Tichys Einblick
Reform des ESM

Der Euro-Staat entsteht und Deutschland verliert seine Haushalts-Hoheit

Mit den jüngsten Beschlüssen des Bundestags zum Europäischen Stabilitätsmechanismus verliert dieser sein Königsrecht: In Zukunft kann die EU praktisch unbegrenzt auf deutsche Steuern zugreifen und beliebig höhere Schulden erzwingen. Deutschland hat seine finanzpolitische Souveränität aufgegeben. Eine persönliche Erklärung.

imago images / Christian Spicker

Im Juni 2012 machte der Deutsche Bundestag den Weg für die Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) frei. Trotz erheblichen Drucks vonseiten der damaligen Fraktionsführung folgte ich gemeinsam mit einigen wenigen Kollegen aus Union und FDP meinem Gewissen und verweigerte dem entsprechenden Gesetz meine Zustimmung. Als Revanche für mein lange vorher angekündigtes und ausführlich begründetes Abstimmungsverhalten, verlor ich auf Betreiben der Bundeskanzlerin und der ihr ergebenen Fraktionsführung nach der Bundestagswahl 2013 meinen Sitz im Haushaltsausschuss. Seitdem tue ich als einfaches Mitglied im Wirtschaftsausschuss meinen Dienst. Für alle diejenigen, die mich schon länger kennen, ist dies nichts Neues. Für alle anderen soll dies vorab der Einordnung dienen.

Der Euro-Staat entsteht

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Die Entscheidung für den ESM ist eine Richtungsentscheidung, eine Entscheidung, ob Europa zentral oder dezentral organisiert wird, wo die politischen Kompetenzen liegen und auf welcher Ebene der Kern der europäischen Staatlichkeit liegt. Alle diese Fragen beantwortet unser Grundgesetz schon recht abschließend. Dennoch wurde mit dem Votum für den ESM im Jahre 2012 gerade solch eine Überführung von Staatlichkeit an eine höhere Ebene beschlossen, es entstand ein mit der Europäischen Union nicht deckungsgleicher neuer Euro-Staat. Die Entscheidung für den ESM berührt einen der zentralen Aspekte von Staatlichkeit in unserem parlamentarischen System: das Budgetrecht des Bundestages. Das Budgetrecht wird auch Königsrecht genannt, weil ein Parlament ohne eine Letztentscheidungshoheit über Haushaltsmittel machtlos, also seiner Aufgabe beraubt ist. Eine Demokratie ist nicht denkbar ohne ein Parlament mit absoluter Budgethoheit. Auf diese volle Budgethoheit verzichtete der Deutsche Bundestag mit seiner Entscheidung für den ESM im Juni 2012. Dabei sieht das Bundesverfassungsgericht in seiner auch damals schon gültigen Rechtsprechung eine Missachtung des Bestimmungsgehalts des in Art. 38 GG normierten Demokratieprinzips, wenn das parlamentarische Budgetrecht ausgehebelt wird.

Unbegrenzter Zugriff der EU auf den Bundeshaushalt

Indes führt der ESM aus sowohl rechtlichen wie ökonomischen Gründen zu unabsehbaren und unbegrenzten finanziellen Verpflichtungen Deutschlands. Dadurch saugt er das Budgetrecht des Bundestages aus und hinterlässt nicht mehr als dessen leere Hülle: Rechtliche Grenzen sind dem Zugriff des ESM auf den Bundeshaushalt nicht gesetzt. Der ESM verfügt über ein Stammkapital von 705 Mrd. Euro. Davon mussten die Mitglieder 81 Mrd. Euro direkt einzahlen. Weitere 624 Mrd. Euro kann der ESM bei Bedarf bei den Mitgliedern abrufen. Jedes Mitglied haftet für Verluste bis zur Höhe seines Anteils am Stammkapital. Für Deutschland sind das 190 Mrd. Euro. Doch die haushaltsrechtliche Beschränkung auf den ursprünglich bewilligten deutschen Finanzierungsanteil von 190 Mrd. Euro wirkt nicht. Nach dem Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus sind alle Entscheidungen seiner Gremien völkerrechtlich verbindlich, bis auf die Erhöhung des genehmigten Kapitals nach Art. 10 Absatz 1 ESMV. Sie wird erst wirksam mit einer bundesgesetzlichen Ermächtigung zur Bereitstellung neuer Mittel für den ESM. Doch diese einzige Vorkehrung gegen eine ungewollte völkerrechtlich begründete Zahlungspflicht reicht nicht aus, wenn Deutschland auch auf andere Art und Weise zur Zahlung verpflichtet werden kann. Dies ist erstens der Fall beim Abruf genehmigten Kapitals zu einem höheren Ausgabepreis als zum Nennwert.

Deutschland ist verpflichtet, jedem Abruf des genehmigten Kapitals nachzukommen, selbst wenn dieses mit einem Aufgeld auf den Nennwert, also zu einem höheren Ausgabepreis erfolgt. Dadurch entsteht eine völkerrechtlich wirksame Zahlungspflicht, die Deutschland erfüllen muss, selbst wenn ihre Höhe die haushaltsrechtliche Vorsorge von 190 Mrd. Euro übersteigt. Dies ist zweitens der Fall, wenn ein erhöhter Kapitalabruf zur Verlustdeckung erfolgt, mit dem die Nichterfüllung der Zahlungspflicht eines anderen ESM-Mitglieds ausgeglichen wird. Deutschland hat in diesen Fällen kein oder jedenfalls kein abschließendes Vetorecht, da einerseits Streitigkeiten über den Bestand von Zahlungspflichten in letzter Instanz vom EuGH entschieden werden und andererseits mit dem bestimmungsgemäßen Eintritt weiterer Staaten zur Eurozone der deutsche Kapitalanteil am ESM absinken wird, wodurch sich die Sperrminorität in Luft auflöst. Ökonomisch bringt der ESM die Haftungsunion.

Deutschland haftet für immer neue Programme

Hinter dieser meiner Einschätzung aus dem Jahr 2012 stehe ich bis heute. Längst sind zum ESM neue Formen der vergemeinschafteten Haftung innerhalb Europas hinzugekommen, sei es durch das neue europäische Kurzarbeitergeld SURE oder durch das 750 Mrd. Euro schwere Transferprogramm Next-Generation-EU. Trotz dieser bereits jetzt toxischen Mischung aus alten und neueren Haftungsverbindlichkeiten, hat der Deutsche Bundestag heute mit dem Gesetz zu dem Übereinkommen vom 27. Januar 2021 und vom 8. Februar 2021 zur Änderung des Vertrags vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMVertragsG) und dem Zweiten Gesetz zur Änderung des ESM-Finanzierungsgesetzes (ESM-FinanzierungsG) den Weg für eine Reform des ESM freigemacht. Und wie 2012 habe ich konsequenterweise dagegen gestimmt.
Jetzt mögen einige sicher einwenden, diese Reform sei ein Erfolg, da ja die Entstehung eines Europäischen Währungsfonds (EWF) zumindest vorerst abgewehrt wurde. Doch muss man etwa auch schlechte Lösungen beklatschen, nur weil durch sie die schlechteste Alternative abgewendet wurde? Ich glaube nicht. Auch so hat es die angestrebte Änderung in sich. Entsprechend vernichtend fiel darum auch ein diesbezügliches Gutachten des Bundesrechnungshofes aus.

Die Reform sieht zwei wesentliche Neuerungen vor, die Weiterentwicklung der vorsorglichen Finanzhilfe und die Einführung einer Letztsicherung für den europäischen Bankenabwicklungsfonds (SRF).

EU-Verfahren gegen Deutschland
Brüssel will die totale Unterwerfung der Mitgliedstaaten
Einerseits soll das Instrument der vorsorglichen Finanzhilfe weiterentwickelt werden. Mitgliedstaaten mit grundsätzlich „gesunden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ sollen, z. B. im Falle eines exogenen Schocks, künftig einfacher auf die vorsorglich bedingte Kreditlinie zugreifen können. Hierzu soll bei diesem Instrument auf die bislang vorgesehene Vereinbarung eines Memorandum of Understanding verzichtet werden. Im Gegenzug sollen einige Zugangskriterien präzisiert werden. Dass fiskalisch und wirtschaftlich solide Mitgliedstaaten selbst im Falle eines solchen exogenen Schocks vorsorglicher Finanzhilfen bedürfen, erscheint höchst abwegig. Viel eher besteht die Gefahr, dass die Zugangskriterien hier insgesamt aufgeweicht werden. Dies könnte für Mitgliedstaaten mit einem strukturellen Defizit und einer unsoliden Haushaltsführung die Möglichkeit eröffnen, auf dieses Instrument zuzugreifen. So würde sich diesen Krisenstaaten ein deutlich leichterer Weg gegenüber dem vollständigen Programm eröffnen, da der Druck zur Umsetzung struktureller Reformmaßnahmen grundsätzlich entfiele.

Ferner soll der ESM die Letztsicherung für den gemeinsamen europäischen Bankenabwicklungsfonds (SRF) übernehmen. Dadurch wird allerdings die Haftung für Risiken im europäischen Bankensektor auf Ebene der öffentlichen Mittel vergemeinschaftet, was zweifelsohne Fehlanreizen Vorschub leistet und die finanziellen Ressourcen des ESM überstrapazieren könnte. Der ESM liefe dann Gefahr zu einem Bankenrettungsmechanismus zu verkommen. Monte Dei Paschi di Siena und Co aus Italien lassen das Schlimmste befürchten. Zwar soll das ESM-Direktorium über den Einsatz dieser Letztsicherung im Einzelfall entscheiden, wobei jeweils auch die einzelnen nationalen verfassungsrechtlichen Anforderungen der Mitgliedstaaten zu wahren sind. Allerdings beträgt die Entscheidungsfrist für das ESM-Direktorium in der Regel nur zwölf Stunden, wodurch die in Deutschland vorgesehene parlamentarische Befassung zwangsläufig zum nachträglichen Formakt degradiert wird.

Immer neue und noch höhere Risiken für Deutschland

Diese Änderungen bergen das Risiko, dass die Ressourcen des ESM stärker beansprucht werden und das Volumen der möglichen Ausfälle dramatisch zunimmt. Vor diesem Hintergrund ist darum ein höheres Verlustrisiko beim ESM zu befürchten, wodurch eine Erhöhung des Stammkapitals notwendig werden könnte. Dies würde eine Ausweitung der Haftung Deutschlands über die vereinbarten 190 Mrd. Euro hinaus bedeuten. Zwar wäre dafür prinzipiell die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderlich. Deutschland könnte sich dem jedoch unter Umständen nicht entziehen, z. B. wenn die neue Aufgabe des ESM als Letztsicherung finanziell glaubwürdig zu unterlegen ist.

Zusätzliche Belastungen für den Bundeshaushalt wären die Folge. Insgesamt ergeben sich aus der anstehenden ESM-Reform daher erhebliche neue Risiken für den Bundeshaushalt. Darum bedeutet die Reform durch den ESM nur eines: mehr Haftungsrisiken für den deutschen Steuerzahler und weniger Kontrollmöglichkeiten für unser Parlament.

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