Ich gestehe frei und offen, dass ich das Wort Meinungsfreiheit nicht mehr hören kann. Die Debatten darum empfinde ich als langweilig – weil man darüber nichts wirklich Neues mehr sagen kann – und als belastend – weil ich mich selber als betroffen fühle und objektiv ja auch betroffen bin.
Wer sich beklagt und jammert, wird als schwach wahrgenommen. Das ist niemals gut und selten nützlich. Es beschädigt sowohl das Selbstbild als auch das Fremdbild, wobei ich das erstere noch schlimmer finde.
Emotional halte ich es mit Wilhelm Tell. An der Baustelle der kaiserlichen Zwingburg in Uri möchte er zunächst ungerührt vorbeigehen und antwortet auf die Vorhaltungen Stauffachers: Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst. Der Starke ist am mächtigsten allein. Tell hasst das Jammern und sagt dazu: Das schwere Herz wird nicht durch Worte leicht.
Verzweifelt über die Stärke der Zwingburg sagt der Steinmetz zu ihm: Seht diese Flanken, diese Strebepfeiler, die stehn, wie für die Ewigkeit gebaut! Tell antwortet lapidar: Was Hände bauen, können Hände stürzen. Und zeigt auf die Berge: Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet. Tell setzt also auf die Macht der Tat: Ich kann nicht lange prüfen oder wählen, bedürft Ihr meiner zu bestimmter Tat, dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.
Nun, die Taten meines Lebens fanden an den Schreibtischen verschiedener Ministerien bei Bund und Ländern statt. Ich hatte stets Freude daran, Situationen und Probleme rational zu analysieren, die relevanten Fakten zu strukturieren, ihre inneren Zusammenhang offenzulegen und auf dieser Grundlage Vorschläge zu entwickeln, wie man ein Problem lösen bzw. bestimmte Ziele erreichen kann. Mein primäres Interesse richtete sich dabei auf die Frage, wie man die Gesellschaft so organisiert, dass dem allgemeinen und dem individuellen Wohl am besten gedient ist.
Aus diesem Interesse heraus hatte ich Volkswirtschaft studiert, und es war durchaus folgerichtig, dass ich Ministerialbeamter war und schließlich Politiker wurde. 39 Jahre lang konnte ich mich über viele Erfolge freuen. Widerstände gab es immer. Heftige Diskussionen und persönliche Angriffe hatte ich auch auszustehen. Aber über das Meinungsklima in der Gesellschaft dachte ich nur selten nach, und grundsätzliche Probleme mit der Meinungsfreiheit sah ich überhaupt nicht.
Mein 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ schrieb ich, weil mich am Ende meines Berufslebens Fragen bewegten, die ich als ungelöst empfand und die aus meiner Sicht in Politik und Gesellschaft sträflich vernachlässigt wurden. Meine Sorgen drehten sich um die geringen Geburtenzahlen der Leistungsträger und gebildeten Schichten in Deutschland und um die Folgen kulturfremder Masseneinwanderung.
Die Emotionen, die das Buch positiv und negativ auslöste, haben nicht nur mein Leben, sondern auch meinen Blick auf die Gesellschaft verändert. Zuvor hatte ich nie darüber nachgedacht, weshalb einige Themen mich besonders interessierten, während andere mich kalt ließen. Intensives Nachdenken und die Lektüre psychologischer, soziologischer und philosophischer Texte lieferten mir eine Antwort, die ich eigentlich schon kannte, aber im Lauf der Jahre verdrängt und vergessen hatte.
Die Interessen, die uns bewegen, und unsere spontanen Meinungen über das, was in der Gesellschaft wichtig und unwichtig ist, bis hin zur Frage von Gut und Böse, bilden sich im vorrationalen Raum. Sie sind nicht das Ergebnis rationaler Einsichten, sondern allenfalls ihr Ausgangspunkt, und können deshalb auch kaum rational diskutiert werden.
Lebenskluge Menschen wussten dies schon immer. Soweit sie eine gute Erziehung genossen, haben sie deshalb die Maxime verinnerlicht, beim Small Talk und bei jeder Konversation, die auf Harmonie gestimmt ist, politische und religiöse Themen möglichst zu vermeiden.
Mich hatte es 2010 und danach getroffen und auch verletzt, dass es illegitim und unmoralisch sein soll, sich mit nationaler Identität oder den langfristigen Folgen bestimmter Trends bei Einwanderung und Geburtenverhalten zu beschäftigen. Ich werde das weiterhin tun, und ich sehe es als gesellschaftlich schädlich an, wenn man bestimmte Fragen und Probleme aus dem Kreis legitimer öffentlicher Debatten ausschließen will. Darin sehe ich einen Rückfall in vormoderne Zeiten. Geistige Freiheit ist mehr als die Überwindung textiler Bekleidungsnormen und die Verherrlichung sexueller Vielfalt.
Ich kann nur hoffen, dass sich hier nicht ein neuer gesellschaftlicher Trend zur Verengung zulässigen Denkens etabliert.
Ich gestehe jedem zu, dass er andere Erkenntnisinteressen, andere Werturteile und andere Lebensziele hat. Ich respektiere das, erwarte umgekehrt aber auch denselben Respekt. Ich verlange von niemandem, dass er meine Sorgen um die geringen Geburtenzahlen der Leistungsträger und gebildeten Schichten in Deutschland und die Folgen kulturfremder Masseneinwanderung teilt. Ich möchte wegen dieser Sorgen aber auch nicht moralisch abqualifiziert und in die rechte oder gar rechtsradikale Ecke geschoben werden.
Jedem Grünen und überhaupt jedem besorgten Bürger gestehe ich ja auch zu, dass er sich nicht nur Sorgen um den menschengemachten Klimawandel macht, sondern Gegenmaßnahmen ins Gespräch bringt, die ich für schädlich halte. Darüber muss man halt diskutieren. Wer hier mit dem Kopf durch die Wand will, fordert zwar Unvernünftiges, damit ist er aber noch nicht unmoralisch.
Als rationaler Charakter kann ich gar nicht dagegen sein, dass die Politik den Versuch unternimmt, den Klimawandel vorausschauend zu gestalten. Übertreibungen werde ich mit ganzer Kraft bekämpfen. Aber ich werde niemals jene Bürger dämonisieren, die im Fahrrad die Lösung aller Transportprobleme sehen. Ich werde sie allenfalls ein wenig verspotten. Den gleichen Spott wende ich auf Genderpuristen an, die die deutsche Sprache verhunzen. Mag doch jeder reden wie er will, solange der Hass gezähmt wird und Lügen geächtet bleiben.
Übrigens: Wenn alle Völker und Gesellschaften so wenig Kinder bekämen, wie die autochthonen Deutschen, nämlich 1,3 Kinder pro Frau, müssten wir uns um den Klimawandel keine Sorgen machen, weil die Weltbevölkerung schnell abnähme und damit die menschengemachten Emissionen automatisch sänken.
Warum nur höre ich von den Klimaaktivisten so gar nichts über das Wachstum der Weltbevölkerung und was man dagegen tun könnte? Die Antwort drängt sich mir auf: Beim Klimawandel gilt das industrialisierte westliche Abendland als der Hauptsünder. Das passt ins politisch korrekte Meinungsschema der Feinde unserer Gesellschaft. Bei der Bevölkerungsentwicklung gerät dagegen die politisch verhätschelte sogenannte Dritte Welt in den Fokus der Kritik. Das darf nicht sein, denn es würde zur bequemen Einteilung der Welt in Gut und Böse nicht passen.
Merke: Wenn das ideologische Schema den Vorrang vor der Wirklichkeit beansprucht, dann ist es Zeit, auszureißen und die eigene Wahrheit zu suchen. Wo dieses geschieht, werden Ketten gesprengt, und neue Wirklichkeiten tun sich auf.
Die Art, wie viele in Medien und Politik mit mir umgehen, versuche ich nicht persönlich zu nehmen. Mit einer gewissen Faszination beobachte ich, wie mein Name sich in bestimmten Kreisen aus der Wirklichkeit meiner Einlassungen und Ansichten gelöst und einen negativen Symbolcharakter angenommen hat:
• Vor einigen Wochen erschien im Tagesspiegel ein ganzseitiger anonymisierter Bericht eines Journalisten über die Hinwendung seines Vaters zur AfD, die anscheinend eine Familienkrise ausgelöst hatte. Titel: Die Einstiegsdroge meines Vaters war Thilo Sarrazin. Folgt man dem Autor, so war sein Vater, den der anonyme Journalist als intelligenten und gebildeten Mann beschreibt, durch die Lektüre von einem oder mehreren meiner Bücher so angefixt worden, dass er darüber den politischen Verstand verlor und jetzt wahrhaftig den Klimawandel leugnet. Offenbar war dem Autor nicht aufgefallen, dass ich mich zur Existenz des Klimawandels bislang publizistisch (noch) nicht geäußert habe, meine Ansichten dazu also unbekannt sind.
• Nach dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle schrieb Klaus Brinkbäumer im Tagesspiegel: „Wir sollten wahrnehmen, wie durch Pegida oder AfD, durch Sarrazin oder Maaßen unsere Sprache verroht. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit werden dadurch enttabuisiert, dass Toleranz und Liberalismus als `elitäre Meinungsdiktatur´ diffamiert werden.“ Ich bin ganz sicher, dass der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Brinkbäumer noch nie ein Buch von mir aufgeschlagen hat. Die schiere Inkompetenz solch eines Satzes macht noch fassungsloser als sein lügenhafter Charakter.
Der Bundesvorstand der SPD versucht eine inhaltliche Debatte über den Islam und die Muslime durch den Parteiausschluss eines Buchautors zu unterbinden. Muss man sich da wundern, wenn das Vertrauen in die Urteilskraft der dafür verantwortlichen Politiker leidet und die SPD auf diese Weise insgesamt Schaden nimmt? Muss man nicht befürchten, dass die betreffenden Politiker bei anderen wichtigen Fragen genauso unfähig oder unwillig sind, die Wirklichkeit in den Blick zu nehmen? Die jüngsten Wahlergebnisse zeigen, dass offenbar viele Menschen in dieser Hinsicht Zweifel haben.
Diesen Vortrag hielt Dr. Thilo Sarrazin beim Forum Freiheit der Friedrich August von Hayek Gesellschaft am 30. Oktober 2019 in Berlin