Das Bundesverfassungsgericht rügte mit Urteil vom 5.5.2020 Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB), die mit ihrem Großankauf von Anleihen stockende Märkte und Staatseinnahmen zu reanimieren versuchte. Das Verdikt des deutschen Gerichts erregte viel Aufsehen in der Presse. Es inspirierte zu engagierten Stellungnahmen ausgewiesener Experten und manch Anderer, die zwischen Zustimmung über kritischer Distanz und Ablehnung bis zum Katastrophenalarm um Europas Einheit rangierten. Dies breit gefächerte Interesse ist umso bemerkenswerter, als es beim publizierten Thema um einen kaum messbaren, wenn nicht gar spekulativen Hoheitsakt aus der komplizierten Konvergenz europäischer (ESZB, EZB und EuGH) und nationaler (Bundestag, Bundesministerien und BVerfG) Schaltstellen geht.
Tatsächlich gilt die öffentliche Erregung kaum dem finanz- und wirtschaftspolitischen Klagegegenstand selbst. Sie entzündet sich vielmehr an einem Eklat über innereuropäische Fehlentwicklungen, die sich seit vielen Jahren immer deutlicher abzeichneten. In Deutschland fanden sie erstmals zaghaft Ausdruck im Sommer 2009, als das Bundesverfassungsgericht (im Urteil vom 30.6., BvR 182/09, zum Vertrag von Lissabon) dem Bundestag eine nachträgliche Aufbesserung seiner Beteiligungsrechte gebot.
Nun offenbarte das jüngste Urteil eine elementare Spannung zwischen Rechtsfindungen aus Karlsruhe und Gerichtshof der EU (EuGH) zu dessen Urteil in gleicher Sache vom 11.12.2018. Kritische Beiträge in den Tageszeitungen drehten sich überwiegend um die Sorge, es beschädige der Richterspruch aus Karlsruhe (zu EZB-Massnahmen) das europäische Einigungswerk im Ganzen, ermutige nationalstaatliche Eigenmächtigkeiten (wie in Polen und Ungarn) und missachte bündnistreue Loyalität.
Historische Schwäche des neuen Karlsruher Urteils ist aber nun, dass es inhaltlich zwar richtig, aber rund zwanzig Jahre zu spät kam:
Die Akteure der europäischen Einigung hatten nach der „Wende“ um 1990 nicht verstanden, dass sie in Festigung, Glaubwürdigkeit und Lebensfähigkeit der Völkergemeinschaft neu und anders gefordert wurden als in der Phase der Gründung, des Aufbaus und der Erweiterung. Dazu bedurfte es nicht eines „Paradigmenwechsels“ sondern einer – längst schon überfälligen – Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn und die Kernaufgabe in der Zusammenführung europäischer Staatsordnungen. Um die zu finden, hätte eine – wenn auch kritisch wache – Lektüre des jetzt geltenden Vertrags über die Europäische Union (EUV vom 13.12.2007 in Lissabon) geholfen.
Auch dem Dissens zwischen Luxemburger und Karlsruher Urteil kommt man nur über diesen Vertrag auf die Spur. Dazu gehört u.a. die grundlegende Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 EUV), dass Richter ausschliesslich jeweils bestehendes Recht anwenden und nicht neues machen. Diese rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit verbietet auch dynamisierende Deutungen und Auslegungen vorliegender Normen im Sinne „der Schaffung einer immer engeren Union“ (EUV Präambel) oder erweiterter Zuständigkeit zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele (lt. Art. 1 S. 1 EUV). Bräuchte es dazu weiterer Unionszuständigkeit, ginge das nur durch beauftragende Rechtsetzung, und somit Vertragsänderung, jedoch keinesfalls durch Rechtsprechung oder gar durch exekutive Anmaßung. Die Union mit all ihren Organen „verfolgt ihre Ziele mit … den Zuständigkeiten, die ihr übertragen sind“ (Art. 3 Abs. 6 EUV) und nicht mit denen, die sie sich wünschen oder für nützlich halten.
Die Europäische Union ist nach wie vor ein Staatenbund. Jedwede Hoheitsgewalt mit aller rechtsetzenden Macht leitet sie ab aus demokratischer Legitimation ihrer Mitgliedsstaaten (Art. 1 S. 1 EUV). Nun sehen manche Kritiker im Karlsruher Urteil die „Höherrangigkeit des europäischen Rechts“ gegenüber dem nationalen bedroht (u.a. D.v. Kyaw, FAZ vom 12.5.20). Solche Überhöhung aus abgeleiteter Ermächtigung kann es schon begrifflich nicht geben. Sie gab es selbstbemächtigend auch nie in der politischen Einigung, ebenso wenig aus völkerrechtlichem Brauchtum (i.S. Art. 24 u. 25 GG) oder durch historische Werdegänge („Faktizitäten“). Einzige Quelle hoheitlicher Gewalt, die EU-Organe grenzüberschreitend ausüben sollen und dürfen, sind die gemeinsamen Verträge der Mitgliedsstaaten. Die waren jeweils ihrerseits, wie sie glaubhaft belegten, rechtsstaatlich-demokratisch zu solch hoheitlichem Handeln legitimiert, wie sie es den gemeinschaftlichen Organen anvertrauten.
Aus dieser Feststellung ergibt sich Klärungsbedarf sowohl zum EuGH-Urteil vom 11.12.2018 wie zum BVerfG-Urteil vom 5.5.2020:
Originäres Recht zur Ausübung hoheitlicher Befugnisse haben innerhalb der EU allein die Mitgliedsstaaten. Nur auf und aus ihnen konnten (dazu gebildete) gemeinschaftliche Organe hoheitlich tätig werden. Und sie sollten und durften das nur innerhalb des Rahmens von Zuständigkeiten und Befugnissen, die ihnen zuvor übertragen wurden, sei es vertraglich generell oder durch „Einzelermächtigungen“ gem. Art. 5 Abs. 1 EUV. In dieser übertragenen Wahrnehmung sind sie zusätzlich in die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingebunden (Art. 5 Abs. 1). Handelt ein gemeinschaftlich dienendes Organ außerhalb seiner ihm expressis verbis übertragenen Zuständigkeit („Ermächtigung“), handelt es nicht nur unfair oder übertrieben, sondern gänzlich ohne Rechtsgrundlage, im wörtlichen Sinne Boden-los, rechtlos.
Insoweit scheinen EuGH und BVerfG durchaus eins zu sein. Offenbar aber nicht über eins sind ihre Schlussfolgerungen.
Wenn der EuGH festhält, dass die EZB (in der Eurozone) für die Währungspolitik „eine ausschließliche Zuständigkeit“ habe, hätte er seiner Pressemitteilung wenigstens hinzufügen müssen, dass die EZB außerhalb ihres Auftrags überhaupt keine Zuständigkeit hat, und folglich auch der EuGH keine Grundlage für seine Rechtssprechung. Deshalb sollte, wo bei Maßnahmen der EZB (als dienendem EU-Organ) Überlappungen mit verbliebenen Zuständigkeitsbereichen außerhalb drohen, „im Einklang mit der europäischen Integrationsidee“ kooperativ ausgeglichen werden. Auch in Streitfällen sind weder die Union als Ganzes noch ihr Gerichtshof zuständig, die Reichweite ihrer Zuständigkeiten zu bestimmen. Sie haben lediglich mit ihrer Pflicht auch das Recht, ihre Zuständigkeiten wahrzunehmen und gegebenenfalls zu verteidigen. Eine Kompetenz-Kompetenz haben sie nicht und können sie auch – in ihrer bleibend dienenden Funktion – nicht erhalten: Demokratische Rechtsstaatlichkeit schließt ein hoheitliches Recht zur Selbstentmündigung aus, auch bei Mitgliedstaaten.
Vor diesem Hintergrund alarmiert das EuGH-Urteil (11.12.2018). Es begnügt sich mit dem Statement, dass das EZB-Programm „nicht gegen Unionsrecht“ verstoße, denn es ginge „nicht über das Mandat der EZB hinaus …“. In seiner Begründung sieht es zwar durchaus mögliche Kollisionen mit anderen (außergemeinschaftlichen) Verantwortlichkeiten. Aber aus ihm vorliegenden „Angaben“ und mangels ihm „offensichtlicher Erkenntnis“ verweigert es ihnen Relevanz. Eigene Ermittlungen lässt es nicht erkennen. Statt dessen vermittelt das Urteil den Eindruck, als ob Funktionsträger der Union voll umfänglich rechtmäßig schon handelten, wenn sie rechtmäßig eingesetzt sind. Nach diesem Muster wäre es allein Sache der EZB, das von ihr dogmatisierte „währungspolitische“ Ziel der „Inflationsrate von nahezu
2 %“ auch durch beliebig andere Maßnahmen zu erreichen, wie beispielsweise durch quotenmäßige Verkaufsverbote für Artikel des täglichen Lebensbedarfs. Der prozedurale Ansatz des EuGH bekräftigt ein gewachsenes parareligiöses Selbstverständnis in den Unionsorganen, wonach sie die anvertrauten Aufgabenfelder in selbst induzierter Dynamik auslegen, anpassen und abrunden dürften, dienstlich tugendhaft vorauseilend einem hehren Ziel „der Verwirklichung einer immer engeren Union“. Dieses Selbstmissverständnis wurde treibender Impuls zur gegenwärtigen Strukturkrise der Union.
Aus der Luxemburger Perspektive war wohl nicht zu erwarten, dass Zweckmässigkeit und Wirkkraft der debattierten EZB-Maßnahme hinterfragt würden. Sie war immerhin bereits 2015 befristet eingeführt und wurde seither mangels Erfolgs fünfmal angepasst und verlängert, noch immer ohne gewünschten Erfolg, nun aber als bleibende Dauereinrichtung, vermutlich zur Vermeidung eines währungspolitischen Rohrkrepierers.
Anders als der EuGH zieht das BVerfG (im Urteil vom 5.5.2020) seine Schlussfolgerungen aus den konstitutiven Grenzen der hoheitlichen Ermächtigungen, die Mitgliedsstaaten den EU-Einrichtungen aufgetragen hatten (Art. 5 Abs. 1 u. 2 EUV). Den Kritikern des BVerfG-Urteils sei hinzugefügt, dass auch diese gerichtliche Befugnis von den Mitgliedsstaaten abgeleitet ist, und dass sie somit – als dem EuGH anvertraute Verantwortung – die fortbestehende Souveränität der Mitgliedsstaaten lediglich überlagert und keinesfalls beseitigt. Gerade deshalb wäre es selbstverständlich erste Pflicht des EuGH gewesen, die vertraglich sachbezogene Reichweite seiner abgeleiteten judikativen Ermächtigung schlüssig zu belegen.
Das BVerfG-Urteil vom 5.5.2020 entblößte wie jähes Flashlight die diffuse Unrast, in der die Europäer nach Jahrzehnten unbewältigter Expansion gestrandet waren. Nach ersten Spatenstichen in zerbombte Böden, mit innovativen Planungen unter Nachkriegsbedingungen und in unternehmerischer Pionierarbeit entstand ein häufig modifizierter, oft umgeplanter, sehr viel größerer und gleichwohl unfertiger Koloss, der nicht mehr aufbricht oder entwirft oder errichtet: Er ist vollauf gefordert, das Geschaffene zu erhalten, seine Dienste zu erfüllen und sich zu konsolidieren. Zugleich hat er auch noch mit seinen Konstruktionsfehlern, seinen Materialermüdungen und mit sich selbst fertig zu werden. All dies geschieht in gänzlich veränderten Umweltverhältnissen, technologischen Fortschritten, politischen Bedrängungen und – vor allem – ernüchterten menschlichen Erwartungen. Heute braucht Europa für sich selbst nicht mehr Visionäre, Architekten, Bauhandwerker und Himmelsstürmer. Es braucht gewissenhafte Haushälter, aufmerksame Betreuer, Heiler und demokratisch sich verantwortende Realisten.
In meiner wachsenden Sorge um Europas Einheit beteiligte ich mich vor über zehn Jahren an einer Beschwerde beim BVerfG gegen den „Lissabonner Vertrag“, der damals gültig wurde. Zur mündlichen Verhandlung im Februar 2009 begründete ich sie zusammenfassend, u.a. mit den Worten: „Seit 1945 ist acquis social, dass alle hoheitliche Gewalt auf demokratischer Legitimation beruht … Auf europäischer Ebene ist sie faktisch verdunstet … Das Grundgesetz hat festgestellt, dass alle Hoheitsbefugten ihre Ausübung … stets vor dem Volk, also den Bürgern verantworten müssen … Wir kennen jedoch keinen Kommissar in der EU oder amtsdelegierte Vertreter im Ministerrat, die den deutschen Bürgern Struktur, Ziele, Rechtsakte und/oder Praktiken der EU vermitteln, geschweige denn rechtfertigen (verantworten), sodass die Bürger aus solchen Darstellungen eine Wahlentscheidung treffen könnten. Noch weniger in der Lage zu praktizierter Verantwortung sind Abgeordnete … Das GG bestimmt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ´durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt` wird. Diesen Schutz aus ´checks and balances` der Mächte gibt es in der EU nicht mehr … Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat (haben) die gewaltenteilige Struktur unseres Landes gewandelt in partizipatorische Obrigkeit der EU-Organe … Die Europäische Union ist in ihrem Wesen undemokratisch. Sie vertritt nicht den Bürger. Sie regiert ihn … Die EU-Migliedsstaaten haben festgelegt, dass ihr nur Staaten beitreten dürfen, die demokratische Rechtsstaatlichkeit nachweisen. Wäre die Europäische Union selbst ein Staat, sie dürfte und könnte nicht Mitglied der Gemeinschaft werden … mangels rechtsstaatlich demokratischer Eigenqualifikation“.
Die Akteure widersprachen nicht. Sie festigen und erweitern wie zuvor ihre Macht und Undurchdringlichkeit, vorbei an dem zu dienen sie bestellt sind: Sie haben die Menschen verloren. Sie merken es nicht.