Tichys Einblick
Eigenverantwortung in der GKV

Selbstbeteiligung von Ungeimpften als Einstieg zur totalen Selbstbeteiligung für alle Beitragszahler?

Einer juristischen Prüfung hält die Forderung, dass Ungeimpfte, die an Covid erkranken, ihre Behandlungskosten selber tragen, nicht stand. Es ist der Einstieg in eine Debatte, wie man das Gesundheitssystem durch mehr Selbstbeteiligung entlasten kann. Dass aber wieder die Ungeimpften herhalten müssen, ist absurd. Von Friedrich Pürner

Symbolbild

IMAGO / CHROMORANGE

Von oben spricht er zu seinem Volk. Er mäandert von einem Thema zum nächsten. Höher, besser, weiter. So sei die Partei, für die er steht. Dazwischen greift er zu seinem Maßkrug, welcher bereits vorbereitet auf dem Rednerpult steht. Natürlich ist das Logo der Brauerei den Kameras und dem Publikum zugewandt. Der Inhalt im Krug ist unbekannt. Da der Maßkrug ein Synonym für Bierkrug ist, dürfte die Verbindung im Gehirn des Volkes schnell hergestellt sein. Jetzt geht es ans Biertrinken. Mit ausgestrecktem Arm hält der Redner den Krug vor sich und fordert das Volk zum Trinken auf. Gespielt gierig schluckt der Profi am Pult die Flüssigkeit in sich hinein. Das Volk ahmt nach. Bier ist Alkohol. Alkohol ist ein Zellgift. Die Möglichkeit, das Trinken zu unterlassen, hat jeder. All das sollte man an dieser Stelle wissen.

Vorschlag eines ehemals rot-grünen Beraters
Versicherte sollen bis zu 2000 Euro für medizinische Behandlungen bezahlen
Es ist wieder so weit. Vor ein paar Tagen wurde eine bereits bekannte Debatte neu entfacht. Zunächst durch den Vorschlag, Rentner mit 2000 Euros an ihren Krankheitskosten zu beteiligen. Dann durch einen Beitrag auf der Webseite gesundheitsrecht.blog: „Mehr Eigenverantwortung in der GKV: Beteiligung Nichtgeimpfter an den Kosten ihrer Covid-19-Behandlung“. Ein Twitter-Post durch Stefan Huster hat diesem Beitrag zu größerer Reichweite verholfen. Huster ist Rechtswissenschaftler und Leiter des Expertenrates der Bundesregierung für die Corona-Maßnahmen. Der Jura-Professor hat den Blogbeitrag nicht selbst verfasst, ist aber redaktionell verantwortlich dafür (vgl. Impressum).

Um was geht es nun in der Diskussion oberflächlich-thematisch? Solidarität, Gemeinschaft und Kostenübernahme. Mit diesen drei Worten ließe sich bereits die ganze Diskussion erklären. Die Frage ist nämlich, ob Ungeimpfte Kosten ihrer Behandlung bei einer Covid-Erkrankung selbst tragen sollten. Ja sogar tragen müssten. Immerhin seien 22 Prozent der deutschen Bevölkerung nicht gegen Covid geimpft. An dieser Stelle wird nun mit Argumenten hantiert, die entweder wissenschaftlich widerlegt oder bisher nicht bewiesen wurden. Die Kostentragung sei gerechtfertigt, da die Impfung gut gegen schwere Covid-Verläufe schützen würde und Ungeimpfte eben ungeschützt seien, weshalb diese dann einen schweren Erkrankungsverlauf bekämen und damit wiederum das Gesundheitssystem mit hohen Kosten belasten würden.

Selbstverschulden durch Nichtimpfung

Dass die Behandlungskosten einer Covid-Infektion durch die Ungeimpften selbst zu tragen sind, wird mittels einer Norm im Sozialgesetzbuch (fünftes Buch) begründet. In dieser Norm ist eine Kostenbeteiligung der Behandlungskosten vorgesehen, wenn – und nun Obacht und festgehalten – „sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen zugezogen“ haben.

In dem zuvor erwähnten Blog-Beitrag sehen die beiden Autorinnen den hier verlangten Vorsatz in der Entscheidung, sich nicht Impfen zu lassen, und der billigenden Inkaufnahme des Krankheitseintritts. Sie bilden eine Kausalität zwischen fehlender Impfung und schwerem Krankheitsverlauf – was natürlich medizinisch völliger Nonsens ist. Immerhin wird in dem Beitrag dann eingeräumt, dass die Krankenkassen einen Ermessensspielraum haben und auch insgesamt die rechtliche Auslegung nicht so eindeutig sei. Immerhin, mag man denken.

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Allerdings zeigen die Autorinnen sogleich dem Gesetzgeber einen Weg, wie dieser rechtssicher die Ungeimpften mit Kostenbeteiligung zur Kasse bitten kann. Es muss ein neuer Verschuldensmaßstab her. Der bisher gesetzlich geforderte Vorsatz muss gestrichen werden. Die Grundhaltung der Autorinnen ist klar: Ungeimpfte sollen weiter schikaniert werden. Zu diesem Zweck versucht man, rechtliche „Hürden“ zu umgehen. Dies zeigt die Behandlung der Frage, wie der Vorsatz eines Krankheitseintritts und die Kausalität auszulegen sind. Ob die Nichtimpfung bereits als Vorsatz zu verstehen ist, ist mehr als fraglich. Eine Infektion ist zunächst dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen. Eben deshalb, weil es dem Leben in der Gesellschaft innewohnt. Die oben genannte Norm erfasst aber ganz gezielte Verletzungen.

Die Autorinnen sehen in der Nichtimpfung eine Obliegenheitsverletzung, die im Versicherungsrecht oft herangezogen wird. Jedoch fehlt es bereits an einer vertraglichen Pflicht, sich impfen zu lassen. Auch muss im Versicherungsrecht diese schuldhafte Obliegenheitsverletzung der Versicherer beweisen.

Wie man es auch dreht und wendet. Eins ist klar: Ohne eine zweifelsfrei bewiesene Wirksamkeit der Impfung brauchen wir an dieser Stelle über mögliche Kostenbeteiligung nicht weiter diskutieren.
Daher kann hier die juristische Ausleuchtung enden.

Ein Prosit der Gemütlichkeit

Eine grundsätzliche Frage ist doch, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Tragen wir als Gemeinschaft nicht seit langem das Risiko und die damit verbundenen Folgen der Einzelnen? Wie werden wir in Zukunft mit Dicken, Rauchern, Alkoholikern, Sportunfällen, Motorradunfällen und Behandlungen von sexuell übertragbaren Erkrankungen umgehen? Es muss niemand „dick“ werden. Man wird zu dick, weil man zu viel Kalorien zu sich nimmt und zu wenige verbraucht. So einfach ist das. Nikotin und Alkohol sind Suchtmittel. Niemand wird gezwungen, diese einzunehmen. Jeder weiß um deren Schädlichkeit.

Dieser Beitrag entsteht am Aschermittwoch mitten in Bayern. In Festhallen und Kellern werden große Töne von Politkern gespuckt – und dazwischen prostet man sich zu. Gewiss nicht mit Wasser. Nein. Bier ist der Kitt zwischen dem Redner und dem zuhörenden Volk. Der Maßkrug als Zeichen der Solidarität und der Verbundenheit. Das Zeichen für „Schaut her, ich bin einer von Euch, direkt aus dem Volk. Ich sauf mit Euch!“

TE 03-2023
Früherer Amtsarzt Pürner: Corona-Fehler fair aufarbeiten
Nach Fasching geht es in Bayern auf den Nockherberg, von dort aus direkt auf die vielen Frühlings- und Sommerfeste. Der Rausch gipfelt auf dem Oktoberfest in München und plätschert auf den Weinfesten weiter. Kein Politiker lässt sich diese Ereignisse entgehen. Sie prosten mit Bier dem Wahlvolk zu, hoffend auf ihre Stimme und auch hoffend, dass die schon leicht betrunkenen Wähler nicht merken, dass die Bierkrüge einiger Politiker nur mit Apfelschorle gefüllt sind. Warum also das Spektakel?

Weil Bier als typisch bayerisch gilt. Männlich und kraftmachend. Erfrischend und gut. Und natürlich hat Bier eine lange Tradition, eine starke Lobby und hat Bayern zu weltweiter Bekanntheit verholfen. Kommt hier der Einzelne für die Spätfolgen und deren Behandlungskosten seines Alkoholkonsums auf? Nein. Es ist die Solidargemeinschaft. Obwohl hier eindeutig wird, dass sogar die Politik das Volk zum Alkoholkonsum geradezu animiert. Oder was soll das Zuprosten sonst darstellen? Es ist eine Geste der Aufforderung: „Trink mit mir.“ Und wenn Politiker Bier trinken, dann kann es doch nicht so schädlich sein, nicht wahr? Die Politiker haben hier sogar eine Vorbildfunktion in Sachen Alkoholkonsum. Gewiss liegen die Kosten der alkoholbedingten Gesundheitsschäden bei Weitem über denen der Covid-Erkrankungen. Von den wirtschaftlichen Schäden durch Arbeitsausfälle wegen Alkoholkonsum soll hier erst gar nicht gesprochen werden.

Scheindebatte, Nebelkerze, Testballon

Weshalb also wird nun diese ganze Debatte überhaupt geführt? Denn sie ist bereits auf den ersten Blick völlig unlogisch. Ganz einfach. Weil es die Stimmung momentan hergibt. Sie ist völlig aufgeheizt. Die Gesellschaft ist zerrissen. Dass das Gesundheitssystem letztendlich durch die enormen, völlig überflüssigen Maßnahmen und Ausgaben finanziell nun am Abgrund steht, dürfte jedem klar sein. Deshalb muss eingespart werden, was das Zeug hält. Wenn das System aber spart, dann muss wohl das einzelne Individuum mehr Geld ausgeben. Sonst geht die Rechnung nicht auf.

Würde die Politik nun mit dieser Forderung der Kostenübernahme durch „Selbstverschuldung“ – beispielsweise Behandlungskosten eines Rauchers bei Lungenkrebs – auf die Bürger zukommen, dann würden sich dafür nur wenige Unterstützer finden lassen. Als absurd würde man es abtun. Bei Covid ist das anders. Hier wurden durch die unwahre Behauptung einer „Pandemie der Ungeimpften“ sowie durch dümmliche und falsche Parolen der Politiker Ängste und Mechanismen freigesetzt, die es ermöglichen, eine solche Diskussion zu führen.

Mit dieser Diskussion wird der Bürger langsam daran gewöhnt, dass er für sein Verhalten nun auch bezahlen muss. Wäre eine Diskussion bei ungeimpften Influenza-Erkrankten noch vor drei Jahren denkbar gewesen? Sicher nicht. Jetzt scheint die Zeit dafür reif zu sein. Dass aber wieder die Ungeimpften herhalten müssen, das ist eine Perversität. Womöglich ist es nur der Einstieg in eine breite Selbstbeteiligung für alle Krankheitsfälle und einen Ausschluss bestimmter Behandlungen von der Kostenübernahme: Folgen von Alkoholkonsum, Sportverletzungen, Übergewicht – die Liste ist lang, was man alles aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen entfernen oder verteuern könnte.

Mit der Praxisgebühr wurde der Einstieg in die Kostenbeteiligungen versucht; Zahnersatz wurde weitgehend aus dem Leistungskatalog entfernt. Müssen jetzt die Ungeimpften herhalten für eine neue Debatte über Kostenverlagerung auf die Beitragszahler?  Für die Ausgrenzung stigmatisierter Krankheiten aus dem Leistungskatalog? Und das auf dem Rücken der Ungeimpften, mit denen man glaubt alles machen zu können? Und wie weit soll diese Debatte führen – zum klammheimliche Ende der Krankenversicherung oder zum hohen Selbstbehalt für Rentner, wie ihn ein Berater der Bundesregierung zeitgleich vorgeschlagen hat – na denn, Prost!

Dr. med. Friedrich Pürner, MPH, ist Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe.


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