Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein beleidigter Multimillionär, der seinen Lebensmittelpunkt längst außerhalb Deutschlands hat, die größte Rassismusdebatte der letzten Jahre lostreten könnte?
Seitdem Mesut Özil über die Sozialen Netzwerke öffentlichkeitswirksam seinen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft erklärt hat, diskutiert das ganze Land über die in der Erklärung erhobenen Vorwürfe.
Wer Özils sprachliche Leistungsfähigkeit in Interviews erlebt hat, darf zu Recht Zweifel daran hegen, ob die dreiteilige Erklärung tatsächlich aus seiner Feder stammt. Özil bzw. vielmehr seine Berater, verkehren in dieser Erklärung geschickt die Opfer-Täter-Perspektive. Özil, der ewige Türke, der sich integrieren wollte aber nicht durfte, weil Deutschland so rassistisch ist; nur Özil selbst ist es natürlich nicht.
Weil Deutschland in den letzten 80 Jahren zwei Diktaturen durchleben musste, war zu erwarten, dass hier auf das Foto deutlicher reagiert wird. Anders als ihre Bundesregierung, die auf die Entwicklungen in der Türkei mit großer Zurückhaltung, sehr kleinlaut, verklausuliert und im Grunde mutlos reagiert, war die Kritik gesamtgesellschaftlich sehr viel deutlicher. Selbst Özil hätte klar sein müssen, dass sein gemeinsames Foto mit jenem Erdogan für Irritation und Unverständnis sorgen musste. Die Öffentlichkeit machte ihrem Unmut deutlich Luft – und sein Verhalten auf dem Fußballfeld der WM war wenig geeignet, die Stimmung zu seinen Gunsten zu ändern.
Kein Migrationsforscher, keine Studie, hat in diesem Land je mehr Gehör gefunden und solch eine Debatte ausgelöst, wie diese Äußerungen eines auf Händen getragenen Kickers.
Sein schwerwiegendster Vorwurf – nicht nur „die Deutschen“, sondern der Deutsche Fußball-Bund insbesondere, sei rassistisch – ist zugleich der erstaunlichste.
Selbst, als nach mittlerweile knapp zwei Wochen Özils Teamkameraden mit Migrationshintergrund ihrem Ex-Teamkollegen weder beipflichteten, noch den Rassismus bestätigen konnten und der Integrationsbeauftragte des DFB, der Deutsch-Brasilianer Claudemir Cacau, Özil sogar offen widersprach, gab es kaum veröffentlichte Stimmen, die Özils unhaltbare Vorwürfe relativierten.
Das integrationspolitische Schattenboxen ging weiter, ohne dass ein Gegner oder konkreter Rassismus sich innerhalb der demokratischen Akteure gegenüber Özil hätte herauskristallisieren lassen.
Sicherlich gibt es Rassismus in Deutschland, wie in jedem anderen Land. Er muss geächtet werden und dort, wo er strukturell vorhanden ist, thematisiert und gelöst werden. Ich jedoch bin stolz darauf, dass wir in Deutschland gerade beim Thema Rassismus eine große Sensibilität an den Tag legen. Alle demokratischen Kräfte bemühen sich ebenso wie auch die gesellschaftlichen Spitzenverbände, und dazu gehört auch der DFB, Rassismus zu bekämpfen und die Integration zu fördern.
Gerade der DFB hat diesen Vorwurf deshalb nicht verdient.
Rassismus wird nicht unter den Teppich gekehrt, sondern thematisiert; auch dann, wenn es schmerzhaft ist und selbst dann, wenn es wie bei Özil in dieser Form nicht gerechtfertigt ist.
Die Dankbarkeit von Özil und seinen Beratern gegenüber Deutschland, das ihm jede Chance eröffnet hat, war von kurzer Dauer. Jetzt hält jemand anderes seine schützende Hand über ihn. Der türkische Präsident Erdogan bescheinigte Özil eine patriotisch-nationale Haltung, die er gegenüber einem „faschistischen Deutschland“ gezeigt habe.
In dieses „faschistische Deutschland“ wird der türkische Präsident übrigens voraussichtlich im September reisen und sich von der politischen Führung feiern lassen. Schattenboxen in einer absurden Welt.
Cahit Başar (52) ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er hat u.a. in Großbritannien und den USA Politikwissenschaft, Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als Oberstudienrat in Köln.
Er ist Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde Deutschland.