Tichys Einblick
Wovor Europa die Augen verschliesst

Christenverfolgung: Apartheid in Äthiopien?

In der Provinz Oromia wurden Hunderte Christen brutal ermordet, Tausende vertrieben.

imago images / Stefan Trappe

Mehrere Hundert einheimische Christen sind seit Ende Juni in Äthiopien brutal ermordet, Tausende vertrieben worden. Nach Angaben der überkonfessionellen christlichen Hilfsorganisation „Barnabas Fund“ wurden mehr als 500 Christen, darunter schwangere Frauen, Kinder und sogar ganze Familien, durch fanatische muslimische Oromo-Extremisten getötet.

Die Ausschreitungen begannen nach der Ermordung des populären Sängers Hachallu Hundessa am 29. Juni in Addis Abeba. Er galt als Vertreter der Rechte der Oromo-Ethnie, die in Äthiopien rund 35 Prozent der Bevölkerung stellt. Obwohl der Sänger selbst orthodoxer Christ war, wie die äthiopisch-orthodoxe Kirche unter Angabe seines Taufnamens „Haile Gabriel“ bekannt gab, nahmen radikale Oromos den Mord zum Anlass für ihre Gewalttaten.

„Barnabas-Fund“ berichtet, dass Mitglieder der „Qeerroo“ (übersetzt: die Jugendlichen), einer Jugendorganisation der „Islamischen Front für die Befreiung von Oromia“, mit Gewehren, Macheten, Schwertern und Speeren Jagd auf Christen machten. „Kinder wurden gezwungen, dabei zuzusehen, wie ihre Eltern brutal mit Macheten ermordet wurden.“ Einige Qeerroo-Kämpfer hätten Listen von Christen gehabt und seien sogar von lokalen Autoritäten dabei unterstützt worden, jene zu finden, die kirchlich aktiv sind.

Auch Christen, die selbst dem Volk der Oromo angehören, seien attackiert und vertrieben worden. Nach Augenzeugenberichten standen Polizisten bei manchen Gewalttaten dabei und sahen dem Morden zu. Berichtet wird jedoch auch, dass einige Christen durch das mutige Eingreifen lokaler Muslime gerettet wurden.

Wegen ihres Glaubens verfolgt und ermordet

Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, der rund 44 Prozent der Einwohner des Landes angehören, berichtet in einem Appell von Ende August, der dieser Zeitung (d.i. Die Tagespost – Anm. d. Red.) vorliegt, über die Massaker: „Nur wegen ihres orthodoxen Glaubens wurden sie mit Schwertern ermordet, mit Macheten verstümmelt, mit Speeren erstochen, mit Stecken und Steinen erschlagen.“

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Frauen seien vor den Augen ihrer Kinder, Väter und Ehemänner vergewaltigt worden. Ihr Eigentum sei geplündert und ihre Häuser niedergebrannt worden. Viele Opfer wurden in kirchlichen Einrichtungen und Gotteshäusern notdürftig untergebracht. Manche seien schwer traumatisiert. Die Orthodoxe Kirche fordert die äthiopische Regierung nachdrücklich auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen, die Bürger vor weiteren Attacken zu schützen und die Täter der Gerechtigkeit zuzuführen. Nach eigenen Recherchen der Kirche sei es „erwiesen, dass orthodoxe Christen die Zielscheibe dieser im Voraus geplanten, unmenschlichen Gräuel von religiösen und ethnischen Extremisten waren, welche sich auf bestimmte Elemente der Regierung stützen und mit vorab organisierten Kräften koordinieren“.

An die Regierung Äthiopiens und an die Verwaltung der Provinz Oromia appelliert die Kirche, das Leben, die Rechte und das Eigentum der orthodoxen Äthiopier zu schützen und sowohl ihre Sicherheit als auch ihre Existenzgrundlage zu garantieren. Die Gräueltaten gegen die Gläubigen müssten aufgeklärt, die Straftäter und die Koordinatoren dieser Attacken zur Verantwortung gezogen werden.

Die ethnische Föderation als Ursprung allen Übels

Im Gespräch mit der „Tagespost“ macht der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate die Ethnisierung des Landes für die Gewalttaten verantwortlich: „Wir ernten heute, was 1991 gesät wurde, als Äthiopien mit seiner neuen Verfassung zu einem Apartheidsland gemacht wurde. Äthiopien ist seither ganz offiziell eine ,ethnische Föderation‘. Das ist der Ursprung allen politischen und religiösen Übels.“

Aus einem Land mit 110 Ethnien, 84 verschiedenen Sprachen und vier Religionen, in dem die Menschen über Jahrhunderte in friedlicher Koexistenz lebten, sei ein Land gemacht worden, „in dem jeder jedem nach dem Leben trachtet, und in dem jeder nur den Vorteil seiner eigenen Sippe und Ethnie sucht“, so Asserate, ein Großneffe des letzten Kaisers von Äthiopien, Haile Selassie (1892 bis 1975).

Äthiopien sei das einzige Land Afrikas, in dem die „Rasse“ im Ausweis stehe. „Die äthiopische Identität, die wir seit Jahrtausenden hatten, ist noch nicht verloren gegangen, aber sie wurde demontiert.“ Einige Fundamentalisten unter den Oromos würden nach einem eigenen Staat streben, den meisten jedoch gehe es um Vorherrschaft. „Das Land wird eines Tages in einem blutigen Bürgerkrieg enden“, fürchtet der Prinz.

Alte Kräfte wehren sich gegen Reform

Die neue Regierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed, der 2019 den Friedensnobelpreis erhielt, sei nicht imstande, „das ganze Übel aus dreißig Jahren in zwei Jahren wieder gut zu machen, weil da noch alte Kräfte sind, die sich gegen eine Reform der Verfassung wehren und am ethno-zentrischen Element festhalten“. Asserate, der in Frankfurt lebt, zieht Parallelen: „Leider ist alles in Äthiopien ethnisiert: die Parteien, die Politik, die Grenzen. In Europa jedoch haben wir es gesehen: Wo ethnische Grenzen sind, da gibt es irgendwann ethnische Säuberungen.“ Die aktuelle Atmosphäre in seinem Heimatland sei äußerst gefährlich. „In den zurückliegenden Monaten haben fundamentalistische Kreise in den Oromo-Gebieten orthodoxe Christen umgebracht, in anderen Gebieten wurden auch Muslime und evangelische Christen ermordet.“

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Neben der ethnischen Dimension gibt es auch eine religiöse. Äthiopien konnte lange auf sein tolerantes Neben- und Miteinander von Christen und Muslimen verweisen. Prinz Asfa-Wossen Asserate bestätigt: „Bis vor zwanzig Jahren gab es ein friedliches Zusammenleben von Christen und Muslimen. Dann hat der damalige Ministerpräsident Meles Zenawi erlaubt, dass etwa 20 wahhabitische Lehrer nach Äthiopien kommen. Bis dahin waren 99 Prozent der äthiopischen Muslime Sufis. Den letzten religiösen Krieg hatten wir in Äthiopien 1541, seither war es überwiegend friedlich. Als dann die Wahhabiten aus Saudi-Arabien kamen, radikalisierten sie viele äthiopische Muslime, vor allem unter der Jugend. Das merkte Meles Zenawi und rief einen anti-wahhabitischen Kampf aus – aber da war es schon zu spät.“

Federführend bei den aktuellen Ausschreitungen sei die radikale „Islamische Front für die Befreiung von Oromia“, die eine große Nähe zur nigerianischen Boko Haram und zur somalischen Al-Shabaab habe. „Neben den ethnischen Auseinandersetzungen droht nun ein religiöser Kampf, was für Äthiopien fatal wäre“, so Asserate gegenüber der „Tagespost“.

Immun gegen schlechte Nachrichten aus Afrika

Die Idee, Afrika in Ethnien zu gliedern, lehnt Asserate ab. Äthiopiens Regierungschef Abiy Ahmed sei selbst zur Hälfte Oromo. „Ich selbst habe selbstverständlich Oromo-Blut in mir. Der Kaiser war zu einem Drittel Oromo. Statt die Rolle eines Einigers zu spielen, weil die Oromo ja überall in Äthiopien leben, hat man leider eine andere Richtung eingeschlagen. Der jungen Generation wurden weitgehend nur drei Dinge beigebracht: Ethno-Fundamentalismus, ein riesiger Hass gegenüber allen anderen, und der Klassenkampf.“

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Die jüngere Generation ist in ganz Afrika – im Gegensatz zu Europa – demografisch dominant: Nach offiziellen Angaben sind mehr als 65 Prozent der Einwohner Äthiopiens unter 25 Jahren. Insbesondere die Armen und Bildungsfernen unter ihnen scheinen für radikale Ideologien besonders empfänglich zu sein. Laut Asfa-Wossen Asserate waren es Anhänger der Qeerroo, die jüngst die Botschaften Äthiopiens in London und Berlin fast besetzten, die äthiopische Fahne herunterholten und die Oromo-Flagge hissten. „In London haben sie die einzige Statue eines schwarzen Mannes demoliert: die von Kaiser Haile Selassie in Wimbledon – nicht wissend, dass diese Statue 1937 entstand, als er in England im Exil war. Die Bildhauerin dieser Statue, die Künstlerin Hilda Seligman, war eine große Anti-Faschistin, die Haile Selassie als Führer der antifaschistischen Kräfte der Welt sah. Aber diese Leute haben ja keine Ahnung von Geschichte!“ Jedenfalls dürften sie nicht wissen, dass Äthiopiens Kaiser gegen Benito Mussolinis militärische Invasion kämpfte und schließlich ins Exil fliehen musste.

Mittlerweile sei zwar jener islamistische Populist, den man unmittelbar für die Ausschreitungen verantwortlich machte, Jawar Mohammed, verhaftet worden. Es sei aber „kein Ruhmesblatt für die Regierung, dass Polizisten tatenlos den Gewalttaten zusahen“, so Asserate. „Gott sei Dank gab es auch Muslime, die Christen schützten, weil sie sie als äthiopische Brüder sehen. Und der oberste Mufti in Addis Abeba trat in dieser Zeit sehr stark gegen die Fundamentalisten auf.“

Wie erklärt sich der in Deutschland lebende Prinz aus Äthiopien, dass die westliche Öffentlichkeit von den Unruhen und Christen-Morden keine Kenntnis nahm, obwohl die orthodoxe Kirche über die Geschehnisse informierte? „Die Gewalttaten und die Toten in Afrika sind so enorm, dass unsere Mitbürger in Europa langsam gegen schlechte Nachrichten aus Afrika immun werden“, fürchtet er.

EU soll ein Zeichen setzen

Von der Europäischen Union erwartet er, „dass sie wenigstens ein Zeichen setzt. Ich bin viel zu alt und zu frustriert, um anzunehmen, dass man noch andere Maßnahmen unternehmen würde“. Asserate weiter: „Ich möchte niemandem etwas vorwerfen, aber ich habe es seit dreißig Jahren kommen gesehen und gewarnt, wie gefährlich es ist, mit den Ethnien in Afrika herumzuexperimentieren. Jetzt müssen wir feststellen, dass eine nur auf Ethnien basierende Politik im Vielvölkerstaat Äthiopien die größte Gefahr ist. Ja, nicht nur für Äthiopien, sondern für ganz Afrika. Wir brauchen gut funktionierende demokratische Föderationen, wie wir das etwa in Indien haben. Die ,ethnische Föderation‘ ist dagegen ein Synonym für Apartheid – und sollte aus dem Vokabular für Afrika gestrichen werden.“


Dieser Beitrag von Stephan Baier erschien zuerst in Die Tagespost – Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

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