Tichys Einblick
Zum Urteil gegen Björn Höcke

Alles für die Gesinnung, nichts für Deutschland?

Auch wenn ein Kennzeichen von den Nationalsozialisten gebraucht wurde, wird es allein dadurch noch nicht zum Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation. Weiterhin muss man feststellen, dass die Losung „Alles für Deutschland“ in den 1930er Jahren allgemein bei den Parteien beliebt war. Von Richter Detlev Plath

picture alliance / dts-Agentur |

Björn Höcke hatte im Mai 2021 eine Rede mit dem Satz: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland“ beendet. Am 14.05.2024 wurde er wegen des dritten Teils dieser Losung, also wegen der Worte „alles für Deutschland“, vom Landgericht Halle zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen verurteilt. Das Gericht war der Auffassung, dass sich Höcke des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86a StGB schuldig gemacht habe.

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der juristischen Frage, ob die Verurteilung zu Recht erfolgt ist. Es geht in diesem Beitrag nicht darum, ob man die von Herrn Höcke verfolgten politischen Ziele für richtig oder falsch hält.

1. Verfahrensrecht
Bevor auf die sachlich-rechtliche Frage näher eingegangen wird, soll kurz die Verfahrensweise näher beleuchtet werden, die in diesem Prozess beschritten wurde. Denn sie ist merkwürdig und wirft kein gutes Licht auf die Justiz.

In gewöhnlichen Fällen wird das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen nach § 86a StGB mit einer Geldstrafe oder einer sehr geringen Freiheitsstrafe bestraft, so dass die Amtsgerichte für solche Vorwürfe zuständig sind. Die Staatsanwaltschaften klagen solche Delikte daher regelmäßig bei den Amtsgerichten an.

Der interessierte Beobachter fragt sich daher, weshalb das im Fall von Herrn Höcke nicht so gemacht und weshalb Herr Höcke gleich bei der nächst höheren Instanz, nämlich beim Landgericht, angeklagt wurde. Das beruht auf § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GVG. Nach dieser Vorschrift kann die Staatsanwaltschaft eine Sache, die eigentlich zur Zuständigkeit des Amtsgerichts gehört, wegen der „besonderen Bedeutung des Falles“ auch gleich beim Landgericht anklagen.

Wenn die Sache angeblich eine solche besondere Bedeutung hatte, hätte man erwarten dürfen, dass das Verfahren schnell durchgeführt und zeitnah ein Urteil gefällt wird. Das gilt insbesondere auch deshalb, weil es nur um einen einzigen Angeklagten ging, der im Hinblick auf den äußerlichen Sachverhalt sogar geständig war, und um eine einzige Tat! Das ist für die gewöhnlich beim Landgericht im ersten Rechtszug angeklagten Sachen extrem unterdurchschnittlich. Auch wenn zunächst vielleicht beim Abgeordneten Höcke, der Mitglied des Thüringer Landtages ist, die Immunität aufgehoben werden musste, ist nicht nachvollziehbar, weshalb das Verfahren insgesamt drei Jahre bis zur Verkündung des Urteils dauerte.

Hier drängt sich der Verdacht auf, dass die Sache insgeheim von den in der Sache tätigen Justiz-Juristen, also dem zuständigen Staatsanwalt und den zuständigen Richtern, in Wahrheit gerade nicht als besonders wichtig oder eilbedürftig angesehen wurde. Eine solche Sichtweise hätte meine Sympathie. Denn die Verurteilung von Mördern, Räubern, Vergewaltigern und Drogenhändlern ist meiner Ansicht nach wesentlich wichtiger als die Frage, ob Herr Höcke sich mit einem rein verbalen Ausspruch strafbar gemacht hat. Die lange Zeitdauer zwischen Tat und Urteilsverkündung trotz der angeblich „besonderen Bedeutung“ wirft jedenfalls kein gutes Licht auf die Justiz.

2. Materielles Recht
Kommen wir zur eigentlichen Frage: Wurde hier ein Angeklagter zu Recht verurteilt?
Maßgeblich ist also, ob sich Herr Höcke des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen nach § 86a StGB schuldig gemacht hat. Im Strafrecht wird immer zwischen dem objektiven Tatbestand, also dem äußeren Geschehen, in dem die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und dem subjektiven Tatbestand, also dem Vorsatz des Täters, unterschieden. Grundsätzlich ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, es sei denn, dass auch eine fahrlässige Begehung ausdrücklich unter Strafe gestellt ist (§ 15 StGB). Ein Gericht muss sowohl vom Vorliegen des objektiven als auch des subjektiven Tatbestands überzeugt sein, ehe es einen Angeklagten verurteilt. Im schriftlichen Urteil muss es im Einzelnen darlegen, weshalb es davon überzeugt war.

a) Objektiver Tatbestand
Der objektive Tatbestand des § 86a StGB verlangt das „Verwenden“ eines „Kennzeichens“ einer verfassungswidrigen Organisation. Mit dem Begriff Kennzeichen sind gemäß § 86a Abs. 2 StGB insbesondere Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen gemeint. Das Verwenden muss dabei „öffentlich“ oder „in einer Versammlung“ stattfinden, woran bei der Rede des Angeklagten Höcke kein Zweifel besteht.

Ist also die Losung „Alles für Deutschland“ ein Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation, speziell der ehemaligen nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA)? Was ist denn überhaupt ein Kennzeichen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation?

Diese Eigenschaft haben zweifelsfrei zumindest alle diejenigen Kennzeichen, die erst von den Nationalsozialisten erfunden wurden bzw. die erst von den Nationalsozialisten in nennenswertem Umfang gebraucht wurden. Ein klassisches Beispiel für ein solches Kennzeichen ist die Grußform „Heil Hitler“. Diese Grußform hatte es niemals zuvor gegeben, sondern sie wurde erst von den Nationalsozialisten erfunden und verbreitet. Daher besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass diese Grußform das Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation ist. Ähnlich klar liegt der Fall bei dem Hakenkreuz.

Das Hakenkreuz war zwar schon lange vor 1933 bekannt und wurde, zum Teil sogar schon in der Antike, in der Architektur oder Kunst verwendet. Das Hakenkreuz war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Aber erst im Nationalsozialismus wurde das Hakenkreuz millionenfach verbreitet und als Fahne, als Emblem oder als Parteiabzeichen benutzt. Es handelte sich bei der Verwendung des Hakenkreuzes auch nicht nur um eine Mode-Erscheinung oder eine rein künstlerische Bevorzugung dieses Emblems. Vielmehr wurde das Hakenkreuz von den Nationalsozialisten seit den 1920er Jahren als Zeichen ihrer „Bewegung“ bzw. ihrer „Partei“ gebraucht. Das Hakenkreuz, das nach 1933 zunächst neben der alten kaiserlichen Nationalflagge Schwarz-Weiß-Rot als weitere Nationalflagge benutzt wurde, wurde nach dem Tod Hindenburgs und nach der Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten in der Person Hitler als „Führer“ alleinige Nationalflagge des Deutschen Reiches. Mit dem Ermächtigungsgesetz wurde der Parlamentarismus abgeschafft und mit weiteren Gesetzen wurde das Land gleichgeschaltet.

Das Hakenkreuz stellte danach nicht mehr nur eine Flagge des Deutschen Reiches dar, sondern es symbolisierte vor allem den Sieg des Nationalsozialismus über das „System“, also über die Weimarer Republik, aber auch über das Kaiserreich, das in den 1930er Jahren noch viele Anhänger in Deutschland hatte.

In juristischer Hinsicht besteht daher auch beim Hakenkreuz nicht der geringste Zweifel daran, dass es sich um das Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation handelt, nämlich um das Emblem der NSDAP, welches nach der Abschaffung von Demokratie und Parlamentarismus und nach der Beseitigung jeglicher Opposition im Deutschen Reich zum Symbol des nationalsozialistischen „Führerstaates“ wurde.

Wie aber sieht es mit solchen Kennzeichen aus, die nicht von den Nationalsozialisten erfunden und schon vor den Nationalsozialisten häufig oder massenhaft verwendet wurden? Werden solche Kennzeichen allein dadurch, dass die Nationalsozialisten sie (auch) gebrauchten, zum Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation?

Die Rechtsprechung zu dieser Frage hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Ursprünglich ging die Rechtsprechung bei mehrdeutigen, aber von einer verbotenen Organisation verwendeten Kennzeichen davon aus, dass ein ausdrücklicher Hinweis oder ein für Außenstehende erkennbarer Bezug zu der Organisation erforderlich sei, um eine Strafbarkeit nach § 86a StGB zu bejahen (z.B. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Az. 5 StR 87/98; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 98, 10; OLG Bamberg, Az. 2 Ss 43/07, alle zitiert nach Fischer, Kommentar zum StGB, 68. Auflage 2021, § 86a Rn. 5a). Diese restriktive Rechtsprechung war klar und ehrenwert. Sie war ehrenwert, weil es jedem Strafrichter in einem Rechtsstaat zur Ehre gereicht, wenn er einen Straftatbestand eng auslegt, wenn er möglichst sparsam von seiner Strafgewalt Gebrauch macht und wenn er einen Angeklagten nicht allein deshalb verurteilt, weil der eine andere politische Meinung hat oder weil er dem Richter sonst nicht gefällt.

Von dieser vernünftigen Rechtsprechung hat sich der Bundesgerichtshof, zumindest ein Senat, vor etwa 20 Jahren entfernt. In seiner Entscheidung vom 01.10.2008 (BGHSt 52, 364 ff.) postulierte der BGH, dass der Begriff des Kennzeichens einer einschränkenden Auslegung nicht zugänglich sei. § 86a StGB sei ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Es reiche daher aus, wenn die verbotene Organisation das Kennzeichen verwendet bzw. sich zu eigen gemacht habe. Etwaige Korrekturen müssten bei der Auslegung des Begriffes „Verwenden“ vorgenommen werden.

Diese Entscheidung des BGH konnte schon damals nicht überzeugen und kann es auch heute nicht. Denn nach dieser Rechtsprechung wäre der Begriff des Kennzeichens absolut willkürlich, völlig konturenlos und würde dem Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG widersprechen. Nach Art. 103 Abs. 2 GG muss nämlich die Strafbarkeit einer Tat gesetzlich genau „bestimmt“ sein, bevor sie begangen wird. Anderenfalls kann man sie nicht bestrafen. Im Übrigen besteht, wenn man juristisch exakt arbeitet, überhaupt keine andere Möglichkeit, um den Tatbestand an anderer Stelle noch einzuschränken und schärfer zu konturieren. Der von der Rechtsprechung praktizierte Weg, den Tatbestand nach dem Motiv und den Absichten des Täters einzuschränken, besteht gerade nicht.

Denn der Tatbestand des § 86a StGB hat keine überschießende Innentendenz. Wenn er eine hätte, müsste die Vorschrift lauten: „Wer in der Absicht, ein totalitäres Regime zu verherrlichen oder die freiheitliche demokratische Grundordnung nach dem Grundgesetz verächtlich zu machen, das Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation verwendet“. So lautet die Vorschrift aber nicht! Eine Einengung des Tatbestandes über das Motiv des Täters ist daher überhaupt nicht möglich.

Darüber hinaus kann die erwähnte Entscheidung des BGH nicht überzeugen, weil sie zu unvertretbaren Ergebnissen führt. Würde man dieser Entscheidung des BGH blind folgen, würde sich jeder, der öffentlich oder in einer Versammlung das Wort „Vaterland“ in den Mund nimmt, strafbar machen. Denn auch die Nationalsozialisten hatten sich dieses Wort zu eigen gemacht und es millionenfach verwendet.

Würde man dieser Entscheidung des BGH blind folgen, würde sich jeder, der öffentlich oder in einer Versammlung die erste Strophe des Deutschlandliedes singt, strafbar machen. Denn auch die Nationalsozialisten hatten sich dieses Lied, in dem es bekanntlich heißt „Deutschland, Deutschland über alles“, zu eigen gemacht und es, neben dem Horst-Wessel-Lied, millionenfach als deutsche Nationalhymne gesungen.

Würde man dieser Entscheidung des BHG blind folgen, würden sich auch Bundeskanzler Scholz, Bundesverteidigungsminister Pistorius und sämtliche Soldaten der Bundeswehr nach § 86a StGB strafbar machen. Denn auf den Flugzeugen der Bundeswehr und auf ihren Panzern (die es zugegebenermaßen beide kaum noch gibt) ist, in alter Tradition, das stilisierte Eiserne Kreuz als deutsches Abzeichen bzw. deutsches Emblem angebracht. Auch die Nationalsozialisten hatten dieses Emblem, das stilisierte Eiserne Kreuz, auf allen Flugzeugen und Panzern der Wehrmacht angebracht und es sich zu eigen gemacht. Das Eiserne Kreuz war von 1939 bis 1945 an allen Fronten und im gesamten besetzten Europa als Symbol des nationalsozialistischen Deutschlands zu sehen. Es verkörperte die Aggression und den Expansionsdrang des Nationalsozialismus. Darüber hinaus kann man rein objektiv auch nicht die Augen davor verschließen, dass erst die militärischen Siege der Wehrmacht und das weite Vordringen der deutschen Truppen nach Osteuropa und Russland die Voraussetzung dafür schufen, dass die Nationalsozialisten, insbesondere die SS, die dort lebenden Juden gefangen nehmen, deportieren und ermorden konnten.

Trotzdem käme kein Mensch, zumindest kein vernünftiger Mensch, auf die Idee, das Eiserne Kreuz als traditionelles Symbol des deutschen Soldaten und des deutschen Militärs abzuschaffen. Wie man sieht, würde die gedankenlose Befolgung der erwähnten Entscheidung zu recht absurden Ergebnissen führen.

Auch wenn ein Kennzeichen von den Nationalsozialisten gebraucht wurde, wird es allein dadurch noch nicht zum Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation im Sinne von § 86a StGB. Vielmehr muss das Kennzeichen, und zwar das Kennzeichen selbst (!), eine nationalsozialistische Färbung aufweisen. Das hat sogar das Bundesverfassungsgericht schon entschieden (Beschluss des BVerfG vom 01.06.2006, Az. 1 BvR 150/03, zitiert nach juris). In dem dortigen Fall hatten die Strafgerichte den Angeklagten wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen nach § 86a StGB verurteilt, weil er die Parole „Ruhm und Ehre der Waffen SS“ benutzt hatte. Die vorhergehenden Instanzen waren der Meinung, dass diese – neu erfundene – Parole der echten Parole der Hitler-Jugend „Blut und Ehre“ zum Verwechseln ähnlich sei.

Das Bundesverfassungsgericht hob die Verurteilung mit einer bemerkenswerten Begründung auf. Zum einen stellte das Bundesverfassungsgericht, woran man heute deutlich erinnern muss, fest, dass sich auch Rechtsextremisten auf den Schutz der Meinungsfreiheit berufen können (Randnummer 16 der Entscheidung). Das wollen viele Menschen aus dem grünen Spektrum oder aus woken Kreisen heute nicht wahrhaben. Aber in einem Rechtsstaat ist das so.

Zum anderen stellte das Bundesverfassungsgericht wörtlich fest: „Das Begriffspaar – Ruhm und Ehre – weist für sich genommen keine nationalsozialistische Färbung auf und vermittelt einem unbefangenen Beobachter, der die Parole der Hitlerjugend kennt, nicht den Eindruck des Originalkennzeichens dieser Organisation“ (Randnummer 23 der Entscheidung).

Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 01.06.2006 muss maßgeblich sein für jeden Juristen, der den Bestimmtheitsgrundsatz ernst nimmt und im Rahmen von § 86a StGB nicht reines Gesinnungsstrafrecht praktizieren möchte.

Wenn man dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts folgt, muss also das Kennzeichen, und zwar das Kennzeichen selbst, im Rahmen von § 86a StGB eine „nationalsozialistische Färbung“ aufweisen. Das Bundesverfassungsgericht hat somit etwas völlig anderes entschieden als der BGH in der oben zitierten Entscheidung.

Und, ganz wichtig: Diese „Färbung“ muss es nicht aus der Perspektive eines Linksextremisten aufweisen; diese Färbung muss es auch nicht aus der Perspektive eines woken Grünen aufweisen, der schon Herrn Lucke für einen „Nazi“ hielt, obwohl der niemals einer war; vielmehr muss es diese Färbung aus der Perspektive eines „unbefangenen Beobachters“ aufweisen.

Wie also verhält es sich mit der Losung „Alles für Deutschland“ aus der Perspektive eines unbefangenen Beobachters?

Zunächst muss man klar feststellen, dass diese Losung nicht von den Nationalsozialisten erfunden wurde, sondern schon lange vor ihnen in Gebrauch war. Schon in der Zeit der Befreiungskriege war die Losung: „Einer für Alle, Alle für Einen, Alles für Deutschland“ verbreitet. Aus diesem Zeitgeist stammt ja auch die erste Strophe des Deutschlandliedes: „Deutschland, Deutschland über alles“. Selbst König Ludwig I. von Bayern schloss in seiner Proklamation vom 06.03.1848 mit den Worten: „Alles für mein Volk! Alles für Deutschland!“.

Weiterhin muss man feststellen, dass die Losung „Alles für Deutschland“ in den 1930er Jahren allgemein bei deutschen Parteien beliebt war und keineswegs nur von der NSDAP benutzt wurde. Man kann daher nicht wirklich mit gutem Gewissen behaupten, allein die SA hätte sich diese Losung zu eigen gemacht. Beispielsweise schrieb Karl Höltermann, langjähriger Sozialdemokrat und Bundesvorsitzender des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold (dem damaligen „Wehrverband“ der SPD, der sich mehrere Straßenschlachten mit der SA lieferte) in einem Aufruf von 1932 unter anderem: „Wir wollen nichts für uns – alles für Deutschland“.

Auch Adolf Bertram, der Erzbischof von Breslau, warb im März 1933 für die Zentrumspartei (also die Partei der Katholiken) mit den Worten: „Alles für Deutschland! Alles für Christus!“. Und selbst nach dem Krieg gefiel die Losung sogar den Kommunisten sehr gut. Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl schrieben am 24.04.1946 für die neu gegründete Zeitung ihrer Partei, für das „Neue Deutschland“, folgenden Satz: „Alles für Deutschland, alles für das neue Deutschland ist die Leitfahne unseres neuen Zentralorgans“.

Die eben zitierten Beispiele bzw. Tatsachen sind offenkundig, nämlich allgemeinkundig. Geben Sie, lieber Leser, liebe Leserin, nur die Worte „Alles für Deutschland“ bei Wikipedia ein, und Sie erhalten die oben genannten Ergebnisse.

Man muss also feststellen, dass die Losung „Alles für Deutschland“ weder von den Nationalsozialisten erfunden wurde noch von der NSDAP wesentlich häufiger verwendet wurde als von anderen Parteien. Richtig ist, dass die Nationalsozialisten diese Losung AUCH benutzt haben, beispielsweise auf dem Reichsparteitag vom September 1934, bei einer SA-Versammlung, von der ein Foto im Internet kursiert, oder als Gravur auf den SA-Dolchen.

Allein dadurch ist die Losung aber nicht nationalsozialistisch eingefärbt, ebenso wenig wie das Eiserne Kreuz. Hinzu kommt, dass es, wie oben dargelegt wurde, auf die Betrachtungsweise eines „unbefangenen Beobachters“ ankommt. Welcher unbefangene Beobachter wüsste denn heute noch, welches die Losung des Reichsparteitages von 1934 war? Welcher unbefangene Beobachter wüsste denn heute noch, dass die Losung „Alles für Deutschland“ in die SA-Dolche eingraviert war? Wenn man ehrlich ist: Niemand! Ich würde eine Wette abschließen, dass die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung heute noch nicht einmal mehr weiß, wer Ernst Röhm war und wann und wie er starb. Man kann daher nicht ernsthaft behaupten, dass einem „unbefangenen Beobachter“ beim Hören der Losung „Alles für Deutschland“ als erstes die SA einfallen würde.

Vielmehr handelt es sich bei dem Motto „Alles für Deutschland“ in Wahrheit um eine ganz allgemeine Losung, eine Allerwelts-Losung, mit der an den Patriotismus und an die Vaterlandsliebe der Zuhörer appelliert werden soll. Mit der Mitgliedschaft in der NSDAP oder mit den politischen Zielen dieser Partei hat die Losung nichts zu tun.

Solche Appelle von Politikern oder Generälen an den Patriotismus und an die Vaterlandsliebe ihrer Zuhörer sind so alt wie die Menschheit. Schon vor etwa 2.000 Jahren postulierte der römische Dichter Horaz: „Dulce et decorum est pro patria mori“ (Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben). Diese Losung war schon vor 2.000 Jahren verlogen und falsch. Denn es war noch nie sonderlich „süß“, im Krieg für das Vaterland zu sterben.

Oder nehmen Sie Admiral Nelson. Zu Beginn der Seeschlacht von Trafalgar 1805 ließ er an seine Flotte signalisieren: „England expects that every man will do his duty“ (England erwartet, dass jeder Mann seine Pflicht erfüllt). Das war inhaltlich dasselbe wie: „Alles für England“. Denn Nelson wusste, dass viele seiner Leute sterben würden und forderte sie trotzdem auf, alles für England zu geben, auch das eigene Leben.

Oder nehmen Sie Winston Churchill, der zweifelsfrei unverdächtig ist, ein Freund Hitlers oder der NSDAP gewesen zu sein. Churchill appellierte in seiner berühmten Unterhaus-Rede von 1940 an den Patriotismus seiner britischen Mitbürger, obwohl er genau wusste, dass im Krieg gegen Hitler-Deutschland Hunderttausende Briten ihr Leben verlieren würden, und schloss mit den Worten: „I have nothing to offer than blood, toil, tears and sweat“ (Ich habe nichts anzubieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß).

Diese Dinge, nämlich Patriotismus und Vaterlandsliebe, mögen ja nach Auffassung mancher Leute in Deutschland veraltet sein. Sie scheinen in einen Staat, in dem sogar jemand Bundesminister werden kann, der noch vor wenigen Jahren geäußert hatte, dass er Vaterlandsliebe „zum Kotzen“ finde und mit Deutschland nichts anzufangen wisse, tatsächlich nicht mehr hineinzupassen und aus der Zeit gefallen zu sein.

Aber das alles sind nur politische Bewertungen, keine juristischen! Niemand macht sich nach § 86a StGB strafbar, nur weil er eine andere politische Meinung als die Regierung hat und nur weil er eine altmodische Losung verwendet, mit der er an den Patriotismus und die Vaterlandsliebe seiner Zuhörer appelliert. Wenn man so etwas wirklich endgültig bestrafen wollte, wären wir im reinen Gesinnungsstrafrecht angekommen.

Fazit: Schon der objektive Tatbestand von § 86a StGB war nicht erfüllt. 
Der Angeklagte Höcke hätte freigesprochen werden müssen.

b) Subjektiver Tatbestand
Wie schon oben erwähnt wurde, ist grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln strafbar. Was also ist der strafrechtliche Vorsatz? Er besteht aus zwei Komponenten, nämlich einer intellektuellen Komponente, dass der Täter weiß, was er tut bzw. bei Erfolgsdelikten, dass er weiß oder damit rechnet, dass der Erfolg eintreten wird, und aus einer voluntativen Komponente, dass er sein Handeln durchführen will bzw. den Erfolg herbeiführen möchte, wobei es grundsätzlich ausreicht, dass er das billigend in Kauf nimmt. Der „Erfolg“ kann dabei auch etwas ganz Schreckliches sein, beispielsweise der Tod eines Menschen.

Das Problem mit dem Vorsatz liegt im forensischen Alltag darin, dass kein Richter, auch der beste Richter nicht, dem Angeklagten ins Gehirn schauen und dort ablesen kann, was der Angeklagte zur Tatzeit dachte und wollte. Die Gerichte müssen daher immer aus den Angaben des Angeklagten, sofern er welche macht, und aus den festgestellten äußeren Umständen auf die Gedankenwelt des Angeklagten zur Tatzeit schließen.

Das kann manchmal ganz einfach sein. Beispiel: Wenn der Täter mit einer scharfen Waffe seinem Opfer einmal zwischen die Augen und einmal ins Herz schießt, dürfte wohl niemand Zweifel daran haben, dass er sein Opfer töten wollte. Ein Tötungsvorsatz wäre daher problemlos zu bejahen.

Meistens ist ein solcher Rückschluss aber sehr schwierig, insbesondere dann, wenn der Tatbestand ein normatives Element enthält, welches man nicht ohne weiteres sehen, hören oder sonst sinnlich wahrnehmen kann. Beispielsweise beim Diebstahl muss dem Täter bekannt sein, dass er eine „fremde“ Sache wegnimmt. Die Fremdheit einer Sache sieht man ihr aber nicht an. In solchen Fällen muss das Gericht daher unter Würdigung aller Beweise überprüfen, ob man aus den sonstigen Umständen zweifelsfrei feststellen kann, dass der Täter die Fremdheit der Sache kannte. Wenn der Täter beispielsweise in eine fremde Wohnung eindringt, in der er selbst nicht wohnt, und dort eine Sache wegnimmt, wird kaum jemand einen Zweifel daran haben, dass er genau wusste, dass die Sache ihm selbst nicht gehört, sondern fremd ist. Umgekehrt wird man wohl keinen Vorsatz feststellen können, wenn jemand nach einem Restaurant-Besuch einen Regenschirm aus einem Schirmständer mitnimmt, der ihm zwar objektiv nicht gehört, also fremd ist, aber seinem eigenen Schirm zum Verwechseln ähnlich sieht.

Beim Tatbestand von § 86a StGB muss der Täter wissen, dass er ein Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation verwendet.

Nur zum Verständnis: Im vorliegenden Fall Höcke fehlte es bereits am objektiven Tatbestand (s.o.). Aber selbst wenn man hier anderer Meinung ist und den objektiven Tatbestand bejaht, durfte das Gericht den Angeklagten Höcke nur verurteilen, wenn es davon überzeugt war, dass der Angeklagte mit Vorsatz handelte, also genau wusste, dass die Losung „Alles für Deutschland“ auch von der SA verwendet worden war. Herr Höcke hat ein solches Wissen stets bestritten.

Als Indiz für eine solche Kenntnis und für die Widerlegung der Einlassung des Angeklagten wurde, zumindest in der Presse und im Internet, mehrfach erwähnt, dass Herr Höcke ja studierter Geschichtslehrer sei und die Tatsache deshalb wahrscheinlich kannte oder kennen musste. Das aber reicht für eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat nicht aus. Wenn jemand etwas hätte kennen müssen, es aber tatsächlich nicht kannte, ist das kein Vorsatz, sondern nur Fahrlässigkeit. Und eine fahrlässige Begehung steht bei § 86a StGB nicht unter Strafe. Wenn jemand formuliert, der Angeklagte habe die Tatsache „wahrscheinlich“ gekannt, reicht das ebenfalls für eine Verurteilung wegen eines Vorsatz-Deliktes nicht aus, weil es sich um eine bloße Vermutung handelt.

Die Annahme, Herr Höcke hätte die Tatsache genau gekannt, weil er studierter Geschichtslehrer war, ist in meinen Augen ziemlich fernliegend und stellt, wenn man ehrlich ist, ebenfalls nur eine Vermutung dar, aber nicht mehr. Wir alle sind einmal in der Schule gewesen und haben Geschichtsunterricht gehabt. Haben Sie jemals einen Geschichtslehrer erlebt, der ausnahmslos jedes Datum, jedes Motto und jede Begebenheit aus dem Dritten Reich kannte? Ich jedenfalls habe das nicht erlebt.

Umgekehrt gab es auch ein ernst zu nehmendes Indiz, welches gegen eine Kenntnis des Angeklagten und für die Version von Herrn Höcke sprach. Soweit man es der Presse und dem Internet entnehmen konnte, hatte die Verteidigung zwei Standardwerke, ein Standardwerk zur SA und ein Standardwerk zur Sprache im Dritten Reich, in die Hauptverhandlung eingeführt, in denen mit keinem einzigen Wort erwähnt war, dass die SA dieses Motto jemals verwendet hätte! Wenn ein solcher Umstand aber noch nicht einmal in zwei Standardwerken enthalten ist, kann man wohl kaum unterstellen (denn das wäre eine blanke Unterstellung), ausgerechnet der Angeklagte Höcke hätte das aber gewusst. Was berechtigt zu einer solchen Annahme? Ich zumindest finde nichts.

Die Richter konnten Herrn Höcke nicht in den Kopf schauen. Mir ist schleierhaft, aus welchen Umständen hier – trotz der entgegenstehenden Einlassung des Angeklagten und trotz eines entgegenstehenden objektiven Indizes – zweifelsfrei auf einen bestehenden Vorsatz des Angeklagten geschlossen wurde. Bekanntlich gilt, zumindest in einem Rechtsstaat, der Satz: „In dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten). Wenn sich ein Gericht also über eine Tatsache, wobei es sich auch um den Vorsatz als innere Tatsache handeln kann, keine zweifelsfreie Gewissheit verschaffen kann, muss es freisprechen bzw. die dem Angeklagten günstigste Fallgestaltung berücksichtigen. Das gilt auch dann, sogar gerade dann, wenn ein Freispruch politisch unerwünscht oder unpopulär ist.

Wenn man dem Angeklagten Höcke seine Behauptung, er habe nicht gewusst, dass auch die SA die Losung „Alles für Deutschland“ verwendet hatte, nicht zweifelsfrei widerlegen konnte, hätte man, selbst wenn man fehlerhaft den objektiven Tatbestand bejaht, auch mangels Vorsatzes den Angeklagten Höcke freisprechen müssen.

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