Implantation re­­­­­vo­lu­tio­nä­rer Ver­hält­nis­se in Ländern, die dadurch geschichtlich zurückkatapultiert wer­­­­den: Aus der pro­­gre­ssiven Revolution in den Herkunfts­län­dern wird eine regres­s­i­ve in den An­kunft­­s­ländern.

Mig­ration ist die latente und nicht ein­ge­stan­dene Revolution der Mo­­derne, die im Kern über kein positives Programm der Um­wäl­zung verfügt, son­­dern einer weltgeschicht­li­chen Disproportion der Verhältnisse entspringt, die durch die Technologisierung des Planeten ausgelöst wurde, aber nur durch die geistigen Bildungspotentiale politischer Vernunft bewältigt werden können, die alle Befindlichkeiten in die Sachanalyse realgeschichtlicher Verhältnisse transzendiert.

Daran scheitert der UN-Migrationspakt: Er ist ein Paradebeispiel politischer Unvernunft, der aus purer realpolitischer Feigheit in die moralideologische Phantasiewelt flüchtet, anstatt den Emigrationsländern harte Bedingungen ihrer rechtsstaatlichen Reorganisation aufzuerlegen – bis hin zu territorialen Neuordnungen ihres Staatswesens nach gemeinschaftstragenden Prinzipien ethnischer, kultureller und religiöser Parameter.

Nur ein UN-Pakt gegen «Versagerstaaten» (failing states) wäre eine angemessene politische Antwort auf die Dramatik der Migration – zugunsten all der Menschen, die ihr Leben allzugerne in ihrer sozio-kulturellen Sphäre verbringen möchten – die Allermeisten.


(1) Jetzt gut zusammengefasst in Roland Tichy (Hg.), Der Migrationspakt und seine Auswirkungen.

(2) Auch die DDR hat die «Republikflucht» als Kritik an ihren Lebensverhältnissen und prä-revo­lu­tionären Zustand verstanden, aber als eine solche von Produktivkräften unterbunden und nur par­tiell die Ventilfunktion bedient. Als der Massenexodus nicht mehr aufzuhalten war, brach sie auch zusammen.


Rudolf Brandner


Mehr zum Thema:

Roland Tichy (Herausgeber), Der UN-Migrationspakt und seine Auswirkungen.
Mit Beiträgen von Norbert Häring, Krisztina Koenen, Tomas Spahn, Christopher Walter und Alexander Wendt

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