Tichys Einblick
Verweigerte Corona-Aufarbeitung

Leopoldina – Wenn die Akademie der Wissenschaft in der Rückschau versagt

Anstatt wichtige gesellschaftliche Themen aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten, und zwar unabhängig von Interessen, schwamm die Leopoldina im Strom der gewünschten Ergebnisse mit und surfte auf der Welle der Befeuerung der Gefahrenszenarien. Die Pandemie war die Stunde der Leopoldina. Von Friedrich Pürner

IMAGO / VIADATA

Hinterher ist man meist schlauer. Man kann ziemlich genau erklären, wie es zu einem Ereignis oder einem Verhalten kommen konnte. Oft spielt diese Rückschau eine größere Rolle, wenn Fehler passiert sind, ein Unglück eintraf oder man einfach nicht mit einem Ergebnis zufrieden ist.

Søren Kierkegaard, ein dänischer Philosoph, brachte es schön auf den Punkt. Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts. Um aber das Leben rückwärts verstehen zu können, braucht es die Fähigkeit der Reflexion. Diese fehlt der Leopoldina in Gänze.

In der Pandemie lieferte die Leopoldina das, was die Akteure der Pandemiepolitik hören wollten. Im Ergebnis war das nichts anderes als eine Auftragsarbeit. Wer möchte, der kann darin durchaus auch ein Gefälligkeitsgutachten erkennen. Mit Wissenschaft hatten die Stellungnahmen der Akademie nicht mehr viel gemein.

Letzte Warnung der Wissenschaft

Insofern müssen sich die Mitglieder der Nationalen Akademie der Wissenschaften einer Aufarbeitung stellen. Einer ehrlichen. Denn diese Akademie erhebt den Anspruch, Politik und Öffentlichkeit gleichermaßen wissenschaftlich zu beraten und zu informieren. In der Pandemie hat sich die Leopoldina mit insgesamt zehn sogenannten Ad-hoc-Stellungnahmen geäußert. Ad-hoc bedeutet „für den Augenblick gemacht“ oder „zur Sache passend“. Letzteres ist im Fall der Leopoldina zutreffend. Denn die Akademie hat Stellungnahmen „passend“ zu den Wünschen der Politik geliefert.

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Anfangs lasen sich die Stellungnahmen und Empfehlungen noch gemäßigt. In der 5. Ad-hoc-Stellungnahme, die das Datum 5. August 2020 trägt, wird sogar formuliert, dass Kinder und Jugendliche (unter 10 Jahren) eine geringere Rolle im Infektionsgeschehen spielen könnten und meist milde Krankheitsverläufe aufweisen. Das passte nicht zu der Rolle, die die Politiker den Kindern in der Pandemie zuweisen wollten. Daher überging man die vorgebrachten Erkenntnisse. Dass Kinder keine Pandemietreiber sind, hat die Politik erst im Herbst 2022 zugegeben. Warum änderte die Akademie die Dramatik ihrer Stellungnahmen hin zu ausgrenzenden und teils unwissenschaftlichen Aussagen?

In der 7. Ad-hoc-Stellungnahme zum harten Weihnachten – Lockdown 2020 war dieser Kurswechsel unübersehbar. Besonders erinnert werden muss an die Aussage der Leopoldina, die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown zu nutzen, sie forderte entsprechend die Politik dazu auf. Zudem wurde diese Aufforderung als alternativlos hingestellt. Dass diese Aussage der Leopoldina mehr als dürftig war und keinerlei wissenschaftlicher Grundlage entsprang, ist heute hinreichend bekannt. Aber nicht nur das. Dieses Papier wurde als deutliche und letzte Warnung der Wissenschaft postuliert und die Politik aufgefordert, sie möge sich für die Wissenschaft entscheiden. Diese Stellungnahme führte zu internen Unstimmigkeiten. In einem öffentlichen Brief eines Mitglieds an den Präsidenten wurde die Zurücknahme gefordert. Davon unbeirrt wurden Ton, Dramatik und Aussagen der elitären Einrichtung der Politik angepasst und Schritt gehalten.

Im Dezember 2021 trug die 10. und letzte Stellungnahme die Überschrift „Klare und konsequente Maßnahmen – sofort!“. Mit gemäßigten und rein beratenden Aussagen hat das rein gar nichts mehr zu tun. Es ist vielmehr ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Inhaltlich sahen die Autoren das Hauptproblem in Deutschland in der viel zu hohen Zahl noch ungeimpfter Menschen und begründeten dies mit Ansteckungsraten. Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass die Impfung bei der Zulassung nicht auf die Verhinderung einer Transmission gerichtet und untersucht wurde. Es ist nicht vorstellbar, dass eine Institution wie die Leopoldina diese Papiere nicht kannte oder nicht gelesen hat. Und genau hier hätte die Bevölkerung, die Zulassungsstudien nicht liest, sowie Politiker, die nur Studien heranziehen, die zur politischen Marschroute passen, eine Institution wie die Leopoldina dringend gebraucht.

Was aber wurde aus der mutigen Stimme des Mitglieds, die es wagte, in der Öffentlichkeit zu fragen, ob die Leopoldina politisch instrumentalisiert wird? Nun ja, Sie werden es erraten. Er wurde diffamiert. Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne, forderte Transparenz und wurde als „Querdenker und Nestbeschmutzer“ (FAZ vom 11. Mai 2021) beschimpft.

Drosten – der Januskopf

Die Leopoldina-Akademie trug zu dem Anschein bei, Politiker ließen sich umfassend und von unterschiedlichen Institutionen bzw. Personen beraten, um ein breites Spektrum an Meinungen und fachlichen Einschätzungen zu Wort kommen zu lassen. Dieser Eindruck währt nicht lange, wenn man weiß, dass der Politik-Chef-Berater Christian Drosten zugleich Mitglied der Leopoldina ist. Drosten ist unter den Autoren der Ad-hoc-Stellungnahmen zu finden.

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Für eingefleischte Kenner mag dies nicht neu sein. Für andere hingegen schon. Und so scheint der Stimmungswandel der Akademie dann doch weniger ungewöhnlich. Es fügt sich vielmehr ein weiteres Puzzelstück in das Bild der Corona-Politik ein und bringt etwas Transparenz in die Frage, wie einseitig die „wissenschaftlichen Beratung“ tatsächlich war und immer noch ist. Und so verwundert es kaum, dass die Leopoldina – sowie auch Drosten persönlich – kein Interesse an der Einräumung und Aufarbeitung von Fehlern hat.

Die Frage, ob es hier Interessenskonflikte für das Mitglied Drosten gab, ist berechtigt und sollte auch ausgeleuchtet werden.

Leopoldiner verletzen ihr eigenes Leitbild

Die Leopoldina blieb in einer Zeit, in der eine gemäßigte wissenschaftliche Beratung höchste Not getan hätte, weit hinter ihrem Selbstverständnis zurück. Nicht an der postulierten Theorie, sondern am tatsächlichen Handeln muss sich die Leopoldina messen lassen.

Die Leopoldina trat weder für die Freiheit und Wertschätzung der Wissenschaft ein, noch hat sie sich für die Achtung der Menschenrechte eingesetzt. Beides aber schreibt sie sich auf die Fahnen und in das Leitbild auf der eigenen Internetseite.

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Anstatt unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen wichtige gesellschaftliche Themen aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten, schwamm die Leopoldina im Strom der gewünschten Ergebnisse und surfte selbstzufrieden auf der Welle der Befeuerung der Gefahrenszenarien mit. Die Pandemie war die Stunde der Leopoldina. Noch nie erfreute sich die Akademie an einer solchen Bekanntheit. Schneller Ruhm birgt die Gefahr eines steilen Absturzes.

Dies werden auch die Mitglieder der Leopoldina erkannt und aus diesem Grund mit wohlklingenden Worten lieber den Schritt nach vorne „gewagt“ haben, als zurückzublicken und die eigenen Fehler aufzuarbeiten. Das Motto des Thesenkatalogs der Leopoldina scheint „Mund abwischen – weitermachen“ zu sein. Dies steht einer Nationalen Akademie der Wissenschaften gar nicht gut.

Auf der Website der Leopoldina kann nun ein aktuelles Papier gefunden werden. Kritik wird nicht ertragen, Fehler gibt es keine.

Der Titel „Wiener Thesen zur wissenschaftsbasierten Beratung von Politik und Gesellschaft“ lädt nicht gerade zum Lesen ein. Gleichwohl: Das reine Postulieren von Thesen kann beim unkritischen Leser zum gewünschten Erfolg führen. Der aufmerksame Leser hingegen wird stutzig werden, wenn er die wohlklingenden Thesen der Leopoldina liest und sich an die Aussagen und Empfehlungen während der Pandemie zurück erinnert. Von Reflexion oder gar einem Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben, ist dieses Papier meilenweit entfernt.

Deutlich aber ist zu erkennen, dass diese ehrwürdige Akademie den Schwarzen Peter sogleich auf die Kritiker schiebt. Die Wissenschaft, so mäandern die Mitglieder, seien die Zielscheibe von Wut und Hass geworden. Dabei übersehen die Mitglieder, dass gerade ihre unwissenschaftlichen Äußerungen und die darauf basierenden Maßnahmen zu einer enormen Ausgrenzung und Spaltung der Gesellschaft führten. Beim Lesen der Thesen entsteht der Eindruck, dass die Mitglieder weder Kritik ertragen können noch bereit für das Erkennen eigener Fehler sind.

Einige psychologische Abwehrmechanismen scheinen hier zutage zu treten. Welche das sind? Das sollte die Akademie in einer weiteren Stellungnahme selbst herausfinden. Ist sie aber dazu nicht in der Lage oder kann sie schlicht und ergreifend ihre eigenen Fehler nicht einräumen, dann sollten die Mitglieder geschlossen ihren Austritt vollziehen. Wissenschaft braucht Vertrauen. Die Leopoldiner haben dieses Vertrauen nicht mehr verdient. Ein Vorwärts kann und darf es so nicht geben.

Dr. med. Friedrich Pürner, MPH
Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Epidemiologe


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