Vor einigen Jahren erzählte mir eine polnische Bekannte, dass sie der Zeit der kommunistischen Diktatur wenigstens in einer Hinsicht nachtrauere: Damals habe zwar beständig das Risiko von Verfolgung, Diffamation und Festnahme bestanden, aber die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Anstand und Niedertracht, zwischen Mut und Feigheit – kurz: zwischen jenen, auf die man zählen konnte, und jenen, die im Zweifelsfall freiwillig oder angeblich „notgedrungen“ auf der „anderen Seite“ standen –, sei damals erheblich klarer gewesen als jetzt.
Diese Zeiten sind wieder da. Schon vor der Covid-„Pandemie“ bereitete sich eine ungeahnte Spaltung der Gesellschaft zwischen jenen vor, die dem Machtgefüge politischer Korrektheit die Treue hielten und sich dementsprechend mit dem politischen, medialen und akademischen Establishment solidarisierten, und jenen, welche verstanden oder zumindest spürten, dass jenes System unsere gesamte Zivilisation früher oder später in den Abgrund ziehen würde und es höchste Zeit sei, eine Alternative zu entwickeln. Weltstaat oder Abendland, Globalismus oder Lokalismus, Transhumanismus oder Lebensschutz, Materialismus oder Transzendenz, Kollektivismus oder Humanismus: Zunehmend schwanden Grauzonen und Querfronten – und die „Pandemie“ hat diese Dichotomie auf eine neue Stufe gehoben.
Naivität, Opportunismus und Sadismus
Die sich hier konstituierende Gefahr für Freiheit, Leib und Leben zu begreifen, scheint nicht jedem gegeben: Viele Menschen, auch und gerade im konservativen Milieu, klammern sich immer noch an die Vorstellung, dass in einem formal aufrechterhaltenen „Rechtsstaat“ notgedrungen auch alles „mit rechten Dingen“ vor sich gehen müsse. Und selbst jene, die jahrelang in oft schon manischer Weise jede einzelne Entscheidung ihrer Regierung kritisiert haben, wenn es um Migration, Klimapolitik, Inflation, Demokratieabbau, Staatsschulden, Bildungsmisere, EU-Zentralismus oder Verfall der Infrastruktur ging, vertrauen auf einmal derselben Politikerkaste mit andächtigem Kinderglauben – als ob jene zunehmend skurrile Ansammlung von opportunistischen Parlamentariern, politisierten Richtern, semiqualifizierten Ministern und strammen Haltungsjournalisten tatsächlich auf einmal wieder zu jener Elite von Staatsmännern und kritischen Berichterstattern geworden wäre, die die Älteren von uns noch tatsächlich hier und da kennengelernt haben.
Und: Neben jener Fehlkalkulation, bei der Wunschdenken an die Stelle von Realismus tritt und sich das erschütternde Ausmaß der Dominanz der Leitmedien über die Gesellschaft zeigt, sehen wir zunehmend auch wieder jenen guten alten Opportunismus hervortreten, ohne den keine autoritäre Regierung denkbar wäre. Auch dieser Opportunismus ist in den letzten Jahren nichts Neues, allen voran im Deutschland Angela Merkels; nun aber greift er auch auf jene Schichten über, die sich ihm bislang freiwillig oder umständehalber verweigert hatten. Für viele bisherige politische Opponenten, so scheint es, ist die Covid-Krise nachgerade zum langersehnten Eingangsticket geworden, um durch Demonstration staatstragender Pandemie-Gesinnung endlich wieder in den Kreis der gutmeinenden, also linksliberalen Bürger zurückzukehren, und man kann wohl die Intensität des Bedürfnisses, Teil des Mainstreams zu werden, am Grad der Bereitschaft ablesen, Impfgegner und andere Unmenschen auszugrenzen.
Trennung zwischen Spreu und Weizen
Doch immerhin: Je mehr sich die angeblich „aufgeklärte“ und „rechtsstaatliche“ westliche „Wertegemeinschaft“ ad absurdum führt und die letzten Reste ihrer sittlichen Legitimität zugunsten der Versuchung kruder Macht verspielt, desto mehr zeigt sich der Charakter jener, die sich diesem Zugriff entziehen und bereit sind, für ihre Überzeugungen, ihre Prinzipien und ihren Glauben schlimmste Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Dabei geht es nicht um den Gegensatz zwischen „Impfbefürwortern“ und „Impfgegnern“ – diese Wahl muss und soll jeder für sich allein nach bestem Wissen und Gewissen treffen. Es geht vielmehr um den Unterschied zwischen jenen, welche eine Notfallsituation zur Mehrung der eigenen Macht missbrauchen bzw. Gefallen daran finden, andere Menschen diskriminiert zu sehen und auf der Seite der Stärke zu stehen, und jenen, welche aus verschiedensten Gründen weiterhin Anstand, Freiheit, Maß und die Autonomie des Individuums verteidigen, ob es nun um sie oder andere geht.
Wer um dieser Ideale willen Freundeskreis, Arbeitsplatz, soziale Anerkennung, oft genug sogar Familienbande und Wohnsitz aufzugeben bereit ist, zeigt eine Stärke des Charakters, die in Vor-Pandemie-Zeiten oft genug unter einer Fülle von Oberflächlichkeiten verschüttet wurde. Dabei kommt es auch gar nicht so sehr auf den tatsächlichen Inhalt jener Überzeugungen an als vielmehr um die Festigkeit, eher dem inneren Kompass zu vertrauen als dem geballten Druck der Umwelt. Dies sind Menschen, mit denen man vielleicht nicht immer einer Meinung sein wird, aber wenigstens solche, die man zu achten vermag und in die man ein menschliches Vertrauen setzen kann, und es ist kaum erstaunlich, dass gerade sie es sind, welche durch das gegenwärtige System zunehmend gnadenlos ausgegrenzt werden.
Die Existenz dieser Menschen in einer Zeit deutlich gemacht zu haben, die ansonsten ganz Nietzsches „letztem Menschen“ zu gehören scheint, könnte sich vielleicht eines Tages als das verborgene und unerwartete Geschenk der Pandemie erweisen. Die Spreu vom Weizen trennen, und das inmitten einer historisch einzigartigen Kollektivierung – was könnte wohl bedeutsamer sein?
Professor Dr. David Engels ist Senior Analyst am Instytut Zachodni in Poznań.