Die Umfragewerte der aktuellen Bundesregierung sind katastrophal schlecht. In Bayern und Hessen wurden die SPD und die sogenannte „Ampel“ abgestraft. Die verfehlte Migrationspolitik rückt in den Fokus. Nun versucht der Bundeskanzler auf die Sorgen der Bevölkerung einzugehen. Ist eine Protestwahl womöglich doch nicht so schlecht?
Scholz will mehr und schneller abschieben. Neue Regelungen sollen her. Es liest sich für viele wie eine Offenbarung. Doch es ist purer Aktionismus. Wie so oft in der Politik, wenn Probleme zu lange aufgeschoben wurden, anstatt sie zu lösen. Erst wenn Wahlen und Umfragen eine deutliche Sprache sprechen, werden führende Politiker aktiv.
Darf man dem letzten Spiegel-Interview von Scholz vertrauen, dann verschließt sich der Bundeskanzler dem Thema Abschiebung nicht mehr – was ganz sicher den Grünen ein Dorn im Auge sein dürfte. Was noch vor ein paar Wochen nur der AfD zugeschrieben worden wäre, sagt nun der Bundeskanzler mit dem SPD-Parteibuch in der Tasche.
Abschiebungen zu thematisieren, darf kein Tabu sein. Das Thema ist emotional belegt und führt zu wunderlichen Entgleisungen. Objektivität und Sachlichkeit müssen in die Diskussion einziehen. Denn die Realität ist, dass Ausländer ohne Bleibeperspektive und Integrationsbemühungen eine Verweildauer von mehreren Jahren erreichen können, weil vorhandene Regelungen nicht konsequent umgesetzt bzw. vollzogen werden. Wohlgemerkt: Es existieren Regelungen, die nicht konsequent umgesetzt werden. Das ist der Kern des Problems.
Wer ein Bleiberecht erhält
Das Aufenthaltsgesetz regelt unter anderem Aufenthaltserlaubnisse und Abschiebungen. Es sieht vor, Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist. Abgeschoben werden Ausländer, die keine Aufenthaltserlaubnis besitzen und deren Aufenthalt auch nicht gestattet ist. Daher ist die aktuelle Aufregung nicht nachvollziehbar. Es geht nicht darum, alle Ausländer abzuschieben, weil sie Ausländer sind. Nein. Es geht darum, den Aufenthalt zu beenden, wenn kein Bleiberecht besteht.
Denn klar ist, unser Staat hat nicht die Ressourcen, alle Einreisenden ausreichend zu versorgen, zu unterstützen und ihnen ein Dach über den Kopf zu geben. Die geltenden Regelungen müssen effektiv umgesetzt werden. Dazu gehören auch Abschiebungen. Nur so kann der Staat seiner humanitären Verpflichtung gegenüber Ausländern, die dringend Hilfe benötigen, verantwortungsvoll nachkommen. Beispielsweise für Asylberechtigte oder anerkannte Flüchtlinge.
Gerne wird als Argument gegen Abschiebungen und für die unkontrollierte Aufnahme aller Ausländer der Fachkräftemangel angebracht. Dieses Argument ist ein Pseudoargument. Denn die Migration von Fachkräften in den Arbeitsmarkt ist nicht das Problem. Die geltenden Regelungen sind für eine geregelte Migration ausreichend.
Abschiebung und Ausweisung
Wenn es um die Abschiebung von Straftätern geht, ist dem Politiker der Applaus im Festzelt gewiss. Hiergegen verwehrt sich öffentlich niemand. Hintergrundwissen hierzu hat weder der Bierzeltbesucher noch der lauthals vortragende Politiker. Abschiebungen von Straftätern erfolgen sehr zögerlich. Dies hat zur Folge, dass Ausländer mehrfach straffällig werden können, bevor die Ausweisung folgt. Die Ausweisung ist das schärfste Schwert des Staates im Rahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bei der Ausweisung werden Ausweisungsinteressen mit Bleibeinteressen abgewogen (§ 53 AufenthG – Einzelnorm (gesetze-im-internet.de)). Überwiegt das Ausweisungsinteresse, wird der Ausländer aus der Bundesrepublik ausgewiesen und erhält ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Nicht selten überwiegen jedoch die Bleibeinteressen trotz schwerwiegender oder häufiger Kriminalität. Je länger der Ausländer in Deutschland lebt, desto mehr kann er seine Bleibeinteressen und eine Verwurzelung verfestigen. Zögerliche Entscheidungen oder lange Verfahrensdauern bezüglich Abschiebungen und Ausweisungen führen aufgrund der langen Bearbeitungszeit zur Verwurzelung des Ausländers. Der Staat verursacht also dieses Problem selbst. Um es deutlich zu sagen: Je länger der Staat und seine Institutionen brauchen, um einen Ausländer abzuschieben, umso mehr steigen seine Chancen, hier bleiben zu können. Und dieses „hier bleiben“ wird mit fast jedem Mittel versucht zu erreichen.
Wer vollziehbar ausreisepflichtig ist, kann abgeschoben werden – oder es hinauszögern
Der Ruf nach neuen Regelungen ist reiner Populismus, denn die bisherigen genügen. Der Eindruck fehlender Regelungen soll erzeugt werden, um vom bisherigen Versagen abzulenken. Aber das ist falsch. Doch es gibt viele Mechanismen, Möglichkeiten und Verzögerungsstrategien, die den Ausländern bekannt sind, von Anwälten vertreten und vom Staat „belohnt“ werden.
Wie man um eine Abschiebung zunächst oder dauerhaft herumkommt, kann zügig recherchiert werden. Ein paar Klicks im Internet und die Antwort ist zu finden. Klar ist, dass nicht jeder Ausländer sich einer Abschiebung entziehen möchte und in vielen Fällen tatsächliche oder rechtliche Abschiebungshindernisse vorliegen, die berücksichtigt werden müssen. Hierfür gibt es gesetzliche Regelungen und Rechtsprechung. So kann durch eine Duldung (§ 60a AufenthG – Einzelnorm) die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt werden.
Leider werden die Gründe, aufgrund derer eine Abschiebung vorübergehend ausgesetzt werden kann, immer wieder missbräuchlich eingesetzt.
Ärztliche Bescheinigungen
Sehr effektiv ist die Ankündigung von ärztlichen Attesten bzw. die Vorlage solcher. Diese können zum Beispiel eine Reiseunfähigkeit, psychische Probleme oder sonstige körperliche Gebrechen bescheinigen, die einer Ausreise im Wege stehen. Allein die Ankündigung eines Attestes bringt den Abschiebevorgang ins Stocken. Das Attest muss abgewartet werden, eine Abschiebung dann umfangreicher begründet und das Attest überprüft werden. Das Problem ist nicht erfunden und kein Vorurteil. Auch der Gesetzgeber hat reagiert und verlangt eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung.
§ 60a Abs. 2c Aufenthaltsgesetz § 60a AufenthG – Einzelnorm) enthält eine im Jahr 2019 angepasste und verschärfte Regelung. Doch wer sich mit dem Inhalt in ärztlichen Bescheinigungen nicht gut auskennt, ist unsicher.
Um dem Vorwurf, man habe ein unrichtiges Attest ausgestellt, zuvorzukommen, bedienen sich manche Ärzte einer schwammigen Formulierung. So wird sehr oft vor einer Diagnose gerne das Kürzel V.a. gestellt. Dieses Kürzel sagt nichts anderes als „Verdacht auf“ eine Erkrankung zu haben. Der Arzt ist sich also nicht sicher. Er vermutet. Doch den Behörden reicht meist schon diese Vermutung, um den Aufenthalt zu verlängern. Ob sich die Diagnose letztendlich bestätigt, bleibt oft ungeklärt. Gerne wird auch die sogenannte Reise- oder Fluguntauglichkeit bei Bluthochdruck oder Diabetes attestiert. Würde man nur diese beiden Erkrankungen als Knock-out-Kriterium für Privat- oder Geschäftsreisende nehmen, dann würden wohl viele Flug- und Reisegesellschaften Pleite gehen.
Passlosigkeit
Personen mit ungeklärter Identität erhalten eine Duldung. Die Abschiebung wird daraufhin ausgesetzt (§ 60b AufenthG – Einzelnorm). Vor einer Abschiebung muss der Staat, in den die Abschiebung erfolgen soll, aufnahmebereit sein. Dafür muss feststehen, aus welchem Land der Ausländer stammt. Den Fall, in dem keine Papiere vorliegen, gibt es sehr oft. Egal ob verloren oder bewusst vernichtet, es muss bei der Passbeschaffung mitgewirkt werden (§ 48 AufenthG – Einzelnorm). Personen mit ungeklärter Identität müssen also bei der Feststellung ihrer Identität mitwirken.
Doch diese Mitwirkungspflicht ist ein zahnloser Tiger. Ein Verstoß gegen diese Pflicht wird meist über Jahre geduldet. Dies verlängert die Aufenthaltsdauer. Jede vorgetragene Erklärung des Ausländers für Verzögerungen bei der Mitwirkung an der Identitätsklärung, jede Terminbuchung bei einer Botschaft oder angekündigte Nachforschungen im Heimatland werden abgewartet. Wenig Wirkung entfaltet auch, dass der Aufenthalt ohne Pass strafbar ist, denn wird ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, dauert es wieder einige Monate, bis ein Urteil ergeht.
Auch können fehlende Mitwirkungshandlungen an der Passbeschaffung oder falsche Angaben zu einer Ausweisung durch die Ausländerbehörde führen. All diese Möglichkeiten könnten strenger und konsequenter von den Behörden gehandhabt werden. Ohne erfolgversprechende Aussichten auf eine tatsächliche Abschiebung ist die Motivation für eine konsequentere Handhabe niedrig. Personen mit ungeklärter Identität abzuschieben, ist schwer. Ohne Nachweise, aus welchem Land die abzuschiebende Person stammt, ist es ein recht aussichtsloses Unterfangen, einen aufnahmebereiten Staat zu finden, in den die Abschiebung erfolgen kann.
Keine Abschiebung, wenn Ermittlungsverfahren läuft
Ein laufendes strafrechtliches Ermittlungsverfahren kann zu einer Duldung führen. Zeiten, die der Ausländer aus diesem Grund geduldet wird, können für ihn positiv sein. Der Grund dafür liegt darin, dass manche Aufenthaltstitel als Erteilungsvoraussetzung Wartezeiten haben. Das bedeutet, dass für Ausländer, die sich beispielsweise sechs Jahre in Deutschland aufgehalten haben, die Chance zum Erhalt eines Aufenthaltstitels steigt. Als Wartezeit gelten auch die Duldungszeiten, die für die Durchführung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens generiert werden. Das kann Sinn machen, wenn der Ausländer zu Unrecht beschuldigt wurde.
Allerdings enden viele Ermittlungsverfahren durch eine Einstellung wegen Geringfügigkeit. Gerade bei kleineren Drogendelikten bietet sich dies an. Auch ein Strafbefehl oder eine Verurteilung zu einer Geldstrafe unter 30 Tagessätzen hat ausländerrechtlich kaum Auswirkung. Denn das Ausweisungsinteresse wird nach der Rechtsprechung erst bei 30 Tagessätzen relevant. Hier wären Regelanpassungen durchaus sinnvoll.
Gerichtliche Verfahren
Wird ein Asylbewerber abgelehnt, kann er dagegen klagen. Die Klagequote ist hoch. Ein Asylklageverfahren dauert durchschnittlich 26 Monate (Deutscher Bundestag – Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren). In dieser Zeit kann ebenfalls eine Verwurzelung, beispielweise durch Eheschließung, Elternschaft und dergleichen stattfinden und können dadurch Bleibeinteressen geschaffen werden. Wird einem Ausländer die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verwehrt, kann er dagegen klagen. Wieder dauert es, bis die gerichtliche Entscheidung erfolgt. Ist dem Ausländer bekannt, dass eine Abschiebung bevorsteht, kann er dagegen im Eilrechtschutz vorgehen und beantragen, die Abschiebung bis zur gerichtlichen Entscheidung auszusetzen.
Ein Schlag ins Gesicht für alle Ausländerbehörden – der Chancenaufenthalt
Eine neue Regelung macht nun jahrelange behördliche Vorbereitungen von Abschiebungen zunichte. So ist zum 1.1.2023 der § 104c Aufenthaltsgesetz (§ 104c AufenthG – Einzelnorm) in Kraft getreten. Der sogenannte Chancenaufenthalt. Dieses Gesetz entstammt der Feder der aktuellen Bundesregierung. Eine 18-monatige Aufenthaltserlaubnis soll unter anderem langjährig Geduldeten die Möglichkeit geben, die notwendigen Voraussetzungen für ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland zu erfüllen. Es soll die bisherige Praxis der Kettenduldungen beendet werden. Das heißt, Duldungen werden immer wieder verlängert. Allein die Tatsache, dass es Kettenduldungen gibt, zeigt, dass Abschiebungen ausgeblieben sind.
Dieser neue Aufenthaltstitel des § 104c Aufenthaltsgesetz eröffnet nun unter anderem Ausländern, die seit mindestens fünf Jahren geduldet sind und Integrationswillen zeigen, die Möglichkeit auf ein dauerhaftes Bleiberecht. Wer die 18 Monate nicht nutzt, wird wieder in die Duldung rutschen. Was der Chancenaufenthalt tatsächlich schafft, ist, die Anzahl der geduldeten Personen zu verringern, da viele den neuen Aufenthaltstitel anstreben werden. Das BMI rechnet damit, dass diese neue Regelung 139.000 Ausländer betrifft. Eine kurzfristige Korrektur der Statistik. Gut für die Politik. Auf Dauer gesehen nur eine Verschiebung von Problemen, denn in 18 Monaten wird man sich bei vielen die Frage stellen, warum die Chance nicht genutzt wurde. Die Ausländerbehörden werden dadurch um ihre bisherige Arbeit gebracht. Das ist nicht gut für die Motivation. Die Vorbereitung einer Abschiebung ist langwierig, das Personal erschöpft und unterbesetzt.
Umgang mit aktueller Einreisesituation
Trotz der verfehlten Migrationspolitik ist eine Wende möglich. Offensichtlich ist, dass mit zunehmender Verfahrensdauer eine Abschiebung immer unwahrscheinlicher wird. Diesen Zustand haben die Politik und die staatlichen Einrichtungen zu verantworten. Mit anderen Worten: Der Staat hat hier versagt. Daher muss er die Verantwortung dafür übernehmen. Nun nach schnellerer und vermehrter Abschiebung zu schreien, ist populistischer Unfug und wird der komplexen Situation auch nicht gerecht.
Mit der aktuellen Einreisesituation muss daher anders umgegangen werden. Eine Begrenzung darf kein Tabuthema mehr sein.
Die neuen Verfahren müssen nun vorrangig bearbeitet werden, um dem Entstehen von Bleibeinteressen zuvorzukommen. Auch sollte der Chancenaufenthalt als solcher betrachtet werden. Wer die Chance, innerhalb der 18 Monate ein dauerhaftes Bleiberecht zu schaffen, aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht genutzt hat, muss rückgeführt werden.
Werden geltende Regelungen nicht konsequent durchgesetzt, führt dies zu einem Unterlaufen und der Etablierung von Umgehungsmöglichkeiten. Das hat die verfehlte Migrationspolitik bewirkt. Das schadet nicht nur den Ausländern, die ein Bleiberecht oder die Aussicht darauf haben, sondern auch dem Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Akteure.
Seit vielen Jahren weisen aufmerksame Beobachter und Personen, die direkt an der Basis tätig sind, auf dieses Systemversagen hin. Anstatt gehört zu werden, wurden sie verteufelt, diskreditiert und als Feinde der Demokratie bezeichnet. Nun zeigt sich, dass man besser auf diese Menschen hätte hören sollen.
Dr. med. Friedrich Pürner, MPH
Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe