Seit einigen Jahren beschäftigen sich die Museen in Deutschland, vor allem die staatlichen Museen, verstärkt mit den Themen „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Raubgut“ (so der korrekte Fachterminus) und „koloniales Raubgut“. Es geht darum, Objekte in den Sammlungen zu identifizieren, bei denen ein entsprechender Verdacht besteht, die diesbezüglichen Provenienzen zu prüfen und ggf. Rückgabeverfahren einzuleiten. Das ist Bestandteil der wissenschaftlichen Tätigkeiten im Museumsbetrieb.
In letzter Zeit erfährt diese Provenienzforschung eine Erweiterung unter dem ideologischen Kampfbegriff der „Dekolonisierung des Museums“. Besondere Aufmerksamkeit erhält das Thema im Zusammenhang mit der Diskussion um die konzeptuelle Ausrichtung des Humboldt-Forums in Berlin, das mit seiner sogenannten multiperspektivischen Ausrichtung als eine Art Flaggschiff der bundesrepublikanischen Kulturpolitik fungieren soll. Ausgehend von der Frage des Umgangs mit „kolonialem Raubgut“ wird das Thema nun für handfeste politische Einflussnahme instrumentalisiert. Die alte und neue Kulturstaatsministerin Monika Grütters führt das Wort der Dekolonisierung in ihren Reden und Interviews häufig und gerne im Munde. Es werden entsprechende Programme aufgelegt, Stellen ausgeschrieben, Tagungen abgehalten und öffentlichkeitswirksam in den Medien darüber berichtet (1). Was verbirgt sich dahinter? Wer sind die Träger dieser Diskussion und worauf zielt sie ab?
Aufschlussreich ist ein Beitrag im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 6. Februar 2018, in dem die Kunstkritikerin Catrin Lorch ein Interview mit Matthias Mühling und Yilmaz Dziewior führt, die als Direktoren mit dem Münchner Lenbachhaus und dem Kölner Museum Ludwig zwei renommierten deutschen Sammlungen vorstehen. (2) Es lohnt sich, einmal genauer hinzuschauen, was hier unter der zunächst etwas befremdlichen Überschrift „Agenten einer neuen Zeit“ als „zeitgemäße Ethik“ propagiert wird.
Lorch leitet das Interview mit einem Statement ein: „Das Museum ist in der Krise. Die alte Autorität als Hochkultur-Tempel ist dahin, seit die öffentliche Diskussion sich nicht mehr nur für Meisterwerke interessiert, sondern auch laut Fragen stellt nach dem Umgang mit Raubkunst, nach dem Geschlecht und der Herkunft der Künstler, die gesammelt und ausgestellt werden.“ Schon hier stellen sich Fragen: Wer führt diese angebliche öffentliche Diskussion? Das Publikum, das die Museen besucht? Eher nicht, sondern einige Geisteswissenschaftler und Kunstkritiker. Und was verbindet die genannten drei Dinge eigentlich miteinander, also der Umgang mit Raubkunst, das biologische Geschlecht der Künstler und die geographische Herkunft der Künstler? Inhaltlich haben sie zunächst nichts miteinander zu tun – gemeinsam haben sie allerdings die Vereinnahmung durch eine kulturpolitische Ideologie, die unter den Aspekten der sogenannten Political Correctness, des Gender Mainstreamings und des Diversitäts-Prinzips agiert.
In ihrem Eingangsstatement behauptet Lorch, die von ihr angeführte öffentliche Diskussion frage „nach der Substanz eines abendländischen Kunstbegriffes“ und stellt anschließend überrascht fest: „Gleichzeitig besuchen so viele Menschen Ausstellungen wie nie zuvor“. Ist das der Ausdruck einer Krise? Wohl kaum, sondern vielmehr ein Beleg dafür, wie abgehoben diese Debatte von den Wünschen und Erwartungen eines Großteils des Publikums ist, das vielmehr erwartet, in den Museen fundiert und allgemeinverständlich über kulturhistorische Zusammenhänge informiert zu werden. Die „Dekolonisierung des Museums“ als angebliche „Antwort einer jungen Generation von Museumsdirektoren auf die aktuellen Debatten“ und Ausdruck eines „neuen Selbstverständnisses“ ist dagegen ein elitärer Diskurs einer kleinen Minderheit mit einer vorgeblich progressiven ideologischen Ausrichtung. Dies zeigt sich in den folgenden Interviewäußerungen der beiden Kunsthistoriker.
Natürlich hat Matthias Mühling Recht, wenn er eingangs darauf hinweist, dass die Museen die Ererbungszusammenhänge und die Geschichte der Häuser erforschen und präsentieren müssen – das ist wie schon erwähnt gängige Praxis. Was aber verstehen die beiden Direktoren unter der „Dekolonisierung des Museums“? Yilmaz Dziewior stellt dazu fest, es gehe darum, „die Hierarchien zwischen den Kulturen zu erkennen“ und „dem Publikum bewusst zu machen, dass es nicht nur eine [Hervorhebung des Autors] Geschichte der Kunst gibt“. Auch das ist banal und seit Jahrzehnten gängige Praxis in der Museumsvermittlung. Bemerkenswerter ist schon, was Matthias Mühling unter der Prämisse, mit der Kunst „Demokratie zu verwirklichen“, fordert: „Wir müssen uns auf jeder Ebene dekolonisieren, in den Arbeitsverhältnissen, im Hinblick darauf, wer bei uns Programm gestaltet, darin, wie wir Hierarchien aufbauen, woher die Werke kommen, bei welchen Galerien die gekauft werden.“ Yilmaz Dziewior ergänzt, es gehe bei der „Dekolonisierung des Museums“ darum, den Kanon „grundsätzlich infrage zu stellen“. Dann wird er konkret: Die Bundeskulturstiftung finanziere im Rahmen des Projektes „360 Grad“ dem von ihm geleiteten Museum Ludwig eine „Agentin“, die auf der Leitungsebene des Museum angesiedelt werde und vier Jahre lang das Museum, sein Programm und die Kuratoren im Sinne des Diversitätskonzeptes kritisch hinterfragen werde.
Hier lohnt ein Blick auf das angesprochene Förderprogramm: es handelt sich bei den „360 Grad-Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ um ein Projekt der Kulturstiftung der Länder mit dem Ziel der Förderung der „diversitätsorientierten Öffnung von Kultureinrichtungen“ oder der „Diversität in Kulturinstitutionen und Change-Management“. Was hier mit der üblichen neuen Funktionärsrhetorik daherkommt, ist eine Ausweitung des sogenannten Gender Mainstreaming Konzeptes und meint nichts anderes, als das angeblich unterdrückte Minderheiten (gemeint sind vor allem Frauen, Behinderte, Menschen mit nichtheterosexueller Ausrichtung sowie Menschen mit Migrationshintergrund) auf allen Ebenen in alle inhaltlichen und administrativen Entscheidungen eingebunden werden sollen. Als Figur des Unterdrückers fungiert in diesem auf Interessengruppen basierenden Weltbild der mittlerweile sprichwörtliche alte weiße heterosexuelle deutsche Mann.
Das Förderkonzept beruht auf der Institution der sogenannten Agenten. Auf der offiziellen Homepage des Projektes heißt es zum Profil dieser Agenten: „Gemeinsam mit der Institution soll der/die Agent/in über einen Zeitraum von bis zu vier Jahren Vorschläge und Maßnahmen erarbeiten, wie sich die Institutionen diversifizieren und einen Beitrag zu einer selbstbewussten, Einwanderern gegenüber offenen Gesellschaft so gestalten können, dass die Stadtgesellschaft davon profitiert. Die Agenten sind Personen mit Diversitätskompetenz, Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Akteur / innen aus Einwandererfamilien und relevanten Sprachkenntnissen.“
Nun erklärt sich auch die zunächst etwas kryptische Überschrift des Beitrags in der SZ: Diese „Agenten“ sind es also, die die Museen in die „neue Zeit“ führen sollen.(3) Bereits 2017 wurden in der ersten Runde des Programms 17 Kultureinrichtungen mit Mitteln in Höhe von rund 6 Millionen Euro gefördert. Die Bewerbungsfrist für die zweite Runde läuft noch bis Ende Juni 2018. Die über die Projekte entscheidende Jury wird am 16. Oktober 2018 in einer Auswahlsitzung über die Anträge der zweiten Ausschreibungsrunde beraten. Die Jury setzt sich aus fünf Frauen und einem Mann zusammen, überwiegend Kulturschaffende mit Bezug zur Migrationsthematik. Getragen wird das Konzept mit Mitteln der Kulturstiftung der Länder unter Leitung von Monika Grütters, die als Kulturstaatsministerin direkt der Bundeskanzlerin zugeordnet ist.
Zurück zum Interview in der SZ vom 6. Februar 2018: Matthias Mühling, der bisher offenbar keine 360-Grad-Agentin hat, die ihm zur Umsetzung des Vierjahresplanes auf die Finger schaut, verweist als freiwillige Selbstverpflichtung auf das hausinterne Konzept des Lenbachhauses, wonach in Mitarbeiterrunden „jeder Mitarbeiter zu allen Fragen eine Meinung äußern soll“ sowie Änderungen in der Museumshierarchie, in deren Folge die Mitarbeiter der Vermittlungsabteilung genau so viel verdienen wie die Kuratoren und ein Mitspracherecht bei der Festlegung des Programms erhalten haben; schließlich auf die „andere Form des Miteinanders“: „Und jeder von uns muss einmal an der Garderobe gestanden haben.“
Worum es in letzter Konsequenz geht, wird deutlich, wenn Mühling ausführt, dass die Museen in ihrer Wirkung „vor allem Menschen mit hoher Bildung und deutschem Hintergrund erreichen“, während sich die Gesellschaft doch so verändere, dass „in München (…) bei den unter 25-Jährigen die Deutschen ohne Migrationshintergrund schon in der Minderheit“ seien. Yilmaz Dziewior ergänzt für Köln, dass man deutlich machen wolle, dass das Museum auch der dortigen großen türkischen Population gehöre, „die ja auch Steuern zahlt“, weshalb der Ankauf und die Ausstellung von Werken türkischer Künstler umgesetzt würden. Matthias Mühling sieht darin sowohl „Symbolpolitik“ als auch „die Reparatur der Kunstgeschichte“. Dann bringt er das Thema Stellenbesetzungen an den Institutionen mit dem Thema Diskriminierung in Zusammenhang und konstatiert für das Münchner Lenbachhaus: „Alle unsere Wissenschaftlerinnen sind weiße Europäerinnen und haben eine ähnliche Sozialisation, die für die Gesamtbevölkerung nicht mehr repräsentativ ist“ und schlussfolgert: „… eigentlich müssten sowieso schon ganz andere Menschen bei uns arbeiten, aber wenn überhaupt, reißen sie unsere Eintrittskarten ab, reinigen unsere Toiletten oder hängen die Mäntel auf.“
Der Leser ist irritiert, denn sitzt nicht neben Mühling der Direktor eines renommierten deutschen Museums, der einen offenkundigen Migrationshintergrund hat? Oder gilt diese angebliche Diskriminierung nur für die städtische Münchner Institution? Oder ist es vielleicht gar keine Diskriminierung, sondern es gibt nur weniger qualifizierte Kunsthistoriker mit Migrationshintergrund als ohne? Aber die Stoßrichtung ist klar, und Yilmaz Dziewior erläutert am Beispiel einer weiteren Förderstelle am Museum Ludwig (in diesem Falle finanziert von der Terra-Foundation for American Art) in Bezug auf die amerikanische Sammlung des Museums, dass es „um die Neubewertung einer bisher minorisierten Kunstgeschichte“ gehe, indem das Museum Ludwig ja „vor allem Kunst von weißen, heterosexuellen, männlichen Amerikanern“ besitze.(4) Die Argumentation Dziewiors ist kaum nachvollziehbar, indem er anschließend ein ganze Reihe bekannter amerikanischer Künstler mit offen homosexueller Neigung anführt, die im Museum Ludwig prominent vertreten sind, und sich dann zu der Behauptung versteigt, „dass in der Kunstgeschichte beispielsweise das unterdrückte sexuelle Begehren nicht abgebildet ist“.
In einer kurzen Replik unter dem Titel „Museum Ludwig hängt um: Aktion saubere Wand“ hat Patrick Bahners bereits am 7. Februar in der FAZ darauf hingewiesen, dass aus diesen kruden Aussagen vor allem eines deutlich hervorscheint: die Anbiederung an die Political Correctness-Prüderie des sogenannten Diversitäts-Diskurses.(5) Gerne würde man mal eine Besucherbefragung in beiden Museen durchführen, um zu erfahren, ob die Mehrzahl der Besucher diese beiden Häuser aufgrund der angeblich innovativen Konzepte der beiden Direktoren schätzt oder aufgrund der Qualität der Sammlungen, die von deren Vorgängern und den Sammlern angelegt wurden – und die es jetzt zu „dekolonisieren“ gilt!
Man darf sich das schon einmal vor Augen führen: Hier räsonieren in einer großen deutschen Tageszeitung zwei Museumdirektoren renommierter deutscher Sammlungen darüber, dass ihre Wissenschaftlerinnen – Männer sind offenbar Gott sei Dank schon einmal nicht darunter – alle weiße Europäerinnen seien, die die Gesellschaft nicht repräsentierten, sondern es müssten „sowieso schon ganz andere Menschen bei uns arbeiten“. Diese Aussage wird dann mit dem Thema „Diskriminierungserfahrung“ verbunden – gemeint sind offenbar die Selbstversuche des Direktors Mühling an der Garderobe (?): „Mir wird häufig vorgeworfen, dass ich Diskriminierungserfahrung wichtig finde, dass man versteht, was es bedeutet, wenn man außerhalb des Systems steht, obwohl man keine Minderheit ist.“ Letztlich darf man bezweifeln, dass sich hinter solchen Aussagen mehr verbirgt als eine opportunistische Diskursrhetorik – ansonsten könnte der Gedanke eines Rollentausches zwischen Direktor und Garderobiere einen ganz neuen Reiz gewinnen. Wer sich allerdings aus Überzeugung oder Opportunismus vor den Karren des politischen Konzepts der Diversität oder Dekolonisierung spannen lässt, der bringt die Unabhängigkeit und das wissenschaftliche Ethos der Institution Museum in Gefahr.
(1) Wer sich beispielsweise auf Tagungen zum Thema Dekolonisierung und Diversifizierung der Museen informieren möchte, der kann aktuell in Deutschland zwischen folgenden Veranstaltungen wählen: „MIRROR ME – Bildproduktionen kultureller Vielfalt im Museum“, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig 16. April 2018; “Eine Frage der Haltung. Welche Werte vertreten Museen?”, Jahrestagung des Deutschen Museumsbundes in Bremen 7./8. Mai; „Politics of Natural History, or: How to Decolonize the Natural History Museum“, Technische Universität Berlin 6./7. September 2018.
(2) „Agenten einer neuen Zeit. Immer mehr Museen suchen nach einer zeitgenössischen Ethik. Sie legen die Ankaufspraxis offen, begrenzen die Macht der Kuratoren und holen Leute in ihre Häuser, die sonst nicht kommen. Ein Gespräch mit den Direktoren Matthias Mühling und Yilmaz Dziewor“, Süddeutsche Zeitung, 6. Februar 2018, S. 10.
(3) Einigen Beteiligten scheint aufgefallen zu sein, dass der Begriff des Agenten einen seltsamen Beigeschmack von Konspiration und Verrat hat. Und so tituliert etwa die Kunsthalle Bremen in ihrer Stellenausschreibung (Bewerbungsschluss 6. April 2018) den ab Juni 2018 gesuchten „Agenten“ lieber als „Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in für gesellschaftliche Vielfalt“ bzw. „Research Associate for Diversity“.
(4) Die entsprechende Stellenausschreibung (Bewerbungsschluss 11. April 2018) verdeutlicht das Stellenprofil mit folgender Beschreibung: „Der Fokus der wissenschaftlichen Arbeit soll auf Fragestellungen der Postcolonial/Gender/Queer Studies liegen.“
(5) Patrick Bahners: „Museum Ludwig hängt um: Aktion saubere Wand“, FAZ 7. Februar 2018
Dr. Harald Schulze ist Archäologe und Museumskurator.