Es ist noch da: „Rick´s Café“ aus dem legendären Film „Casablanca“ mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann. Doch nun wirkt es inmitten der ringsum gewachsenen Hafenanlagen recht unscheinbar. Der boomende Industriehafen schreibt die alte Filmgeschichte auf ganz andere Weise fort. Es ist keine Fluchtgeschichte mehr, sondern eine gelungene Standortentwicklung. Hier wird mit Wirtschaftsgütern Geld verdient und es wird nicht nur verladen, sondern auch produziert. In Casablanca beginnt eine Wirtschaftszone, die sich über 200 km bis nach Tanger an der Straße von Gibralter erstreckt. „Viele Weltkonzerne lassen hier fertigen“, erklärt Monsieur Brahim von der Handelskammer. „In Marokko ist das Durchschnittseinkommen geringer als in Algerien, weil die großen Öl- und Gasquellen fehlen, aber es hat einen breiteren Unterbau von Klein- und Mittelbetrieben“. Die Kette der Betriebe, die rechts und links der stark befahrenen Küstenautobahn liegt, ist tatsächlich beeindruckend.
Sehr viel anders sieht es in manchen spanischen Wirtschaftsregionen auch nicht aus. Die Wertschöpfungsketten in den Branchen Textil, Nahrungsmittel, Automobil und sogar im Flugzeugbau haben die Mittelmeer-Grenze überwunden. Marokko ist ein Beispiel dafür, dass der wirtschaftliche Fortschritt nicht für die Mitgliedsländer der EU reserviert ist.
Doch sollte man nicht voreilige Schlüsse ziehen. Küstenregionen sind oft Orte des Aufbruchs, aber das Wohlergehen einer modernen Nation entscheidet sich nicht hier. Man muss tiefer ins Innere des Landes schauen – eines Landes, das fast doppelt so groß ist wie die Deutschland, und dessen Bevölkerung seit der Unabhängigkeit 1956 von 11 auf 31 Millionen gewachsen ist.
Wandel und Kontinuität einer Stadt
Fés ist keine Megacity, aber mit 1 Million Einwohnern eine sehr große Stadt. Für eine Stadt im Hinterland ist es viel. In Marokko konzentriert sich das Städtesystem nicht so stark an der Küste wie in den Nachbarländern. Genau genommen setzt sich „Fés“ aus drei ganz verschiedenen Städten zusammen. Es gibt die Medina, die Größte ihrer Art im ganzen Mittelmeerraum. Diese verwinkelte Altstadt ist das Erbe einer Zeit, als Fés schon einmal 200.000 Einwohner hatte (im 12. Jahrhundert), eine Zahl, die sie erst 1970 wieder erreichte. Dann gibt es die ville nouvelle, die „Franzosen-Stadt“ aus der Kolonialzeit, die gradlinig, durchlässig und mit besserer Bausubstanz neben die Altstadt gesetzt wurde. Um diesen doppelten Kern legt sich dann die vielschichtige, schnell gewachsene „postkoloniale Stadt“. Keine der drei Städte ist ein Auslaufmodell, keine repräsentiert allein die Zukunft, denn alle beheimaten sie etwas Wertvolles. Die Medina mit ihrem Bazar scheint uns zurückzuführen zu den Geschichten von 1001 Nacht und zu den Gaben der heiligen drei Könige. Doch merkwürdig, viel Umsatz ist nicht zu beobachten, während die engen Gassen zum Bersten voll sind und überall gewerkelt, sortiert und präsentiert wird. Fast scheint es so, als wären die Dinge mit ihren Farben, Formen und Gerüchen, gar nicht zum Gebrauch bestimmt, sondern erfüllten schon durch ihre bloße Gegenwart ihren Sinn.
Man geht in die Medina wie in eine Schatzkammer. Und die „Franzosen-Stadt“? Sie ist längst von den Marokkanern übernommen, aber das französische Element hat sich umgekehrt auch ausgebreitet. Das gilt besonders für die Sprache. In den Läden, auf den Straßenschildern, und am Zeitungskiosk ist das Nebeneinander von Arabisch und Französisch allgegenwärtig. „Die meisten jüngeren Leute in Fés sind zweisprachig“, sagt Mohamed, der Taxifahrer, der mich von der Medina zum Hotel fährt. Er ist 24 Jahre alt und wohnt bei seinen Eltern in einem Neubauviertel. Was er häufiger spricht? Natürlich arabisch. Aber die alte Kolonialsprache ist gefragt, um mit der Außenwelt Schritt zu halten: „Für Autos, Fußball und Filme brauche ich das Französische“.
Der Reichtum Marokkos scheint in diesem Nebeneinander von Elementen aus verschiedenen Zeiten zu bestehen. Und es ist ein durchaus diesseitiger und dinglicher Reichtum. Es hämmert viel Popmusik auf der Straße und zugleich strahlt die Erhabenheit der alten Mosaike. Im Café diskutieren ältere Männer bei Pfefferminztee über den neuen Clio von Renault. Zu diesem säkularen Geist will das Bild eines immer strengeren, nihilistischen Islam nicht recht passen. Ein Volk, das solche glutroten Teppiche weben kann, sehnt nicht das Ende des Lebens herbei. Die Dinge des Diesseits sind ihm kostbar, auch die modernen Dinge. Soll man wirklich glauben, dass das alles wieder zugehängt werden kann? Kann man sich tatsächlich vorstellen, dass das vielschichtige Fez den Sprengkommandos des IS überlassen wird?
Und doch gibt es eine Leerstelle in der Vielfalt: das Paar. Trotz der Unmenge von jungen Leuten, die überall zu sehen sind, fehlt die Zweisamkeit der Geschlechter. Dabei fehlt es nicht an Freundschaft, Plauderei, Witz und Zärtlichkeit. Man sieht Gruppen, die gemeinsam unterwegs sind. Menschen, die sich vertraulich unterhalten, umarmen oder Hand in Hand gehen. Aber immer geschieht das innerhalb des eigenen Geschlechts, nie zwischen den Geschlechtern. Das Paar ist der große Abwesende im Stadtbild. Eine unsichtbare, aber hermetische Grenze scheint hier aufgerichtet zu sein. Bei der Besichtigung einer Mosaik-Werkstatt fällt auf, dass die Arbeitsgänge strikt nach Geschlecht verteilt sind. Auf dem Nachhause-Weg bilden Schüler und Schülerinnen getrennte Gruppen. Wie soll, so fragt sich der Beobachter, in dieser merkwürdigen Apartheit eine Vertrautheit mit dem anderen Geschlecht entstehen? Die Welt, die sich eröffnet, wenn man erstmals zu zweit die Straße herunterbummelt, bleibt hier verschlossen. Das freie Bündnis der Ehe, ohne das eine selbstbewusste Zivilgesellschaft nicht denkbar ist, ist damit schon im Ansatz beschädigt. Es hilft nicht, dass es in Marokko inzwischen weibliche Hotelchefs, Piloten oder Sportler gibt. Ohne das autonome „Wir Beide“ des Paares hat das öffentliche Leben ein schweres Handikap.
Steinwüsten und lange Wege
Es gibt sicher viele Dinge, die für Marokko typisch sind. Aber ein Gegenstand müsste mit Abstand ganz oben auf der Liste stehen: der Stein. Es ist eine sehr steinige Realität, die das Land prägt. Solange unser Reisebus im recht grünen Nordwesten zwischen Atlantik und Atlas unterwegs war, war das nicht so auffällig, doch nun fahren wir auf der anderen Seite des Gebirges hinunter zur trockenen Sahara-Seite. Die kahle Landschaft aus Fels, Geröll, Sand ist allgegenwärtig. Für das Auge ist das ein reizvolles Extrem, aber die Landschaft ist im Grunde abweisend – eine Landschaft, die den Menschen „verneint“, wie der Schriftsteller Albert Camus schrieb. Wer Marokko verstehen will, sollte ein paar Tage im Stein unterwegs sein.
Denn diese harte Umwelt nimmt den größten Teil des Landes ein. Sie ist eine Grundbedingung des Wirtschaftslebens und auch der Maßstab des politisch Machbaren. Die Marokkaner müssen einen viel größeren Teil ihrer Ressourcen darauf verwenden, um elementare Lebensmittel zu erwirtschaften. Deshalb ist hier auch die Abwanderung vom Land in die Stadt ein größeres Problem als in Europa, denn sie hat nicht – wie in der mitteleuropäischen Geschichte – landwirtschaftliche Produktivitätsgewinne in ihrem Rücken. Nur die Tatsache, dass Marokko im Norden fruchtbare Gebiete hat, mildert ein wenig den Druck.
Es ist kurz nach 12 Uhr mittags, auf der Hauptstraße des Örtchens Tinjdad bietet sich ein erstaunliches Bild. Von überall kommen scharenweise Kinder und Jugendliche – die Schule ist aus. Sie sprudeln regelrecht hervor, lärmend, lachend, laufend. Wie gut das tut, so viel Leben nach so viel Stein. Einen erstaunlicheren Kontrast kann man sich gar nicht vorstellen. Die Wüste lebt. Und wer hätte gedacht, dass es hier so viel Fahrradfahrer gibt? Sie besetzen die Hauptstraße, als wären wir in Münster und nicht am Nordrand der Sahara. Doch die Bikerwelle macht durchaus Sinn, denn die Menschen wohnen in neuen Steinhäusern und die liegen nicht mehr so eng beisammen. Auch andere moderne Erfindungen erweisen sich in der harten Umwelt als besonders nützlich: der Dieselmotor, der Straßenasphalt, Kunststoffschläuche für die sparsame Bewässerung. Die Sahara ist inzwischen an etlichen Stellen eine Wüste mit Sonnenkollektoren und Internet. Aber es bleibt eine Wüste. „Das Leben ist leichter geworden, aber es hängt zum großen Teil vom Frankreich-Geld ab“, sagt Ahmed, unser einheimischer Reiseführer. Er meint die Überweisungen der Migranten, die in Frankreich arbeiten. Daneben subventioniert auch der Staat den privaten Wohnungsbau und versucht, eine Mindestversorgung bei Bildung und Gesundheit zu gewährleisten. Trotz all dieser Hilfen bleibt eine Kluft zwischen Süd und Nord. Sie ist einfach nicht zu schließen. Deshalb ist jede Entscheidung, dort doch ein neues Haus zu bauen und diesen Standort für die Familie nicht aufzugeben, bemerkenswert. Sie zeugt von einem starken Selbstbehauptungswillen, der ein Grundmerkmal der marokkanischen Nation zu sein scheint.
Man findet etliche Zeichen dieser Selbstbehauptung und es sind gerade die kleinen Zeichen, die am stärksten beeindrucken. Dazu gehören die Wege, die die Menschen täglich zurücklegen. Auch an den entlegensten Orten findet man immer Leute, die unterwegs sind – zu Fuß, auf dem Fahrrad oder mit einem Lasttier. Sie gehen meistens allein, bisweilen zu zweit, Männer, Frauen, Alte, Kinder. Nicht immer transportieren sie etwas, aber die Liste der Behälter ist ziemlich bunt – Karren und Körbe, Plastiktaschen und -flaschen, geschnürte Bündel und Rucksäcke. Oft kann man den Zweck der Wege nur erahnen: Eine Gelegenheitsarbeit, ein Einkauf oder Verkauf, ein Verwandtenbesuch, ein Weg zur Schule und zum Arzt? Doch die Mühseligkeit dieser Bewegung – bei Hitze oder Wind, verloren in der Landschaft – ist ein berührendes Bild.
Die Bewegung strahlt Würde aus. In diesen Zeiten, in denen „Flucht“ und „Migration“ in aller Munde ist, muss dabei auf einen Unterschied aufmerksam gemacht werden: Bei den langen, mühseligen Wegen, die hier zurückgelegt werden, handelt es sich um keine Abwanderung, kein Verlassen der Region, kein Kappen der eigenen Wurzeln, keine Suche nach etwas ganz Neuem in der Fremde. Die Wege werden vielmehr unternommen, um die Existenz zu erhalten und zu bewältigen. Es sind Wege mit Wiederkehr, Wege in einem großen und schwierigen Zuhause. Diese Selbstbehauptung nutzt durchaus auch moderne Erfindungen. Die Viehhirten transportieren ihre Herden von einer Weideregion zur nächsten inzwischen im LKW.
Das Foto des Königs
Gehört auch die Monarchie zu dieser Selbstbehauptung? Häufig wird aus der Tatsache, dass Marokko von einem König regiert wird, der auch das religiöse Oberhaupt ist, die Schlussfolgerung gezogen, dass das Land besonders rückständig sei. Der König Mohammed VI. ist wirklich stark präsent, so präsent wie die Nationalflaggen, die in keiner Ortsdurchfahrt fehlen. Seine Fotographie hängt in Cafés, Hotels, Apotheken, Bäckereien und auch in der Wohnung von unserem Reiseführer. Auf vielen Berghängen hat man mit weiß getünchten Steinen in großen Buchstaben die Losung „Für Gott, Heimat und König“ geschrieben. In der kargen Umgebung wirkt das nicht pompös und auch nicht wie eine Drohung. Eher wie eine Versicherung, dass auch diese Orte wichtig sind und sich die höheren Mächte nicht von ihnen abgewandt haben.
Doch beim europäischen Besucher, der gerne die Vielfalt lobt, hört das Verständnis meist beim Zentralismus, der auch zu Marokko gehört, auf. Hier ist der Besucher sofort geneigt, eine autoritäre Vormundschaft zu vermuten. Dabei übersieht er einen entscheidenden Unterschied: Der marokkanische König bildet nicht die Spitze eines Gesamtkomplexes, der allen Reichtum und alle Macht auf sich konzentriert – wie es in den Ölstaaten die Regel ist. Die Macht von Mohammed VI ist geringer. Die Einheit der Nation, die er verkörpert, ist nur ein begrenztes Gegengewicht in einem Land mit vielen zentrifugalen Kräften. Er muss sorgfältig auswählen, wo er eingreift. Oft kann er Konflikte nur begrenzen und das Nebeneinander der Lebensformen, das in Marokko so kompliziert ist, am Laufen halten. Wer sich das Foto von Mohammed VI. genau anschaut, sieht einen König, der sich Sorgen macht. Jede größere Umwälzung – siehe Libyen oder Syrien – bedeutet die Gefahr, dass das Land in einen Teufelskreis der Selbstzerstörung gerät.
Es ist also durchaus Vernunft im Spiel, wenn die Marokkaner zu ihrem König halten.
Ein Zettel von Najib
Auf meinem Schreibtisch liegt ein Zettelchen. In ungelenker Handschrift steht da „Najib“, „Taxi“ und eine Handynummer. Mit ein paar Strichen ist ein Rahmen angedeutet, damit das Papier nicht so schmucklos aussieht. Ich habe im Laufe dieser Reise viele solche Botschaften zugesteckt bekommen. Sie laden mich ein, einen Handy-Laden, eine Diskothek oder eine Immobilienagentur zu besuchen. Sie hoffen, dass ich komme, um ein Foto machen zu lassen oder einen Mosaikbrunnen zu erwerben. Die Zettel sind Wetten mit einer Chance 1:100.000 und anrührend in ihrer aussichtslosen Mühe. Ich habe sie meist von jungen Leuten bekommen – wie dicht muss bei ihnen Selbstbehauptung und Resignation beieinander liegen.
Also ein dunkel-romantischer Schluss? Nein, man sollte in der Schwierigkeit der Lage die Nüchternheit nicht verlieren. So beeindruckend der Glaube an solche 1:1.000.000-Wetten ist, so ist es doch ein Irrglaube. Für die riesige junge Generation, die in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Verdreifachung der marokkanischen Bevölkerung geführt hat, führt die Migration in die größten Städte des Landes (oder, noch weiter, nach Europa) in ein Niemandsland. Demgegenüber erscheinen die Versuche, die Landflucht zu bremsen und auch die Klein- und Mittelstädte zu stärken, als bessere Alternative – auch wenn sie keine Lösung sind. Etwas, das den Begriff „Lösung“ verdient, gibt es für diese Generation nicht. Kein Wachstum ist darstellbar, das alle ihre Aspirationen wirklich befriedigen könnte. Wie viele Länder in der Welt, muss auch Marokko im 21. Jahrhundert irgendwie „über den Bevölkerungsberg“ gebracht werden. Dabei ist die gewachsene Komplexität des Landes und seine längere Tradition als Nation ein Vorzug. Marokko hat seinen eigenen Weg, es sitzt nicht in der Falle des Panarabismus und Panislamismus. Auch zeigen die sinkenden Geburtenraten, dass der Bevölkerungsdruck für spätere Generationen geringer sein wird.
Aber für die nächsten Jahre und Jahrzehnte gibt es große Schwierigkeiten. Und es gibt die Gefahr einer Umkehrung: Dass nicht die komplexe Strukturen in Stadt und Land die Bevölkerungsdynamik auffangen, sondern dass die Bevölkerungsbewegung die Strukturen auflöst. Dann würde die Gefahr groß, dass auch Marokko sich in ein amorphes Heerlager verwandelt. Es gibt also allen Grund, in Marokko allen Romantisierungen von Aufbruch und Migration zu widersprechen – auch den Romantisierungen durch internationale „Helfer“. Wir brauchen eine neue Form des Einfühlungsvermögens für den eigenen Weg jener Nationen, die in den schwierigen Regionen dieser Welt zurechtkommen müssen.
Fußnote: Dieser Text ist kein wissenschaftlicher Länderbericht. Er beruht auf einzelnen Eindrücken einer Exkursion, die von vielen Zufällen abhingen. Der Text ist der Versuch, sich in das Land hineinzudenken und es als Realität in einem tieferen Sinn zu verstehen: Als Realität aus eigenem geographischen Recht – so wie der Historiker Leopold Ranke eine geschichtliche Epoche an ihren eigenen Maßstäben gemessen sehen wolle.
Dieser Beitrag ist auch bei Deutscher Arbeitgeber Verband erschienen