Zwanzig Brötchen, mit Butter beschmiert: belegt mit Gouda, Frischkäse, Frikadellen oder mit Tomaten und Mozzarella. Den ganzen Sonntag über lagen sie in der Bäckerei. Zu einem Verkaufspreis von zusammen rund 80 Euro. Doch die Bäckerin ist sie nicht losgeworden. Jetzt, kurz vor ihrem Feierabend, will sie mir diese schenken: „Die landen sonst alle im Müll“, sagt sie. So viel Hunger habe ich zwar nicht – aber eine Idee.
Ich möchte die Brötchen an Obdachlose verschenken. Hört sich gut an. Sollte kein Problem sein. So dachte ich: Die Tour startet gegen fünf Uhr, beladen mit 20 Brötchen, das Stück für etwa 4 Euro. Nach zweieinhalb Stunden ist die Bilanz ernüchternd. Acht Brötchen bin ich losgeworden – zwölf landen trotz aller Versuche im Müll. Einige Erfahrungen, die ich zwischendrin machen musste, waren verstörend.
„Möchten Sie vielleicht ein Brötchen zum Abendessen haben?“ Einer greift zu, bedankt sich. Er sitzt neben dem Eingang zur S-Bahn-Station Friedrichstraße und liest einen Roman.
An der nächsten Ecke sitzen drei weitere Obdachlose auf einer Fensterbank. Sie sitzen dort, unterhalten sich laut und trinken Bier. Um sie herum liegen einige leere Bierdosen. Sie sehen mich zwischendrin an, merken aber nicht, dass ich ihnen Brötchen anbieten möchte. „Können wir Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?“, höre ich jemanden aus einer anderen Richtung fragen. Ich drehe mich um. Gefragt hat einer der zwei Bahnangestellten, die dort gerade Pause machen. „Ich suche Obdachlose, denen ich ein Brötchen schenken könnte“, antworte ich. Sie scherzen erst, dass sie sonst ein Brötchen nähmen. Dann empfehlen sie mir eine andere Bahnstation: Alexanderplatz. Dort gebe es viele Obdachlose, sagen sie.
Also fahre ich mit der S-Bahn zum Alexanderplatz. Am Bahnsteig stehen auch gleich zwei Obdachlose. Mit krummen Rücken, dürren Armen und schmutzigen Fingern halten sie jeweils einen verschmierten Kaffeebecher in ihren Händen und halten ihn den aussteigenden Fahrgästen entgegen. Gefüllt sind die Becher nur mit wenigen, braunen Münzen. Ich frage: „Möchten Sie vielleicht ein Brötchen?“ Ohne mich anzusehen, schütteln die beiden genervt und stumm den Kopf. Gleichzeitig lassen sie die wenigen Münzen in ihren Kaffeebechern klimpern, während sie an mir vorbei gehen und sich den anderen Fahrgästen nähern.
Unter einer Brücke sitzen drei Obdachlose auf dünnen Isomatten und Schlafsäcken: zwei Männer, eine Frau. Vor ihnen liegen leere Bierdosen. „Hallo, darf ich Ihnen vielleicht ein Brötchen anbieten?“ Die Frau ignoriert die Frage und starrt geradeaus an mir vorbei. Die beiden Männer zögern, schauen sich fragend an und fangen dann an zu lächeln. „Was für Brötchen hast du denn da?“ Ich öffne die Tüte, um ihnen die verschiedenen Brötchen zu zeigen. Daraufhin wird ihr Lächeln breiter und sie suchen sich jeweils ein Brötchen aus. Für ihre Freundin, die immer noch leer in die Gegend starrt, nehmen sie keins, obwohl ich es ihnen anbiete. „Das reicht schon“, sagen sie, ihre Freundin verständnisvoll ansehend. Diese nickt. „Hör nie auf, so schön zu lächeln“, rufen sie mir über die Straße hinterher, nachdem sie sich bedankt und ich mich verabschiedet habe.
Als nächstes begegne ich einem Obdachlosen, der vor einem Eingang des Bahnhofs sitzt. Er sitzt friedlich und freundlich schauend auf einem Stück Pappe. Vor ihm steht ein Kaffeebecher. Darin ein paar wenige, braune Münzen. Die meisten Passanten gehen stumm und ignorant an ihm vorbei, während er ihnen freundlich hinterherschaut. Ich gehe auf ihn zu und frage ihn, ob er hungrig sei. Seine Augen beginnen zu funkeln, als er die große Tüte mit Brötchen sieht. Er sucht sich eins mit Frikadelle aus. Mit seinen wenigen Deutschkenntnissen bedankt er sich, nickt fröhlich und schickt mich einen Bahnhofseingang weiter, weil dort sein Kumpel sitzt. Dieser grauhaarige, vollbärtige und etwas dickliche Mann schläft dort in seinem Rollstuhl. Seinen Sammelbecher hält er fest in seiner Hand. Vorsichtig spreche ich ihn an, doch er reagiert nicht. Also gehe ich zurück zu dem freundlichen Obdachlosen und bitte ihn, seinem Freund ein Brötchen zu geben, sobald dieser aufwacht. Das mache er gerne, antwortet er und nimmt ein weiteres Brötchen. Dieses legt er neben das seine auf die Pappunterlage.
Auch vor einem anderen Bahnhofseingang sitzt ein Obdachloser. Ich sehe nur seine blonden langen Haare, mit dem Kopf nach unten geknickt. Er reagiert nicht, als ich ihn vorsichtig anspreche, weil er schläft. In seinen Kaffeebecher, der vor seinem Schoß steht, passt kein Brötchen und so entscheide ich mich weiterzugehen, ohne ein Brötchen für ihn dazulassen.
Wie die Sonne untergeht, vergeht langsam auch die Freude an der Brötchenvergabe. Oder eher an der Suche nach Obdachlosen, die ein Brötchen annehmen. Ich begebe mich also auf den Heimweg. Dann begegnen mir zwei langhaarige, vollbärtige Obdachlose, die sich an eine Fassade lehnen. Sie unterhalten sich laut und lebendig, während sie Bierdosen in ihren Händen halten. Neben ihnen liegen mehrere leere Bierdosen auf einer Fensterbank. Ich frage sie, ob sie ein Brötchen haben möchten. Der eine Mann lehnt direkt ab, weil er keinen Hunger habe. Der andere kommt wortlos taumelnd näher, wirft einen Blick in die Brötchentüte und greift mit seinen schmutzigen Händen hinein. Seine Brötchenauswahl dauert mehrere Augenblicke, weil er mit seinem Gleichgewicht zu kämpfen hat. Schwer atmend öffnet er seinen Mund und entschuldigt sich dafür. Sein bitterer, saurer Mundgeruch und seine Bierfahne beißen sich indes in meine Nase. Ich halte den Atem an. Nachdem er endlich ein Brötchen ausgewählt hat, schaut er auf. Sein Gesicht ist nun unweit von meinem und er öffnet den Mund erneut, um sich zu bedanken. Ich trete einen Schritt zurück, um Luft zu holen. Dann taumelt er zurück zu seinem Platz an der Hauswand und winkt mir zufrieden grinsend hinterher.
Auf dem weiteren Nachhauseweg begegne ich keinen Obdachlosen mehr. So werfe ich dann leider doch mehr als die Hälfte der Brötchen in eine Mülltonne. Berliner Obdachlosen Essen zu schenken, kann ganz schön schwer sein.