Seit Tagen, seit Wochen bestimmen Meldungen zur Verbreitung des Corona-Virus die Medien. Nahezu stündlich werden neue Zahlen zu Infektionen und Verstorbenen veröffentlicht. Berichte über politische Reaktionen und die wirtschaftlichen Folgen kommen hinzu.
Was zuvor als unmöglich galt, wird beschlossen: Es gibt Reisebeschränkungen, Grenzen werden verriegelt, Menschen dürfen nicht mehr auf die Straße, Fabriken werden stillgelegt. Die Polizei kontrolliert Spielplätze, damit dort keine Kinder spielen. Schwimmbäder sind versperrt, Geschäfte geschlossen. Gaststätten dürfen nicht betreten werden. Fußballspiele und Konzerte sind abgesagt. Kirchen und Museen, Theater und Kinos, Zoos und Parks bleiben verwaist. Meine Universität schließt. Nachwuchswissenschaftler, die eingestellt werden sollten, müssen in die Sozialhilfe, weil die Personalabteilung die Akten nicht mehr bearbeiten kann. Aus dem Ausland kommen Emails verzweifelter Post-Docs, die Stellen in Aussicht hatten und nun in die Armut fallen.
Zunächst gilt es sich bewusst zu machen, dass dies alles nicht die Folgen der „Corona-Krise“ sind, sondern die Folgen von politischen Entscheidungen in der Reaktion auf das Virus. Wenn Leute arbeitslos werden, dann liegt dies nicht am Virus und an Erkrankungen, sondern an den politischen Restriktionen, die Tag für Tag strenger werden.
Zwar würden die Leute auch ohne die vielen verordneten Einschränkungen vorsichtiger werden, aber die Veränderungen wären weit weniger einschneidend. Als ich am Samstag vor neun Tagen mit dem jüngsten Kind auf dem Spielplatz war, war dieser voll und die Kinder spielten wie immer vergnügt, daneben fuhren die Jugendlichen im Skatepark mit ihren Boards. Ich habe versucht, zu verfolgen, worüber die Eltern und Jugendlichen sprachen. Ich hörte nichts zu Corona.
Dabei ziehen die Entscheidungen der Politik viele schwerwiegende und die Mehrheit der Bürger langfristig und die Gesellschaft als Ganzes beeinträchtigende Konsequenzen nach sich. Betrachten wir als Beispiel die Schulschließungen: Eine fast schon unübersichtliche Zahl an Studien hat gezeigt, dass Beschulung Intelligenz und Wissen fördern, pro Jahr um die 3.40 IQ-Punkte. Unterrichtsausfälle führen dagegen zu Intelligenzminderung, was man am Beispiel von Sommerferien belegt hat. Pro Woche Schulunterrichtsausfall kann man mit ungefähr 0.08 bis 0.12 IQ-Punkten rechnen. Die Verluste sind größer bei Kindern aus bildungsfernen Familien, die weniger gut selbstgesteuert und von Eltern unterstützt lernen können. Der Abstand zwischen den guten und schwachen Schülern nimmt mit jedem Tag Unterrichtsausfall zu. Langfristig führt dies zu weniger Innovation, Wirtschaftswachstum und Wohlstand und zu mehr gesellschaftlichen Spannungen, Kriminalität und Armut. Auch für den Gesundheitsbereich oder die Pflege werden weniger Mittel vorhanden sein.
Ganz anders sieht es bei der durch das Corona-Virus ausgelösten COVID-19-Krankheit aus. Nach vorläufigem Wissensstand zeigen die Hälfte bis drei Viertel aller Infizierten gar keine Symptome, wie man bei einer vollständigen Testung des Dorfes Vò Euganeo in Italien feststellte. Unter Kindern stirbt bisher erkennbar überhaupt keines, unter jungen gesunden Erwachsenen bis 50 Jahre beträgt die Letalität um 0.3%, vielleicht sogar noch deutlich darunter, weil man nicht immer alle Vorerkrankungen kennt. In Italien starb bisher erst eine Person unter 50 Jahren. Ab 50 Jahren steigt die Sterblichkeit an und liegt bei den 80- bis 90-Jährigen über 10%. Das Durchschnittsalter der in der Corona-Pandemie in Italien Verstorbenen ist um die 80 Jahre. Allerdings ist hier weniger das Alter an sich ausschlaggebend, sondern dass mit dem Alter mehr Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzschwäche, Lungenerkrankungen und Bluthochdruck einhergehen, die die Abwehrkräfte schwächen.
Ohne einen Test würde man die Corona-Epidemie im Vergleich zu bisher üblichen Grippewellen vermutlich als nicht etwas so Außergewöhnliches betrachten. Jedes Jahr sterben in Deutschland knapp eine Million Menschen, das sind ungefähr so viele wie pro Jahr an Toten durch den Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Im Mittelalter wäre COVID-19 nicht aufgefallen, weil im Schnitt die Bevölkerung weit jünger war und es nur sehr wenige Alte mit Vorerkrankungen gab. Die Erfolge der modernen Medizin haben es erst ermöglicht, dass eine Krankheit wie COVID-19 bedeutsam wird.
Die verzerrte Wahrnehmung der Gefahr durch eine neu auftretende Infektionskrankheit droht, den Weg in eine Gesundheitsdiktatur zu ebnen, in der nahezu alles, was für Freiheit, Lebensfreude und Vergnügen steht, verboten wird. Gesundheit und überhaupt ein langes Leben stellen aber nur einen Wert neben vielen anderen relevanten dar und ein erfülltes Leben erschöpft sich nicht in seiner Länge. Zudem gestatten wir Menschen auch sonst viel Unvernunft, einfach, weil sie es wollen und jeder für sich selbst am besten weiß, was gut für ihn oder sie ist.
Es kam noch nie eine Gesellschaft auf die Idee, um ihre Alten zu schützen, die Schulen zu schließen und damit die Zukunft der Jungen (und auch Älteren) aufs Spiel zu setzen. Wie kann man Bildung und Wissenschaft stoppen, um das Leben der 90-Jährigen um ein paar Monate zu verlängern? Ihnen gebührt unser aller Hilfe und Respekt, aber durch gezielte Quarantäne, nicht durch das Lahmlegen aller.
Schließlich wird man die vitale Jugend nicht stoppen können. Je länger all die Verbote von Vergnügungen und Zusammensein anhalten, desto mehr werden sie unterlaufen werden.
Es wird dann wie zu Zeiten der Prohibition, in denen der Alkoholkonsum in den Untergrund abwanderte. Vor allem Subkulturen der Jugendlichen, der Schwulen, der Migranten, überhaupt aller Jungen, werden sich nicht ihren Spaß nehmen lassen. Dann gibt es halt geheime Parties in Hinterzimmern, ein spannendes Katz und Maus Spiel mit der Polizei, ein wenig Boccaccio und Decamerone und anders als zu Zeiten der Pest ist das Spiel für die Jugend auch noch nahezu ohne Gefahr. Die Verbote und der Verfolgungsdruck dienen dann hier der Intensivierung des Erlebnisses. Wie Achterbahn fahren.
Was aber nun praktisch tun? Es sterben ja Menschen an Corona. Das Problem ist da und kann nicht wegignoriert werden. Auch Junge erkranken in seltenen Ausnahmefällen schwer, müssen beatmet werden. Die meisten Älteren überleben, ein Teil benötigt aber intensivmedizinische Behandlung. Die bisherigen politischen Maßnahmen sind als dauerhafte undenkbar. Wie will man, wenn es keine Medikamente, Herdenimmunität oder eine Impfung gibt, in Zukunft eine offene Gesellschaft bewahren?
Nur ein Beispiel: Die von den Londoner Epidemiologen um Neil Ferguson vorgeschlagenen Maßnahmen würden ein bis zwei Jahre laufen. Und dann? Deutschland ist nicht Andamanen. Und auch ostasiatische Länder, die bisher erfolgreich eine Quarantänepolitik betreiben, wollen sie ihre Länder auf Dauer abriegeln? Es ist unmöglich in der Moderne, die Verbreitung eines Virus ohne Impfung zu stoppen, nur eine vorübergehende Ausbremsung geht.
Aber es gibt keine Lösung ohne Risiken. Selbst bei einer Impfung wird nicht jeder geschützt sein. Das Virus wird sicherlich mutieren. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es in der Welt ist und dass Menschen daran sterben. Wir waren in der Vergangenheit gezwungen, uns auf die Grippe psychologisch einzustellen. Das wird uns auch bei Corona gelingen. Im Winter 2012/13 starben in Deutschland zwischen 21.000 und 29.000 Menschen an der Grippe – ungefähr 25.000 von insgesamt knapp einer Million Toten jedes Jahr in Deutschland. Die Corona-Pandemie wird diese Zahlen erhöhen, aber nicht in die Katastrophe führen. Der Schaden, der durch die bisherige Politik kurz- bis langfristig für die Gesellschaft entsteht, ist zu reduzieren. Die Politik wird sicherlich bald umschwenken. Die bisher vorpreschenden Schnellentscheider wollen wieder vorne stehen und sich als Retter von Wirtschaft und Gesellschaft präsentieren.
Prof. Dr. Heiner Rindermann ist Professor für Psychologie an der TU Chemnitz. Er beschäftigt sich mit den Themen Humankapital und Gesellschaft, Bildung und Kulturvergleich. Sein jüngstes Buch „Cognitive capitalism: Human capital and the wellbeing of nations“ ist 2018 im renommierten Wissenschaftsverlag Cambridge University Press erschienen. Email: heiner.rindermann@psychologie.tu-chemnitz.de
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