Recep Tayyip Erdogan hatte stets ein Doppelgesicht. Einerseits war er ein Reformer, der die Türkei für Investoren öffnete und modernisierte. Andererseits war er aber immer auch ein Islamist – nur wollten das im Westen viele gerne ignorieren. Als Jung-Politiker zitierte Erdogan das berüchtigte Gedicht von Moscheen als Kasernen und Minaretten als Bajonetten. Die Demokratie bezeichnete er als „Zug“, mit dem er zur Macht fahre. Er machte damit klar, dass die Demokratie für ihn nur ein Mittel zum Zweck der Machtergreifung war.
In den ersten Jahren nach seiner Regierungsübernahme 2003 lief es gut. Ministerpräsident Erdogan schaffte ein wirtschaftsfreundliches Klima und führte das Land nach der schweren Schulden- und Inflationskrise von 2001 auf einen kräftigen Wachstumskurs. Die Türken waren begeistert. Erdogans islamische AKP-Partei – in deren Signet eine Glühbirne leuchtet – hat das Land tatsächlich modernisiert, Infrastruktur in die entlegenen anatolischen Provinzen gebracht. Die Wirtschaft wuchs mehrere Jahre lang mit mehr als zehn Prozent.
Doch der Erfolg stieg Erdogan zu Kopf, er wurde langsam größenwahnsinnig. Zeitgleich mit dem wirtschaftlichen Aufstieg vergaß er nie seine islamische Agenda: Kopftücher an Universitäten, Alkoholverbote, der Ausbau der islamischen Prediger-Schulen – all das ging schleichend voran. Das kemalistische Militär wurde mehr und mehr entmachtet, damit war der Weg frei für eine dauerhafte Zementierung der AKP- und Erdogan-Macht.
Hierzulande trat Erdogan zunehmend fordernd, aggressiv und unverschämt auf, nicht nur wenn er „Deutsch-Türken” in scharfen Worten vor „Assimilation“ warnte („ein Menschenrechtsverbrechen“), sondern vergangenes Jahr die Bundesrepublik auch als Nazi-Reich diffamierte, weil man ihm und seinen Ministern keinen Wahlkampf in deutschen Städten erlaubte. In den fünfzehn Jahren Erdogan-Herrschaft hat sich der Stand der Integration der hier lebenden Türkei verschlechtert.
Seit dem Putsch-Versuch vom Juli 2016 hat Erdogan vollends die Maske fallen lassen und agiert wie ein Autokrat, der das Land von politischen Gegnern säubert und dabei die Demokratie zerstört. Hunderttausende Verhaftungen und Entlassungen aus dem Staatsdienst gab es. Erdogan selbst bezeichnete den Putschversuch als „Gottesgeschenk“ – denn endlich habe er nun die Gelegenheit, gründlich aufzuräumen mit allen Gegnern und Konkurrenten, zuvörderst mit den Anhängern seines einstigen islamistischen Weggefährten Fethullah Gülen. Militär, Polizei, Justiz, Universitäten und Medien: Alles hat Erdogan gnadenlos „gesäubert“. Die Türkei ist faktisch eine Diktatur geworden.
Nun aber ist Erdogan selbst in die Klemme geraten. Seit einem halben Jahr rutscht die Währung ab, weil die Türkei die Inflation nicht in den Griff bekommt. Die Inflationsrate liegt bei mehr als 15 Prozent – das ist dreimal so viel, wie die Zentralbank anstrebt. Aber Erdogan will keine Zinserhöhung, die nötig wäre, um die Inflation zu bremsen.
Erdogan meint, niedrigere Zinsen (!) seien die richtige Antwort. Das ist in etwa so, wie wenn ein Arzt einem Fieberkranken einen Saunabesuch empfiehlt.
Erdogan sucht in bewährter Manier nach Sündenböcken und hat wieder einmal die gute alte „internationale Zinslobby“ als Schuldigen hervorgeholt. Mit „Zinslobby“ sind natürlich die Juden gemeint, das ist in der islamischen Welt sonnenklar. Einige Erdogan-Minister haben sich explizit antisemitisch geäußert. Erdogan, der mit seiner neo-osmanischen Außenpolitik weit in den Nahen Osten ausgreift, hat sich als beinharter Israel-Gegner positioniert und mit der israelfreundlichen Außenpolitik kemalistischer Politiker gebrochen.
Nun riskiert Erdogan sogar den Bruch mit der Nato und Amerika. „Ihr habt den Dollar, wir haben Allah“, donnerte Staatschef Erdogan den Finanzmärkten entgegen und forderte seine Anhänger auf, Dollar zu verkaufen und Lira zu kaufen, um die türkische Währung zu stützen. Das nutzte überhaupt nichts. Solange Erdogan der Zentralbank keine Zinserhöhung erlaubt, bleibt die Lira-Schwäche.
Erdogan dürfte seine Macht bei weitem überschätzen. Gegen die ökonomischen Gesetze helfen keine islamischen Beschwörungen, Drohungen oder Poltereien. Er rast in ein wirtschaftlich-finanzielles Desaster. Fünfzehn Jahre nach seinem Machtantritt hat er den Bogen überspannt.
Der Fallout eines Türkei-Crashs wird auch in Europa zu spüren sein, wo viele Banken – vor allem spanische, französische und italienische – große türkische Kreditpakete in ihren Büchern haben. Auch deshalb ist man in Europa nervös. Und nicht zuletzt wegen Erdogans Rolle als „Schleusenwärter“, der den Strom syrischer und nahöstlicher Flüchtlinge und Migranten auf- und zudrehen kann. Merkel ist hier abhängig von ihm.
Wenn Erdogan Ende September zum Staatsbesuch nach Berlin kommt und ihm dort der rote Teppich ausgerollt wird, können alle sehen, wie die deutsche Politik auf ihn reagiert – unterwürfig trotz all der vorangegangenen Beschimpfungen.
Robert Mühlbauer ist Ökonom und Publizist.