„Wir sind Deutschlands starke Mitte.“ Der Satz soll wie eine Feststellung klingen, in Wirklichkeit ist er aber eine Beschwörungsformel. Annegret Kramp-Karrenbauer gibt dieses rhetorische Leitmotiv in ihrer Parteitagsrede vor. Und alle anderen, Armin Laschet, Markus Söder, aber auch Friedrich Merz nehmen es auf und stellen es – wie sollte es anders sein – in die Mitte ihrer Ausführungen. Allerdings in Variationen. Laschet definiert die Mitte anders als sein bayerischer Kollege Söder, und auch Friedrich Merz hat ein eigenes Bild davon, wie die deutsche Gesellschaft in ihrem Zentrum tickt. Aber alle verbindet, dass für sie klar ist: Der politische Auftrag der Union ist es, diese Mitte zu repräsentieren. Man kann es auch so sagen: Für die CDU ist Establishment kein Schimpfwort, es ist ihre Sehnsucht. Denn die Zugehörigkeit zum Establishment ist die Basis für politische Macht. Diese Einsicht gehört zur DNA der Union. Und sie hat sich in ihrer bisherigen Geschichte immer bestätigt.
Verstehen, was die alte Mitte war
Wer aber über die neue Mitte nachdenkt, sollte erst einmal verstehen, was die alte Mitte war. Zwei Tage vor dem CDU-Parteitag hat sie sich versammelt, mitten im Kernland der alten Bundesrepublik, im Hotel Bristol unweit des Bonner Hauptbahnhofs: Seit 74 Jahren lädt das Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg zum Buß- und Bettag. Das Institut war in der Bonner Republik eine Institution. Die Gründer um den Dominikaner-Pater Laurentius Siemer hatten ihre Wurzeln im Widerstand gegen das NS-Regime und waren dann mit dabei, als die CDU nach dem Krieg aus der Taufe gehoben worden ist. Walberberg war in seiner Hochphase der katholische Think Tank der Bonner Republik, ein Ideengeber für den Rheinischen Kapitalismus auf der Basis der katholischen Soziallehre. Der damalige Institutsleiter Pater Basilius Streithofen hat Helmut Kohl in Wirtschafts- und Sozialfragen beraten.
Die neue Mitte reflektiert, theoretisiert, ideologisiert
Der Zuspruch für Ockenfels erklärt sich so: Der Pater hat hier auf den Begriff gebracht, was für diese alte Mitte selbstverständlich war. Sie hatte ein Wertefundament im Christentum, aber nicht um daraus nun ein gesinnungsethisch-geprägtes politisches Programm abzuleiten. Sondern als Orientierungspunkt in der praktischen Politik. Diese christliche Prägung war intuitiv, selbstverständlich, da musste nicht mehr viel reflektiert werden. Aber die neue Mitte tut das: Sie reflektiert ständig, theoretisiert, ideologisiert – für sie scheint nur selbstverständlich zu sein, das Selbstverständliche in Frage zu stellen. „Kein Mensch hat 1949 an die ,Ehe‘ für alle gedacht“, sagt etwa Josef Isensee in seinem Vortrag. Der renommierte Staatsrechtslehrer benennt damit eine weitere Verunsicherung: Man ist hier zusammengekommen, nicht nur, um sich an die Verabschiedung des Grundgesetzes zu erinnern, die Verfassung soll auch gefeiert werden. Schließlich hat sie sich bewährt.
Warum aber kann das Bewährte nicht einfach bewahrt werden? Das war der grundkonservative Impuls dieser alten Mitte. Heute aber wird dieses Bewährte ständig vermeintlichen Reformen unterzogen. Wer kann diese politische Entwicklung stoppen? – das ist die unausgesprochene Frage, die durch den Saal schwebt. Früher hätte hier die sehr große Mehrheit gesagt: die Union. Aber heute? Ockenfels, CDU-Mitglied und seit vielen Jahren schon ein Kritiker des inhaltlichen Profils der Partei, sitzt mittlerweile auch im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius Erasmus-Stiftung.
Zurück nach Leipzig: Haben diese alte Mitte die Redner auch im Blick, wenn sie beim Parteitag stets beschwören, dass ihre Union doch eben die Partei der ganzen Mitte sei? Zwischen alt und neu wird da natürlich nicht unterschieden. Gewiss, das mag aus PR-Gründen nachvollziehbar sein. Trotzdem lässt sich doch heraushören, wie die Partei-Granden, die hier letztlich auch zum Schaulaufen auf dem Weg zur Kanzlerkandidatur antreten, zu dieser Frage stehen.
Die Abgehobene: Angela Merkel scheint sich endgültig in den politischen Olymp verabschiedet zu haben. Sie sitzt zwar die ganze Zeit über brav auf dem Podium, hält ein kurzes Grußwort und bekommt natürlich auch die üblichen Standing Ovations. Doch wenn sie da nun dort recht versonnen im Präsidium sitzt, denkt sie wohl eher über ihren Platz in den Geschichtsbüchern nach, als über ihre nächste Rede im Parteivorstand. Gewiss wird sie nicht kritisch hinterfragen, ob die von ihr praktizierte Wahlkampfstrategie, die sogenannte asymmetrische Demobilisierung, der CDU wirklich gutgetan hat. Gerade diese Methode hat jedenfalls bewusst die politischen Wünsche der alten Mitte zur Seite geschoben. Freilich, dass Merkel nun zunehmend dem politischen Alltag entrückt, könnte auch zur Chance werden. Könnte die CDU doch nun, ohne falsche Rücksichten nehmen zu müssen, tatsächlich in die Debatte über ihre inhaltliche Zukunft eintreten.
Der Souveräne: Genau diese analytische Fähigkeit bringt Friedrich Merz mit. Und auf den ersten Blick scheint er auch der richtige Mann dafür zu sein, alte wie neue Mitte gleichzeitig anzusprechen. Seine Gegner nennen ihn deswegen einen „Mann der 90er“. Doch Merz ist nicht gleichzusetzen mit der Kohl-CDU. Allein schon deswegen nicht, weil sein Fokus auf der Wirtschaftspolitik liegt. Ihm fehlt allerdings das, was die Volkspartei ausmacht – und genau dieser Anspruch gehört ja auch zum politischen Kanon der alten Mitte: die christlich-soziale Prägung. Vielleicht hat er sie sogar, er bringt sie aber nicht zur Sprache. Zu gut funktioniert ja auch seine Strategie, quasi als Personifikation ordnungspolitischer Konsequenz zu wirken. Aber reicht dieses Profil, um die gesamte Mitte zu erreichen? Man merkt, dass Merz immer öfter versucht, dieses Manko auszugleichen. Der Verweis darauf, dass es auch „jenseits von Angebot und Nachfrage“ wichtige christdemokratische Grundwerte gebe, gehört mittlerweile zum festen Repertoire seiner Reden. Doch wenn er über das ,C‘ spricht, dann wirkt das, anders bei AKK, nicht emotional, sondern eben analytisch kühl. Die Mitte hat aber auch ein Herz.
Laschet weiß das Gemüt der Zuhörer anzusprechen
Der Integrative: Das Gemüt der Zuhörer weiß er anzusprechen: Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Rein milieumäßig ist er mit der alten Mitte verbunden: Aachener, Rheinländer, katholisch. Freilich erwarb er sich in der Union bisher den Ruf als Liberaler. Sein Schwerpunkt war die Integrationspolitik, Jürgen Rüttgers machte ihn zum ersten Integrationsminister des Landes. Das böse Wort vom „Türken-Armin“ machte damals auf der Partei-Rechten die Runde. Aber: Erstens hat Laschet damals zumindest inhaltlichen Ehrgeiz gezeigt. Und er hat sich zumindest dem Thema Migration gestellt, das damals auch vielen Partei-Rechten viel zu heiß war. Heute würde er wohl auch die Akzente anders setzen. In NRW fährt er mit seinem Innenminister Herbert Reul jedenfalls einen harten Kurs, für mehr innere Sicherheit. Ob eine echte Läuterung dahintersteht, ist schwer zu sagen. Aber klar ist: Laschet nimmt die Rolle des Brückenbauers zwischen den Unionsflügeln an. Entsprechend ist seine Parteitagsrede gelaufen. Der Subtext: Schaut her, ich bin der fleischgewordene Kompromiss, ich bin die fleischgewordene Union. Wenn Laschet diesem Ansatz treu bleibt, dann kann er die alte Mitte zumindest nicht ignorieren.
Der Star: Markus Söder scheint das bereits geschafft zu haben, wonach sich die große Schwester der CSU sehnt: Der bayerische Ministerpräsident hat seine Partei befriedet, er fährt einen Reformkurs. Gibt aber zumindest vor, dabei die alte Stammwählerschaft nicht aus dem Auge zu verlieren. Ob dieses Experiment ihm wirklich gelingen wird, bleibt noch abzuwarten. Beim Parteitag war er jedenfalls der Star-Redner, die Herzen der Delegierten flogen ihm geradezu zu. Hier zeigt sich noch einmal die Establishment-Sehnsucht: Die CSU ist in Bayern eben immer noch genau das: Establishment – wenn jetzt eben auch manchmal ohne Krawatte, so wie auch Söder bei seinem Auftritt.
Wird die Union ihre Mitte finden? In der alten Mitte herrscht wohl die Vorstellung: Seine Mitte findet man nicht, man hat sie. Aber es hilft ja vielleicht beten.
Dieser Beitrag von Sebastian Sasse erschien zuerst am 28.11.2019 in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur.