Unter Philosophen ist es üblich, in der pluralistischen Gesellschaft so etwas wie den End- und Zielpunkt moderner sozial-politscher Entwicklung zu sehen. Diesen Standpunkt vertritt eine Wiener Philosophin namens Isolde Charim mit viel Beredsamkeit. Ihr zufolge sei es ein natürlicher und wünschbarer Prozess, dass sich Identitäten auffächern, verschmelzen und ins Amorphe auflösen, so dass jeder Mensch sozusagen in verschiedenen Spielfiguren auf der sozialen Bühne erscheint. Die ganze Buntheit der Welt darf und soll sich in jedem einzelnen Individuum spiegeln.
Der Mann ohne Eigenschaften
Was der für diese Vision begeisterten Wiener Philosophin dabei entgeht, ist die Kehrseite der Medaille. Zwangsläufig werden von einer solchen Amalgamierung alle Gegensätze und narrativen Eindeutigkeiten ausgelöscht, welche die Menschen früher einmal durch Traditionen, Nationalität, Glauben etc. mit holzschnittartiger Bestimmtheit prägten. Sie werden im selben Individuum vermischt, verrührt und schließlich eingeebnet. Was daraus entsteht, ist der Mensch ohne Eigenschaften. Kulturelle Verschiedenheit wird zur bloßen Verkleidung, die sich jeder nach eigenem Geschmack und Gutdünken schneidert, wohl wissend, dass sie jederzeit gegen eine andere ausgetauscht werden kann. Wer so zwischen verschiedenen Identitäten wie zwischen Karnevalsmasken wechselt, der identifiziert sich mit keiner von ihnen, weil keine von ihnen in seinen Augen einen bedingungslos sinnstiftenden Wert repräsentiert.
Der Ja-Aber-Intellektuelle
Anders gesagt, führt uns Isolde Charim den von Musil in seinem berühmten Roman beschriebenen Menschen vor Augen, den typischen Intellektuellen unserer Zeit, dessen Wesensmerkmal eben jene multiple Identität ist, mit der er in einer Welt der „allgemeinen Relativität“ am besten zurechtkommt. Die typische Reaktion, die der Intellektuelle jedem eindeutigen, festgezurrten Standpunkt entgegenhält, ist das „Ja – aber“ – das Grundprinzip allen Relativismus. Es gibt für ihn kaum einen Gegenstand der öffentlichen Diskussion, der in ihm nicht ein Schwanken zwischen Gegensätzen auslösen würde – eben das „Ja – aber“, das er oft mit einem ausweichenden „Jein“ auf die kürzeste denkbare Formel bringt.
Eigentum
Diese Grundformel des allgemeinen Relativismus gehört als unablösbares Wesensmerkmal zur multiplen Persönlichkeit. Wozu diese ihre Meinung auch äußern mag: Sie tut es auf charakteristische Art mit einem „Ceterum censeo“. Nehmen wir etwa das Eigentum. Seit Jean-Jacques Rousseau gibt es eine vorwiegend linke Tradition, die im Eigentum den Ursprung aller sozialen Verderbnis erblickt. In der Tat bezweifeln nur ideologisch hartgesottene Realitätsverweigerer, dass die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, wie sie weltweit ebenso wie innerhalb Europas besteht, eine akute Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft bildet – auch für den der Europäischen Union mit ihrem unerträglichen Gegensatz zwischen einem verarmenden Süden und einem reichen Norden. Andererseits weiß jeder ökonomisch halbwegs Gebildete (mit Ausnahme doktrinärer Marxisten), dass überall auf der Welt erst die Institution des persönlichen Eigentums und dessen Schutz vor willkürlichem Zugriff den kometengleichen Aufstieg moderner Staaten ermöglicht hat. Der gebildete Intellektuelle kann gar keine andere Haltung als die des Ja-aber beziehen.*1*
Neoliberalismus
Oder nehmen wir den sogenannten Neoliberalismus und den von diesem propagierten freien Handel. Einige können das fragliche Wort nicht über die Lippen bringen, ohne zugleich von „Wahnsinn“ zu reden, womit sie durchaus im Recht sind, wenn man an die Verwüstungen denkt, die ein ungezähmter ökonomischer Egoismus in manchen Teilen der Welt anzurichten vermochte.*2* Doch wer diesem Urteil sein ceterum censeo, eben ein „Ja-aber“ entgegenhält, ist keinesfalls weniger im Recht, denn ein bedeutender Teil der heute lebenden Menschheit, vor allem die asiatischen Tiger und China, verdanken ihren kometengleichen Aufstieg – ihr Wirtschaftswunder – im Wesentlichen dem Freihandel und der neoliberalen Deregulierung. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass außer Deutschland auch ganz Nordeuropa in der Gesamtbilanz ebenfalls zu den Profiteuren gehört. Angesichts solcher Widersprüche fällt es einem intellektuell redlichen Beobachter schwer, sich auf eine eindeutige Meinung festzulegen. Er wird einräumen, dass Eigentum manchmal zum Verbrechen wird oder der Neoliberalismus zum Wahnsinn, dass aber beide in anderen Fällen die Grundlage für Wohlstand und Reichtum bilden. Frohlocken und vorbehaltlose Verdammnis sind gleich fehl am Platze. Es kommt darauf an, Vorzüge und Versagen je nach Situation und Einzelfall sorgfältig gegeneinander abzuwägen bzw. sich darüber im Klaren zu sein, dass unter Umständen den einen nützt, was den anderen schadet – jede Verallgemeinerung erweist sich als Fehler.
Bofinger contra Fuest
In der Spiegelausgabe vom 27.3.2017 diskutierten zwei deutsche Starökonomen, Peter Bofinger und Clemens Fuest, unter anderem über soziale Gerechtigkeit. Bofinger fragte: „Stellen Sie sich vor, Sie sind 50 Jahre alt, haben das halbe Leben Ihrer Firma gedient und auch immer Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt. Und dann kommt die Restrukturierung und der Rauswurf, und nach 15 Monaten finden Sie sich auf der untersten Stufe der Gesellschaft bei Hartz IV wieder. Bei Leuten, die nie gearbeitet haben und über keine Qualifikation verfügen. Ist das gerecht?“ Darauf Fuest: „Es geht um ein Abwägungsproblem, das bei den Hartz-Reformen im Mittelpunkt stand. Absicherung ist wichtig. Aber wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass längere Zahlung von Arbeitslosengeld auch die Dauer der Arbeitslosigkeit verlängert.“
Der durchschnittliche Leser schwankt keinen Augenblick, welche Position er hier als sympathisch, mitfühlend und auch gerecht bewertet.
Doch abermals ist ein Intellektueller, der sich das abwägende „Ja-aber“ zu eigen macht, weniger schnell mit dem Urteil. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich zum Exportstaat gemacht, einen Gutteil ihres Reichtums verdankt sie der Qualität ebenso wie den Preisen der von ihr in alle Welt ausgeführten Produkte. Das bringt sie natürlich in Abhängigkeit von anderen Staaten, die mit ähnlichen Produkten und Preisen ihre Konkurrenten sind – vor allem also den Staaten mit geringeren Löhnen, niedrigeren Steuern oder laschen Umweltauflagen. Bofinger wäre vorbehaltlos im Recht, wenn es diesen äußeren Druck nicht gäbe. Aber weil es ihn gibt und weil sich Deutschland durch seinen Export diesem Druck freiwillig ausgesetzt hat, ist die Bundesrepublik ein großes Arbeitshaus, eine gewaltige Produktionsmaschine, die permanent auf vollen Touren und mit höchster Anspannung laufen muss, um die eigene Stellung in der Weltwirtschaft zu behaupten. Längere Arbeitslosigkeit, da hat Fuest Recht, kann sich ein Staat nicht leisten, der äußerem Druck so stark ausgesetzt, so von ihm abhängig ist. Denn die Konkurrenten drängen den Exportstaat Deutschland mitleidslos aus dem Markt, wenn er sich Mitleid mit der eigenen Bevölkerung leistet. Daher das „Ja-Aber“ von Clemens Fuest, das zweifellos auf ökonomische Grausamkeit und offensichtliche Ungerechtigkeit hinausläuft.
Religion
Oder betrachten wir ein ganz anderes Thema, das aber für die Intellektuellen aller Zeiten immer das heikelste war: die Einstellung zur Religion. Typischerweise schreckt der Mensch ohne Eigenschaften vor jedem vorbehaltlosen Bekenntnis zurück. Er mag sich keiner der offiziellen Gottheiten unterwerfen – weder Jahwe noch Allah oder „unserem Herrn Jesus Christus“. Typischerweise ist er allerdings auch nicht so naiv, der Wissenschaft – seit der Aufklärung eine Art von Ersatzreligion – die Lösung aller Rätsel zuzutrauen (wie noch Bertrand Russell oder Richard Dawkins). Er ist sich bewusst, dass es eine Dimension der Wirklichkeit gibt, die sich aller menschlichen Deutung entzieht. Schon die einfachsten Fragen des Kindes, warum und wozu wir überhaupt da sind, gehören zu diesem Geheimnis. Dieses Wissen macht ihn tolerant – der Religion gegenüber wie auch deren ideologischem Ersatz. Von seinem Standpunkt der allgemeinen Relativität aus betrachtet, sind sie für ihn, was sie schon für den großen Aufklärer Lessing waren: tastende Versuche, das letzthin Unerkenn- und Unerklärbare in menschliche Erzählungen und deutbare Bilder zu übertragen. Am liebsten würde er morgens Christ, mittags Muslim, am Abend Jude sein, alle religiösen Identitäten zeitweise übernehmen, aber sich von keiner vereinnahmen lassen, weil das Geheimnis des Lebens ihm größer erscheint, als jede von ihnen es darzustellen vermag.
Vor Lessing gab es schon Rumi
Isolde Charim hält den Menschen, der alles in sich absorbiert, ohne sich von irgendetwas vereinnahmen zu lassen, also den Menschen ohne Eigenschaften, den Menschen mit multipler Identität, für eine Errungenschaft der Moderne. Da ist sie freilich im Unrecht. Diesen Menschen, den kosmopolitischen Intellektuellen, den die Nazis ebenso abgründig hassten wie der IS und überhaupt sämtliche politischen, religiösen und moralischen Fundamentalisten, hat es von jeher gegeben. Gotthold Ephraim Lessing hatte einen genialen, wunderbaren Vorläufer namens Dschelal ed-Din Rumi, der ein halbes Jahrhundert vor ihm im 13. Jahrhundert lebte. Statt Nathan, den Weisen, zu beschreiben, der keinem Ring die absolute Geltung zuerkennt, aber sie doch alle zu würdigen weiß, beschrieb Rumi die eigene multiple Identität in den folgenden Versen:
„Was soll ich tun, o ihr Muslime? Denn ich kenn mich selber nicht: Weder Christ bin ich noch Jude, und auch Pars und Muslim nicht;
Nicht von Osten, nicht von Westen, nicht vom Festland, nicht vom Meer, Nicht stamm ich vom Schoß der Erde und nicht aus des Himmels Licht.“
Mystiker als erste Kosmopoliten
Die multiple Persönlichkeit, die jedem verfestigten Bild – in diesem Fall jedem verfestigten Gottesbild – ihr mutiges „Ja-aber“ entgegensetzt, trug damals einen anderen Namen. Solche Menschen wurden als „Mystiker“ bezeichnet, weil ihre Weltsicht den gewöhnlichen Gläubigen mysteriös bis unverständlich erschien. Die Mystik ist in Indien zweitausend Jahre alt. Sie bezeichnet, wie Rudolf Otto in seinem berühmten Buch beschrieb, eine universale Wahrheit, da man ihr auf der ganzen Welt begegnet: Ihr und dem Menschentyp, der sie in höchster Form repräsentiert, denn dieser Typ ist eben nichts anderes als der multiple Intellektuelle.
Gefährdete Existenz
Eine gerade Linie führt von den Mystikern früherer Zeiten zu dem modernen kosmopolitischen Intellektuellen einer Isolde Charim, der keine bestimmte Identität besitzt, weil er alle Identitäten in sich umgreifen möchte. Es sind die wissendsten, die geistig am weitesten expandierenden, in diesem Sinne auch die kostbarsten Menschen, die über die Distanz von Jahrtausenden eine gemeinsame Sprache reden. Aber es sind auch die am stärksten gefährdeten – davon scheint die Wiener Philosophin nichts zu ahnen, sonst würde sie nicht den End- und Zielpunkt der Geschichte in dieser Entwicklung sehen. Mystiker und Kosmopoliten wurden immer wieder grausam verfolgt *3* – und es ist einzusehen, warum es dazu kommen musste.
Das Unverständnis der Menge
Mit einer Lehre, die alles für möglich und denkbar hält, weil sie jeden eindeutigen Standpunkt relativiert, hat eine Bevölkerungsmehrheit nie etwas anfangen können. Diese Mehrheit will wissen, ob Eigentum richtig ist oder nicht, ob Freihandel gut ist oder schlecht, ob man gleichgeschlechtliche Liebe, Euthanasie oder Abtreibung dulden soll oder nicht, ob man die Grenzen schließen soll oder offenhalten. Früher war es – und ist für viele immer noch – von existenzieller Bedeutung, ob Gott Allah heißt oder Jahwe und ob man sich mit Schweinefleisch ernährt oder koscher oder sich über alle Vorschriften hinwegsetzt. Eine Mehrheit der Bevölkerung verlangt eindeutige Antworten und klare Entscheidungen für das eigene Handeln – und diese bekommen sie immer nur von einer konkreten Religion, einer konkreten Kirche, Sekte oder politischen Gemeinschaft, aber niemals von dem Menschen an sich, dem Menschen ohne Eigenschaften, dem Mystiker oder dem alles verstehenden Kosmopoliten.
Isolde Charim vergisst, dass der Mensch der vielen Identitäten, die dieser alle mit gleicher Empathie in die Arme schließt, eine Ausnahmeerscheinung ist. Der Mensch, der alles versteht und am Ende vielleicht sogar alles verzeiht, gehört einer Elite an, einer Minderheit, die niemals und nirgendwo zur Mehrheit wurde, weil er dieser die elementaren Gewissheiten nimmt, für die und von denen sie lebt.
Freiheit und Polizei
Der Mann ohne Eigenschaften – Verkleidungskünstler mit wechselnden Identitäten, der sich zu keiner von ihnen eindeutig bekennt, weil der vollkommene Mensch für ihn alles ist: alle jemals realisierten kulturellen Ausformungen, Anschauungen, Hoffnungen – lebt in Wahrheit ein geistiges Leben außerhalb der realen Gesellschaft. Wenn es ihm dennoch gelingt, seine Vorstellungen in diese hineinzutragen, dann verlangt er dieselbe Freiheit, die er für sich selbst reklamiert, auch für die anderen, anders gesagt, begründet er die permissive Gesellschaft. Folglich werden auch in dieser alle gewachsenen Sitten, Traditionen und Standpunkte relativiert und im eigenen Wirkungsbereich mit der Zeit effektiv unterdrückt, weil eben alle nur möglich und deshalb letztlich beliebig sind – immer konfrontiert mit einem sie in Frage stellenden „Ja-Aber“. Dieses Bestreben wächst der permissiven Gesellschaft schließlich so an den Leib, dass sie am Ende in akute Gefahr gerät, auch ihr eigenes Fundament zu relativieren. Sie ist so duldsam, so grundsätzlich tolerant, dass sie selbst jene in ihrer Mitte duldet, die nur darauf lauern, sie fundamentalistisch aus den Angeln zu heben. Der grundsätzlich tolerant-permissiven Gesellschaft erscheint selbst die eigene Toleranz am Ende nicht mehr als Wert an sich – das „Ja-Aber“ drängt sich dazwischen.
Wohin das am Ende führt, hat ein so kluger Dichter und Philosoph wie Paul Valéry hellsichtig erkannt. Die Leute, so sagte Valéry sinngemäß, gieren nach Freiheit, sind unersättlich danach. Mit Vergnügen reißen sie eine Barriere von Moral und Tradition nach der anderen ein – bis sie es dann irgendwann mit der Angst bekommen und die Polizei herbeirufen.
Auf der Suche nach dem verlorenen Feind
Der Punkt, wo die auf solche Weise erzeugte Unsicherheit vielen als unerträglich erscheint, ist meist viel früher erreicht. Auch wenn gar keine wirklichen Feinde vorhanden sind, stehen jetzt Demagogen auf, die nach ihnen suchen und sie zur Not frei erfinden. Denn im Grunde wird ja nach Namen für die unterschwellig vorhandene Angst gesucht. Ob Lega Nord, Front National, die AfD oder die österreichische FPÖ zählt letztlich wenig. Auch der Unterschied zwischen Rechts und Links ist eher nebensächlich. Was für die Menge zählt, ist etwas anderes, nämlich die Sicherheit eines eindeutigen Weltbilds, die sie sich von politischen, moralischen oder ideologischen Instanzen erhofft. Das Einschwören auf deklarierte Feinde – erfundene oder reale -, ist dabei ein Mittel der Wahl, dessen sich außer den genannten rechtsradikalen Parteien auch autoritäre Staatsoberhäupter bedienen, Wladimir Putin zum Beispiel auf höchst raffinierte, der neue amerikanische Präsident dagegen auf vergleichsweise primitive Weise.
Hauptfeind Liberalismus
Es ist kein Zufall, dass alle diese Bewegungen einfache Lösungen propagieren und ihren Hauptfeind im Liberalismus sehen, unter dem sie genau jene Haltung des permissiven „Ja-Aber“ verstehen, die für sie die Auflösung aller Gewissheiten bedeutet. Isolde Charim scheint daran zu glauben, dass die moderne Gesellschaft auf dem Weg ihrer Befreiung von allen historisch gewachsenen Identitäten immer weiter voranschreiten wird. Dagegen war Paul Valéry überzeugt, dass sie irgendwann nach der Polizei rufen wird. Ich bin mit Frau Professor Charim der Meinung, dass eine Gesellschaft, die sich nach ihren Vorstellungen entwickelt, ein Ideal verwirklichen würde, zumal ich selbst ja zum Lager der Kosmopoliten und Ja-Aber-Intellektuellen gehöre. Trotzdem fürchte ich, dass Paul Valéry sich durch Realismus auszeichnet und mit seiner historischen Hellsicht deutlich im Recht ist. Denn die geschichtliche Realität spricht unmissverständlich dafür, dass Gesellschaften in ihrer Entwicklung immer zwischen zwei entgegengesetzten Polen schwanken: Eine durch bornierte Regeln allzu sehr kujonierte Bevölkerung wird gegen das Zuwenig an Freiheit irgendwann rebellieren. Sie wirft ihre Fesseln ab und wird, kaum dass sie dabei erfolgreich ist, zunehmend permissiver – solange bis das daraus bestehende Unbehagen und die daraus erwachsende Desorientierung aus ihr selbst jene Kräfte hervorbringen, die wieder auf die Einschränkung von Freiheit, auf neue Gewissheit, neuen Glauben, neue Unterwerfung zielen – ein dauerndes Auf und Ab.
Verantwortung
Eine solche Sicht wirft natürlich die Frage der Verantwortung auf. Der Mensch der vielen Identitäten, der Kosmopolit, ist vor allem innerhalb der Eliten zu finden, selten unter jenen Menschen, die sich dem täglichen Arbeitskampf stellen müssen. Die Verunsicherung, die ein Übermaß an Freiheit bei Menschen bewirkt, die sie als eine Infragestellung ihrer Gewissheiten erleiden, kommt deshalb in aller Regel von oben.
Meiner Ansicht nach ist daraus der Schluss abzuleiten, dass die Verantwortung für die Erstarkung der Demagogen auch bei den Eliten zu suchen sei, also bei jenen Menschen, die etwas zu leichtfertig meinen, dass ihre eigene Weltsicht – eine elitäre Sicht, deren Offenheit und letzte Ungewissheiten eben auch nur eine Elite auf Dauer zu ertragen vermag – auch für die Mehrheit gut und gültig sein müsse. Weil das bis heute niemals so war und wohl auch in Zukunft nicht zu erwarten ist, wiederholt sich Geschichte auf traurige Weise: Schlägt das Pendel in der einen Richtung zu weit aus, dann ist damit zu rechnen, dass das auch auf der anderen Seite geschieht.
1 Aufschlussreich ist das Buch von Daron Acemoglu und James A. Robinson: „Why Nations fail“.
2 Egbert Scheunemann zählte für mich bis vor kurzem zu jenen Fundamentalideologen, die keiner Differenzierung fähig sind. Ich muss mich korrigieren. Sein kurzer Bericht über Griechenland ist hervorragend und viel ausgewogener als der von ihm sonst so unermüdlich wiederholte Refrain vom „neoliberalen Wahnsinn“ vermuten ließ. Das gilt insbesondere für seine Ausführungen über Vor- und Nachteile von Privatisierungen.
3 Indien war von jeher und ist bis heute jenes Land, wo sich der geistige Kosmopolitismus am freiesten entfalten konnte. Dass er dort auch am wenigsten durch Verfolgung gefährdet war, erklärt sich aus einer gesellschaftlichen Eigenart, die wir bei uns auf keinen Fall dulden wollen: der religiös stipulierten menschlichen Ungleichheit. Aufgrund dieser geburtsbedingten Ungleichheit kam die mystische Relativierung und Vervielfältigung der eigenen Person nur für die höchsten Kasten in Frage, in der Masse der Bevölkerung herrschte von jeher die krasse Eindeutigkeit ganz konkreter Glaubens- und Handlungsimperative.