Der 19. Dezember 2016 verband zwei Ereignisse an zwei Orten, die an einem Tag zwei verschiedene Gewaltformen ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit rückten: am Nachmittag in Ankara das Attentat auf den russischen Botschafter, eine Hinrichtung durch einen selbst ernannten Henker vor laufender Kamera; am Abend in Berlin der Massenmord an einem Dutzend Bewohnern und Besuchern der Metropole, ein Massaker vor vieler Augen durch einen selbst ernannten Gotteskrieger.
Was haben beide Ereignisse außer dem Tag gemeinsam? Dass jeder der Gewalttäter ein Muslim war – und dass beide Muslime tot sind. Tot wie ihre Gewaltopfer, die keine Muslime waren. Das ist deren Gemeinsamkeit am 19. Dezember.
Was unterscheidet die Gewaltopfer?
Der Tote des Attentats erhielt ein Staatsbegräbnis, die Toten des Massenmordes haben kein Gesicht und nicht einmal Namen. Das verweist auf die Verschiedenheit der Gewalttaten – und ihrer Rezeption.
Was unterscheidet die Gewalttaten?
Ankara. Die Gewalttat richtet sich gezielt gegen ein einzelnes Individuum und gegen ein bestimmtes: den russischen Botschafter. Der russische Botschafter ist Teil der russischen Nomenklatura, ein Vertreter der politisch herrschenden Elite. Das Staatsbegräbnis mit Präsident Putin machte dies wenige Tage später kenntlich. Putin weiß oder spürt es: das war substitutiver Tyrannenmord. Dieser politische Mord galt stellvertretend ihm: „Vergesst nicht Aleppo, vergesst nicht Syrien“, rief der Attentäter vor weiterhin laufender Kamera.
Das Attentat war eine symbolische Vergeltung für den staatlichen Massenmord an der muslimischen Wohnbevölkerung Aleppos und anderer syrischer Städte, die das Bombardement der russischen Luftwaffe zu Tausenden mit dem Leben bezahlt hatte. Dass nun den russischen Armeechor, der den Helden der Lüfte auf syrischem Boden das Weihnachtslied singen sollte, das Schwarze Meer verschluckte, werden die Überlebenden der Bombardements als gerechte Strafe empfinden, auch wenn sie, wieder substitutiv, die willigen Helfer der Massenmörder traf, die Entertainer der Armee.
Berlin. Die Gewalttat richtet sich wahllos gegen ein zufälliges Kollektiv, aber gegen ein bestimmtes: Ungläubige. Besucher eines deutschen Weihnachtsmarktes, überwiegend Christen, in Berlin auch Atheisten, selten Juden, sind Teile der Bevölkerung oder deren Gäste; sie vertreten niemanden außer in den Augen eines Gläubigen die Ungläubigen. Den gewählten Vertretern der Ungläubigen galt der Anschlag nicht; denn die politische Elite bewegt sich in gepanzerten Limousinen durch ihr Land. Sie herrscht, unerreichbar für den Gewalttäter, und trinkt nicht Glühwein auf Weihnachtsmärkten. Die Berliner Gewalttat galt den Ungläubigen als solchen, einem konstruierten Kollektiv, einer Projektion, die nur in islamischer Vorstellung existiert.
Die Gewalttaten von Ankara und Berlin könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Gewaltformen sind entgegengesetzt. Dabei ist ohne Belang, ob die Gewalttäter in Selbstermächtigung handelten oder in Vertretung einer islamischen Gemeinschaft Gleichgesinnter. Ihr Handeln unterscheidet sie.
Ankara. Bei dem Attentat stirbt ein bestimmter Vertreter einer politischen Elite an der Macht, die mit ihren militärischen Machtmitteln staatlichen Massenmord in einem muslimischen Ausland verübt. Selbst punktuell totalitär wie jeder tödliche Anschlag, zielt das prosyrisch motivierte Attentat symbolisch auf eine strukturell totalitäre Machtpolitik. Der Attentäter tötet niemanden außer seinem designierten Opferlamm. Alle sollen sehen: ein Akt stellvertretender Notwehr.
Berlin. Bei dem Massenmord sterben wahllos etliche Bewohner und Besucher einer Metropole, deren politische Elite keinerlei über Eigennutz hinausreichende Machtmittel bereithält, ihre Bevölkerung gegen Angriffe aus dem muslimischen Ausland zu verteidigen. Und ein polnischer Fahrer, den der Attentäter aus dem Wege räumt. Animiert von einer strukturell totalitären Machtpolitik, beabsichtigt der islamisch motivierte Massenmord die Erschütterung einer liberalen Ordnung: Einschüchterung der Bevölkerung und Unterwerfung der Eliten unter das Diktum der Diversität. Alle sollen lernen: Wer sich wehrt, lebt verkehrt.
Dr. Rainer Bieling ist Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief und gibt hier aus aktuellem Anlass seine persönliche Ansicht wieder.