Tichys Einblick
Von wegen „Sturm“ eines Klinikgeländes

Augenzeugenbericht: Was auf der Demonstration in Leipzig am Samstag geschah

Von Angriffen auf Polizisten bei der Demonstration vom Samstag und dem „Sturm“ eines Klinik-Geländes war in Presseberichten die Rede. Eine Augenzeugin berichtet über den Hergang, ihre Gespräche mit Polizisten und die Gegendemonstranten. Der Name der Autorin, eine Juristin, ist der Redaktion bekannt.

picture alliance/dpa/LausitzNews.de

Wir wollten uns einen eigenen Eindruck vom Spaziergang am Völkerschlachtdenkmal verschaffen, mein Mann und ich. Deshalb gingen wir am Samstag, den 29. Januar 2022, gegen 14:45 Uhr die Prager Straße entlang Richtung „Völki“. 15:00 Uhr sollte es losgehen. Die Mannschaftswagen der Polizei fielen uns zuerst auf. Sie fuhren die Straßen ab und parkten in einer langen Kolonne auf einer Seitenstraße hinter dem Völki. Auf dem Fußweg zwischen Prager Straße und Völki trafen wir auf vereinzelte kleine Gruppen – Pärchen, Freunde, Familien –, die sich unterhielten und auf etwas zu warten schienen.

Dann sahen wir, wie sich von der Nebenstraße aus, in der auch die Mannschaftswagen der Polizei parkten, eine große Gruppe von Menschen langsam und geräuschlos in Bewegung setze, einen Bogen um das Völki machte und dann auf dem Fußweg auf uns zukam. Sie unterhielten sich, begrüßten hinzukommende Freunde und Bekannte oder liefen einfach schweigend. Wir reihten uns ein, ebenso wie die anderen Pärchen und kleinen Gruppen, die mit uns auf dem Fußweg gewartet hatten. Es war eine friedliche und freundliche Atmosphäre. Bis uns die Gruppe schwarz gekleideter Menschen auffiel, die sich von hinten mit schnellen Schritten quer über die Wiese am Völki näherte. Ab da lag eine bedrohliche Stimmung in der Luft.

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Die Antifa und ihre Anhänger vom Aktionsbündnis „Leipzig nimmt Platz“ mit ihrem aggressiven Auftreten sind den Leipzigern bekannt. Einige Spaziergänger scherten deshalb, wie wir, aus der Gruppe der Spaziergänger in Richtung Wilhelm-Külz-Park aus, um einer näheren Begegnung mit der schwarzen Gruppe zu entgehen. Die Polizei reagierte und lief in ihrer schwarzen Schutzkleidung auf die Antifa und ihre Anhänger zu. Und nun ergab sich ein skurriles Katz-und-Maus-Spiel. Während der vordere Teil der Spaziergänger über die Fußgängerampel nach rechts über die Prager Straße auswich, weg von der bedrohlichen Lage, versuchten wir mit anderen Spaziergängern, die weiter hinten liefen und von der Antifa direkt angesteuert wurden, in den Wilhelm-Külz-Park auszuweichen. Es schien der schwarzen Truppe eine diebische Freude zu bereiten, sich rennend immer neu zu positionieren, aufzuteilen, wieder zusammen zu finden, plötzlich stehen zu bleiben. Die Polizei lief, ebenfalls in kleineren Gruppen, hinterher und versuchte, das Geschehen unter Kontrolle zu halten und die Antifa von den Fußgängern abzuschirmen. Das schien auch zu funktionieren.

Zum Erstaunen der Fußgänger, die auf den Fußwegen neben der Prager Straße Richtung Neue Messe/Innenstadt weiterliefen, versperrte die Polizei ihnen mit aufgelockert nebeneinander stehenden Mannschaftswagen den Weg. Eine polizeiliche Durchsage wies darauf hin, man solle stehen bleiben. Es möge sich ein Versammlungsleiter melden, um die weiteren Modalitäten des Spaziergangs zu klären. Es herrschte kurze Unsicherheit. Warum friedliche Spaziergänger vorn von der Polizei gestoppt werden, während die Antifa hinten von den Kollegen der Bereitschaftspolizei nur mit sichtlicher Mühe abgeschirmt werden kann, erschloss sich uns nicht. Wir warteten entsprechend angespannt.

Nach einigen Minuten sagte die Polizei durch, dass sich eine Person als Versammlungsleiter gemeldet hätte. Man solle trotzdem stehen bleiben und die weiteren Modalitäten abwarten. Der Kern des Zuges links der Prager Straße stadteinwärts blieb dennoch in Bewegung und lief langsam auf dem Fußweg und an den Mannschaftswagen vorbei. Die dort stehenden Polizeibeamten ließen sie gewähren. Die Beamten hinter uns hatten alle Hände voll zu tun, die Antifa unter Kontrolle zu halten. Auch uns war das nicht geheuer. Bei friedlichen Menschen setzt intuitiv ein Fluchtreflex ein, wenn von hinten potentiell Gefahr droht.

Da ging es uns scheinbar ebenso wie den Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung. Sie liefen mit uns auf dem Fußweg rechts der Prager Straße an den Mannschaftswagen und Polizisten vorbei Richtung Innenstadt. Die Polizisten sahen uns und hielten uns nicht auf. Für kurze Zeit sah es so aus, als ob es ein erfolgreicher, friedlicher Spaziergang werden könnte. Die Antifa hinter uns wurde von der Polizei abgeschirmt, die Mannschaftswagen begleiteten den Zug auf der Straße.

Dann wurde vor uns auf der Prager Straße eine erneute Straßensperre sichtbar. Der Spaziergang bog deshalb nach links in die Philipp-Rosenthal-Straße ein. Auf Höhe des Klinikgeländes des Uniklinikums Leipzig und der Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie gab es plötzlich einen Stau. Wir sahen, dass die Polizei am Ende der Philipp-Rosenthal-Straße, also vor den Spaziergängern, eine – nunmehr undurchdringliche – Polizeisperre aus Mannschaftswagen und Polizeibeamten aufgebaut hatte.

Reflexartig und um Ärger aus dem Weg zu gehen, versuchten wir und andere, nach hinten auszuweichen. Doch zu spät. Auch hier hatte die Polizei eine Sperre gebildet. Ein Ausweichen zur Seite war wegen der dortigen Bebauung nicht möglich. Jetzt wurde mir richtig mulmig zumute. Nicht nur, weil ich als Demo-unerfahrener Mensch so etwas noch nie erlebt habe und ungern wie Vieh eingesperrt werde. Sondern auch, weil um die sich ruhig unterhaltenden Spaziergänger plötzlich ein so klares und unmissverständliches Bedrohungsszenario aufgebaut wurde. Von der Polizei, die uns doch eigentlich beschützen sollte.

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Wir wurden eingesperrt, laut Durchsage erneut, „um die weiteren Modalitäten des Aufzugs zu klären“. Die lautstarken Anhänger der Antifa bauten sich auf beiden Seiten des Kessels hinter der Polizeiabsperrung mit ihren Musikboxen auf und schienen sich prächtig zu amüsieren. Sie waren draußen. Wir waren eingesperrt. Rechts von uns war ein großes Schiebetor, das auf das Gelände der Uniklinik führte. Davor standen Polizisten. Ich habe nicht mitbekommen, wie es dazu kam, aber plötzlich stand dieses Tor weit offen. Der einzige Weg, um aus diesem Kessel rauszukommen.

Offensichtlich haben das in diesem Moment auch die anderen Spaziergänger erkannt. Mit einem gemeinsamen Schrei der Befreiung rannte plötzlich ein Strom von Menschen in Richtung dieses Tores. Sie wollten sich über das Unigelände nach draußen befreien. Es misslang. Die Polizei hatte das Gelände auch nach hinten abgeriegelt, schloss vorn das eiserne Tor und sperrte die Menschen ein. Es war ein grausiger Anblick. Und alles, „weil die Modalitäten des Aufzugs mit der Versammlungsbehörde geklärt werden sollen“?

Dadurch, dass ein großer Teil der Spaziergänger auf dem Gelände der Uniklinik eingesperrt worden war, war nur noch eine lockere Ansammlung von Spaziergängern, einschließlich Kindern und älteren Frauen, im Kessel. Man hätte es unter anderen Bedingungen für ein Straßenfest halten können. Es war absurd.

Ich habe einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Auch deshalb habe ich Jura studiert. Mit Prädikatsexamen und abgeschlossener Promotion. Mit Auslandsaufenthalten und Fremdsprachenkenntnissen. Immer dem Drang folgend, über den Tellerrand hinauszuschauen, unser Rechtssystem und andere Rechtssysteme kennenzulernen und zu vergleichen. Vor- und Nachteile zu erkennen. Ihren Wert für ein friedliches Zusammenleben in einer jeden Gesellschaft zu erkennen.

Ich bin ein Verfechter unserer Rechtsordnung, insbesondere unseres Grundgesetzes. Es ist aus Überzeugung von Menschen verfasst worden, die die dunklen Seiten der deutschen Geschichte miterlebt haben und die verstanden haben, worauf es wirklich ankommt. Das kann aber nur funktionieren, wenn Recht und Gesetz mit methodensicherem juristischem Sachverstand angewendet und auch durchgesetzt werden. Für die Durchsetzung ist auch die Polizei zuständig, die uns bei im Übrigen ziemlich kalten Temperaturen nun von vorn und hinten einkesselte. Da lief einiges schief.

Ich ging zu den Polizisten an die hintere Absperrung. Warum sie uns hier einsperren würden. Ich wäre zu einem friedlichen Spaziergang hinzugestoßen und wollte nichts anderes als das: friedlich spazierengehen. Ich verstünde nicht ganz, warum die Anhänger der Antifa da draußen frei herumlaufen dürften und wir nicht. Ich würde jetzt gern friedlich nach Hause gehen. Sie mögen mich doch bitte durchlassen. Es wurde mir verweigert. Man hätte Anweisungen. Ich möge bitte zurücktreten und an die Seite gehen. Der Hinweis, dass an genau dieser Seite ebenfalls einige Anhänger der Antifa stünden (sie sind offenbar in den Kessel geraten und pöbelten in gewissen Abständen die eingekesselten Spaziergänger an), wurde von den Polizeibeamten ignoriert.

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Ich erklärte, dass ich Juristin bin, dass ich eigentlich mit der Polizei zusammen und nicht gegen die Polizei arbeite. Dass ich hier nicht mit einer feindlichen Grundhaltung der Polizei gegenüberstehe und auch verstehe, dass die Polizeibeamten Vorgesetzte haben und deren Anordnungen zu befolgen hätten. Dass ich aber juristisch hinterfrage, was hier gerade passiert. Einer der Polizeibeamten erläuterte mir, der „Aufzug“ wäre nicht angemeldet worden, das weitere Vorgehen müsse deshalb mit der Versammlungsbehörde abgesprochen werden. Mein Hinweis auf Art. 8 Abs. 1 GG, wonach „Alle Deutschen (…) das Recht (haben), sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“, nahm er zur Kenntnis, verwies aber auf seine Anweisungen.

Einer seiner Kollegen mischte sich in das Gespräch ein und sagte mit drohendem Unterton, ich solle ihn und seine Kollegen hier gefälligst nicht filmen. Wie er darauf kam, dass ich filmen wolle, weiß ich nicht. Ich hatte kein Handy in der Hand. Ich sagte daraufhin wahrheitsgemäß, dass ich nicht vorhatte, zu filmen und fragte bei der Gelegenheit nach, warum eigentlich sein Kollege den Spaziergang gleich zu Beginn in Nahaufnahme (er stand ganz offen direkt neben dem Zug der Spaziergänger) mit seiner Kamera aufgenommen hätte.

Zum juristischen Hintergrund: Nach § 12a Abs. 1 Versammlungsgesetz darf die Polizei „Bild- und Tonaufnahmen von Teilnehmern bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen nur anfertigen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“. „Erheblich“ bedeutet, dass eine von den Teilnehmern verantwortete Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit Dritter oder erheblicher Sachwerte im Verlauf der Versammlung hinreichend wahrscheinlich ist.

Inwieweit von den Spaziergängern eine solche erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgegangen sein soll, war für mich nicht ersichtlich. Meine Frage wurde ignoriert. Stattdessen wurde uns angedroht, wir würden alle Bußgeldbescheide wegen der Teilnahme an einem ungenehmigten Aufzug erhalten, man hätte die Teilnehmer ja mit einer Überwachungskamera aufgenommen.

Auf meine Frage, ob den Kollegen eigentlich bewusst wäre, dass ein großer Teil der Bußgeldbescheide spätestens vor Gericht eingestellt würde, antwortete eine sehr junge Polizistin schnippisch, es würde sie nicht interessieren, was nach ihrer Arbeit hier mit den Bußgeldbescheiden passiere. Zwischendurch wurde sie von einem ebenso jungen Kollegen unterstützt, der meinte, dieser Aufzug sei nun mal rechtswidrig, hier stünde schließlich nicht die Mehrheit. 1989 wäre das anders gewesen, da wäre schließlich „die Mehrheit“ auf der Straße gewesen. Ich wandte ein, ob ich also richtig verstanden hätte, dass, wenn „die Mehrheit“ hier stünde, der Aufzug dann in Ordnung wäre. Es müssten also einfach noch mehr Spaziergänger zusammenkommen. Naja, sagte er, das wäre doch Demokratie. Die Mehrheit würde halt sagen, was richtig ist. Der junge Mann wurde daraufhin von einem seiner Kollegen gebeten, still zu sein.

Zwischenzeitlich erlitt eine Frau um die 60 Jahre neben mir eine Panikattacke. Sie fing an zu schreien, sie wolle hier raus, sie wolle nur noch nach Hause, es ginge ihr nicht gut. Ich bat den jungen Polizisten mit dem interessanten Demokratieverständnis darum, die Frau bitte gehen zu lassen. Es wäre doch offensichtlich, dass es ihr nicht gut ginge. Daraufhin verwies er auf seine Anweisung, niemanden durchzulassen. Er hätte ihr schließlich angeboten, einen Rettungswagen zu holen. Darauf hätte sie nicht reagiert.

Der Hinweis meines neben mir stehenden Mannes, dass erst neulich bei einem Polizeieinsatz dieser Art ein Mann einen Herzinfarkt erlitten hätte und gestorben wäre (gemeint war Boris Pfeiffer, der Sänger der Band „In Extremo“, der bei einem Spaziergang in Wandlitz nach Feststellung seiner Personalien einen Herzinfarkt erlitt) wurde abgetan mit den Worten: „Sie reden Unsinn“. Mein Appell an die Menschlichkeit in einer solchen Situation verpuffte. Die Frau wurde stehen gelassen.

Etwa eine Stunde später, in der die eingekesselten Spaziergänger sich mit Hin- und Herlaufen, Laufspielen wie „vor-zurück-zur Seite-ran“ und mit Tanzen zu Michael Jacksons „Heal the World“ versuchten, warm zu halten, wurden wir sehr zögerlich und „einzeln oder in sehr kleinen Gruppen“ zwischen den Polizeifahrzeugen in die Freiheit entlassen. Erst nach hinten, wo dann wieder dichtgemacht wurde, weil sich die Antifa dort von außen sammelte. Dann nach vorn, wo wir uns zwischen den eng stehenden Mannschaftswagen hindurchzwängen durften. Es sah ein bisschen nach Viehtrieb aus. Die Begründung für dieses Vorgehen: man wolle vermeiden, dass die Spaziergänger sich wieder zusammenfinden und weiterlaufen würden. Die Antifa dürfte sich ins Fäustchen gelacht haben.

Am nächsten Tag lasen wir in Erwartung eines entsprechenden Framings die passende Überschrift zu einem Hauptartikel in der Leipziger Volkszeitung: „Corona-Demonstranten dringen in Klinikgelände ein, „Ausschreitungen bei Aufzug im Südosten: „„Spaziergänger“ [bewusst in Anführungszeichen gesetzt] durchbrechen Polizeikette“. In seinem separaten Kommentar äußerte der Autor dieses Hauptartikels, es sei angesichts der konkreten Situation vor Ort und der Örtlichkeiten wahrscheinlicher, dass die Demonstranten einfach nur aus dem Polizeikessel entweichen wollten. Damit dürfte er richtig liegen. Die Polizei ermittelt gegen diese Demonstranten derweil wegen Land- und Hausfriedensbruch.

Weiterführend:
Die Welt berichtete von einem „Sturm auf die Psychiatrie“.

Ein Bericht aus Perspektive des Bündnis 90/Die Grünen Kreisverband Leipzig in der Leipziger Internetzeitung mit dem Titel: „Rechter Sturm auf eine psychiatrische Klinik“.

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