Tichys Einblick
Das Ende einer Ära – nicht das Ende der Welt

Angela Merkel unterwegs zum Ausgang – unterm Arm ihre EU-Vision

Während man sich hier im Angesicht des Merkel-Rückzugs aus dem Parteivorsitz noch ungläubig die Augen reibt, ist Douglas Murray aus seiner unverstellten englischen Perspektive schon einen Schritt weiter. Für ihn ist die Ära Merkel – und ihre Vision, wohin sich die EU entwickeln muss - vorbei.

© Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Was immer man vom Unternehmen EU gehalten haben mag, eine Frage blieb stets ungelöst: „Was willst du einmal werden, EU, wenn du erwachsen bist?“ In der Anfangsphase war sich nicht jeder darüber im Klaren. Später schien man sich einig zu sein – unter der Führung Angela Merkels. Stand sie doch immer bereit, Streit zu schlichten, Bail-outs zu genehmigen, anderen Völkern deutsche Hilfe anzubieten und das Projekt als Ganzes zu schützen, so dass es zu einer immer engeren Union werden könnte. Was immer man davon halten mochte: Mit Angela Merkel an der Spitze schien zumindest die EU zu wissen, wo es langgeht. Das ist nun vorbei.

Vergangene Woche verkündete die deutsche Kanzlerin nach einer weiteren politischen Pleite für die CDU in Hessen, dass sie nicht mehr für den Posten der Parteivorsitzenden zur Verfügung stehen würde. Und sie kündigte an, 2021 nicht mehr als Kanzlerkandidatin anzutreten. Sie hat diesen Posten seit 2005 inne und in dieser Zeit mit vier französischen Präsidenten, vier britischen Premierministern und sieben Politikern, die versucht hatten, Italien zu regieren, zusammengearbeitet. Ihr Abgang zieht sich nun hin – und parallel dazu auch der Untergang ihrer Vision von Europa. Und damit fehlt einer klaren, föderalistischen Europasicht, die man bisher immer für unerlässlich gehalten hatte, jetzt die Führungsfigur.

Heute gibt es einfach niemanden auf der politischen Bühne, der die Rolle der Königin dieses Projekts, als die Angela Merkel im vergangenen Jahrzehnt aufgetreten ist, spielen könnte. Die Gründe dafür sind ihre bisherigen Entscheidungen, ihre Unnachgiebigkeit und die Selbstüberschätzung, mit der sie die machtvollste Position in Europa ausfüllte. Das Merkel Projekt schuf eine EU mit unerreichbaren Ambitionen in seiner Absicht, Länder mit einer langen Geschichte der Unabhängigkeit zu regulieren; der Versuch, der vielfältigsten Staatengemeinschaft der Erde Einheitlichkeit zu verpassen, ist einfach grundlegend uneuropäisch.

Mittlerweile erscheint es einem merkwürdig, dass Angela Merkel und ihre Vision Europas bis vor kurzem so unantastbar war. Die erste politische Todesahnung kam im Jahr 2016 auf, als in den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern die erst drei Jahre alte AfD die CDU auf einen demütigenden dritten Platz verwies.

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Merkel: Ein Abschied, der keiner ist
Dann folgten die Bundestagswahlen, in denen die CDU ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 erzielte. Merkel verbrachte sechs demütigende Monate damit, andere Parteien zu einer Koalition zu überreden und die wiederholten Herausforderungen innerparteilicher Kritiker, allen voran Horst Seehofer, abzuwehren.

Dabei ist klar, warum diese gegen sie vorzugehen versuchten. Merkels Unique Selling Point – ihre felsengleiche Unbeweglichkeit – war zu einem Hindernis worden, einem Zeichen der Starre in einem Europa, das nichts mehr braucht als Wandel. Desaströs im Angesicht der beiden Herausforderungen, mit denen sich Europa während Merkels Herrschaft konfrontiert sah: Der Finanzkrise und dem demographischen Wandel.

Das Europa, das Merkel führte, hatte sich eine Währung geschaffen, bevor es ein Land dazu gab. Als die globale Finanzkrise dann auf diesen unausgegorenen Euro traf, hatte Merkel zwei Möglichkeiten. Sie hätte den deutschen Wählern erklären können, dass Deutschland vom Euro profitiert habe und dass dieser den Export ankurbele (da er nach Einschätzung des IWF künstlich um die 30 % unterbewertet ist). Sie hätte den Standpunkt einnehmen können, dass es nun Zeit sei für eine echte Transferunion, um Geld von den reicheren zu den ärmeren Ländern zu transferieren.

Oder sie hätte akzeptieren können, dass die Volkswirtschaften in der EU einfach zu unterschiedlich sind. Dass sich deutsche und griechische Bilanzierungsmethoden, um es einmal vorsichtig auszudrücken, niemals würden vereinbaren lassen. Und dass deshalb eine geordnete Trennung in Ordnung wäre.

Die unbewegliche „Mutti“ (wie die Deutschen sie zärtlich zu nennen pflegen) tat aber nichts dergleichen. Stattdessen half sie, ein System zu implementieren, das den Südländern einen grausamen Sparkurs auferlegte, die Eurozone auf die nächste Krise schlecht vorbereitet sein lässt und bereitete so die Bühne für die Ereignisse, die zu ihrem eigenen Untergang führen.

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland bewegt sich im Moment auf einem historischen Tiefstand von unter 5%. In Italien sind es hingegen 10%, bei erschreckenden 31% bei den Jungen, einem viel höheren Wert als die 19% vor der Krise. Die steuerliche Zwangsjacke, die Merkel den Italienern aufgezwungen hat, durchgesetzt von aus Brüssel eingesetzten Bürokraten, sorgt dafür, dass eine ganze Generation von Italienern ihr Berufsleben ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz beginnen. Und somit empfänglich werden für politische Parteien, die ganz andere Pläne haben.

Hätte Italien die Möglichkeit gehabt, auf seine eigene Art auf die Folgen des Crashs zu reagieren, wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Joseph Stiglitz konstatiert, dass Merkels Projekt darin bestand, Länder mit grundverschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Hintergründen zusammenzubinden, und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, ihre eigenen Wechselkurse und Zinsmargen zu beeinflussen. Was in Berlin als ein gemeinsames Schultern von Lasten empfunden wurde, kam in Athen und Rom ganz anders an. Und deshalb beginnen die politischen Konsequenzen jetzt auf ihre Verursacherin zurückzufallen.

Der entscheidende Wendepunkt Ihrer Kanzlerschaft, und damit ihres europäischen Projektes, sind ihre Fehler in der Migrationskrise. Auf deren Höhepunkt im Jahr 2015 bewies Angela Merkel eine geradezu frappierende Unbeweglichkeit und einen atemberaubenden Unilateralismus. Sie schien zu denken, auch weiterhin Entscheidungen für einen ganzen Kontinent treffen zu können. Als sie einseitig die völlige Öffnung normaler Grenzen und das Aussetzen von Asylverfahren ankündigte, und damit Flüchtlinge regelrecht nach Deutschland lockte mit der Bemerkung „Wir schaffen das“, hatte sie vorher nur wenige ihrer Verbündeten befragt und keinerlei Warnungen beachtet.

DIE WELTWOCHE über Douglas Murray
Europas seltsamer Selbstmord
Erst in der Überforderung des Landes traten Angela Merkels Vorstellungen ebenso klar zutage wie deren Konsequenzen. Genau wie aus ihrer Sicht Europa die Lasten der Finanzkrise gemeinsam gestemmt hatte, sollten nun die Mitgliedstaaten die Rechnungen, die sie alleine in Berlin in einer Art moralischem Rauschzustand erzeugte, mitübernehmen. Aber der Rest Europas wandte sich ab. Von Westminster bis Warschau wollte niemand die Lasten für Entscheidungen übernehmen, von denen sie wussten, dass ihre Wählerschaft ihnen das nicht verzeihen würde.

Quasi über Nacht wurde Angela Merkel vom Stabilitätsanker zu einer verwegenen Spielerin, die bereit war, die Zukunft ihres eigenen Landes aufs Spiel zu setzen. Und mit jeder Wahl begann Europa, sich weiter von ihr abzuwenden. Am deutlichsten in Ungarn. Aber Berlin wie Brüssel glaubte, mit den Visegrád-Staaten fertig zu werden, indem sie sie, wie bisher, als eine Art Lehrlinge behandelten, die einfach noch nicht genau begriffen hatten, wie man mit Problemen umgeht. Diese Taktik wird nun nach dem Brexit schwieriger – und geradezu unmöglich, nun da Italien, ein EU-Gründerstaat, ebenfalls eine andere Richtung einschlägt. Der Fünf Sterne-Aufstieg war motiviert von einem Jahrzehnt einer von außen aufgezwungenen Sparpolitik, während die Lega ihren Erfolg der first hand-Erfahrung der Italiener mit Angela Merkels Einladung an die Migranten der Welt verdankt.

Diese Krise ist immer noch in vollem Gange. Kürzlich hat die die EU Italiens Staatshaushalt zurückgewiesen und die Italiener aufgefordert, ihre Hausaufgaben neu zu machen. Aber Italiens Regierung wird nicht einfach an den Schreibtisch zurückkehren und dann die gewünschten Antworten liefern. Denn Opposition zum Merkelismus zahlt sich bei italienischen Wahlen aus. Meinungsumfragen attestieren der Lega seit März eine annähernde Verdoppelung ihrer Stimmenanteile. Bei Neuwahlen könnte sie Resultate erzielen, die einen weit größeren Albtraum für den Norden darstellen würden. Die Italiener haben es offenbar einfach satt.

Das Gleiche gilt für Griechenland und Polen. Auch dort wird es hässlich. Dort holen die Politiker wieder einmal ihre bevorzugten Tricks aus der Kiste: Reparationsforderungen gegen Deutschland.  Beide argumentieren, Deutschland habe die Kriegsschäden der Nazis nicht ausreichend kompensiert. So sei die Zerstörung Warschaus niemals widergutgemacht worden. Eine griechische überparteiliche Untersuchung verlangt derweil 299 Milliarden Euro von Deutschland für die Besetzung des Landes. Man muss schon bewundern, dass die Griechen diesmal der Versuchung widerstanden haben, diese Summe aufzurunden.

Wohin man auch schaut – und was immer man dabei empfinden mag – die Schlussfolgerung ist dieselbe: Europa ist keine sich immer weiter integrierende Union mehr, sondern im Gegenteil eine Quelle der Instabilität. Durch seine merkelartige Weigerung – oder Unfähigkeit – sich zu reformieren.

Während sie ihren Rückzug einleitet, hinterlässt Angela Merkel ein Land, in dem die AfD die stärkste Oppositionspartei ist, bei Protesten in Chemnitz und anderswo demonstrativ der Nazi-Gruß gezeigt wurde und in dem jeder über den Krieg zu reden scheint.

Von 60 Prozent Zustimmung auf 30
Das Malheur des Monsieur Macron
Ihr vakanter Thron wird wahrscheinlich leer bleiben, da es in Europa nur einen einzigen Politiker gibt, der ihn gerne besteigen würde. Emmanuel Macron hat in Frankreich die altbekannten Probleme mit einer Wählerschaft, die stets für die Revolution stimmt und dann jeden Wandel verweigert. Doch der französische Präsident bereitet sich seit Jahren auf diesen Moment in der Führung des Kontinents vor und hat ganze Abkommen in Sachen EU-Reform gestaltet. Er möchte die Eurozone gern weiter zentralisieren, einen EU Finanzminister und ein Eurozonen-Budget. Hierfür bräuchte er dringend deutsches Geld. Erst kürzlich hat er gewarnt, dass diese Ambitionen nicht alleine zu realisieren seien.

Merkel war nur allzu gern bereit, seinen Eurozonenplan zu fördern, wenn er im Gegenzug ihr Vorhaben, die Migration europaweit zu bewältigen, unterstützen würde. Vielleicht hätte das alles funktioniert.  Aber jetzt, da Merkel Ihren Rückzug verkündet, verliert Macron den einzigen Verbündeten. Salvini wird ihm bestimmt nicht helfen. Und auch keines der anderen Länder kann noch uneingeschränkte Unterstützung mobilisieren. Außer Macron und der EU-Kommission hat niemand die Lektion Angela Merkels übernommen, dass nur ein „Mehr“ an Europa und weniger Nationalstaat der richtige Weg sei. Stattdessen schwingt das Pendel in die andere Richtung.  Wenn die Kommission kein geradezu science-fiction-haftes Selbstbewusstsein entwickelt – und die Welt übernimmt – wird die Rolle des europäischen Führers wohl unbesetzt bleiben.

Es wird eine Zukunft für die die EU geben – nur eben nicht die, die am Gipfel der Macht Angela Merkels unausweichlich schien. Was immer man in Brüssel oder Berlin auch denkt: Während der Merkeljahre hat ein Land nach dem anderen die Wachstumsschmerzen der EU erlitten und dann entschieden, dass dies nicht das ist, was sie wollen.

Dies ist mit Sicherheit das Ende einer Ära. Aber nicht das Ende der Welt.


Dieser Beitrag von Douglas Murray, den Achim Winter ins Deutsche übersetzt hat, erschien zuerst am 3. November 2018 in The Spectator. Wir danken  Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

 

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