Im Jahr 1979, dem Jahr der erfolgreichen islamischen Revolution in Iran, begründete Imam Khomeini, der geistliche Führer dieser Bewegung, ein persischer Schiit, den al-Quds-Tag. ‚Al-Quds‘ bedeutet ‚das Heiligtum‘ und ist die arabische Bezeichnung für Jerusalem. Der Tag ist dem Protest gegen die israelische Kontrolle Jerusalems gewidmet und wird jedes Jahr mit großen Demonstrationen gegen Israel, aber auch gegen die USA, Israels engsten Verbündeten, begangen. Auch in Europa haben sich im Zuge der muslimischen Migration entsprechende Demonstrationen verbreitet. Berlin ist dabei naturgemäß ein Schwerpunkt.
Heilige Stadt für drei Religionen
Dafür ist es wichtig, dass radikale Elemente und Störer oder Provokateure keine Gewaltakte verüben können und dass keine eskalierende Spirale der Gewalt entsteht. Jedes Jahr sorgen jedoch konfliktbereite Gruppierungen dafür, dass es zu Auseinandersetzungen kommt, die sie – sei es in Jerusalem oder Berlin – meist selbst auslösen und anstacheln.
Schiiten als Verteidiger sunnitischer Interessen?
Die Palästinenser sind ganz überwiegend Sunniten, es gibt eine – einstmals beträchtliche – christliche Minderheit unter ihnen, Schiiten gibt es praktisch nicht. Dennoch war es ein schiitischer Religionsführer, der den Jerusalemtag ins Leben rief. Ein Iraner war es, der diesen Tag zur Verteidigung palästinensischer, also arabischer Interessen und Rechte initiierte. Es ging dabei darum, sich seitens des Iran als Speerspitze islamischer Interessen zu profilieren, Einfluss in einer arabischen Region zu gewinnen und schiitische Dynamik zu entfalten. Denn im benachbarten Libanon stellen die Schiiten die größte Glaubensgemeinschaft dar und mit ihrer politischen Organisation Hisbollah eine der einflussreichsten, aber auch gefährlichsten politischen Gruppierungen im Nahen Osten, deren Aktionsfeld sich längst auf Europa ausgeweitet hat.
Der al-Quds-Tag ist also auch immer ein Tag iranischer Einflussnahme und Agitation. Die Hisbollah, schon mehrfach des Terrors verdächtig, wurde in Deutschland endlich am 30. April 2020 vom Bundesinnenminister verboten. Bemerkenswert ist, dass in den Jahren zuvor immer wieder Kontakte zwischen der Hisbollah und deutschen Nazis beobachtet worden waren.
Politische Demonstrationen oder Judenhass und Gewaltexzess?
Gerne wird das Narrativ bemüht, es sei das gute Recht der Palästinenser – auch derjenigen, die bei uns leben –, ihre Anliegen und politischen Ziele zur Geltung zu bringen und die Diskriminierung und Unterdrückung, deren Opfer sie – wirklich oder vermeintlich – sind, zu thematisieren.
Es ist zwar prinzipiell legitim und legal, für eigene politische Anliegen zu demonstrieren, Forderungen zu stellen und erlittenes Unrecht anzuprangern. Demonstrationen am al-Quds-Tag und andere anti-israelische Aktionen arten jedoch regelmäßig aus in Gewaltorgien und in Manifestationen von blankem Judenhass. Es geht nicht um politische Rechte oder gerechtfertigte Anliegen, sondern um Antisemitismus und Hasskriminalität. Beispielsweise am Samstag, den 15. Mai 2021 wurden 93 Polizisten bei einer pro-palästinensischen Demonstration verletzt.
Ein seltsames Vorgehen von Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, ihre Rechte gegen Gewalt seitens des Staates Israel zu verteidigen. Ihr Verhalten legt die Vermutung nahe, dass sie sich nicht in adäquater Weise in einen Rechtsstaat einfügen können oder wollen. Die Frage drängt sich auf, wie die Lage in Israel aussähe, wenn die dortigen Sicherheitsbehörden nicht konsequent durchgreifen würden. Auf solchen anti-israelischen oder pro-palästinensischen Demonstrationen hört man Forderungen wie die, das Palästina sich „vom Meer bis zum Fluss“ erstrecken muss, also vom Jordan bis zum Mittelmeer – eine Forderung, die in letzter Konsequenz das Existenzrecht Israels negiert.
Auch „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ war ein Slogan, der bei derartigen Demonstrationen bereits zu hören war. Dabei entstehen manchmal unheilige Allianzen – wenn etwa Linke, Rechte und Islamisten zusammenfanden, sofern es nur gegen Juden ging. Aus solchen Demonstrationen heraus wurden auch im Ramadan 2022 (April) Journalisten attackiert und Menschen als ‚Drecksjuden‘ beschimpft. „Parolen übelster Art“ beklagte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD).
Kein al-Quds-Tag 2022 in Berlin
Öffentliche Bestürzung über die judenfeindlichen und anti-israelischen Vorkommnisse wurde laut. In einem Brief an die Bundesinnenministerin äußerte sich die Deutsch-Israelische Gesellschaft Berlin „über die immer aggressiver und selbstbewusster in der Öffentlichkeit auftretenden Israel- und Judenhasser und Feinde der westlichen Werte besorgt“. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt/Main forderte in einer Erklärung: „Weder darf Antisemitismus von der Meinungsfreiheit noch antisemitische Kundgebungen vom Versammlungsrecht gedeckt werden.“
„Friedensbrecher“ nannte der deutsch-israelische Professor Wolffsohn die muslimischen Gewalttäter, ihre Aktionen bezeichnete er als „Pseudo-Intifada“. Die offizielle deutsche Reaktion darauf sieht er als „unverbindliche Phrasen und Symbolpolitik“. Von ‚importiertem Judenhass‘ wurde gesprochen.
Führt Israels Politik zu Judenhass?
Ein beliebtes Narrativ besteht darin, die antijüdische Haltung von Muslimen und die sich daraus ergebenden Exzesse als natürliche Folge der Gründung Israels, der israelisch-arabischen Kriege und der harten israelischen Politik gegenüber den Palästinensern darzustellen. Allerdings richten sich die Attacken radikaler Muslime nicht (nur) gegen den Staat Israel oder Israelis, sondern ganz allgemein gegen ‚die Juden‘.
Wer eine Kippa trägt oder einen Davidstern oder sonst in irgendeiner Weise den Eindruck vermittelt, er oder sie sei ‚Jude‘, kann Ziel antijüdischer Bischimpfungen oder physischer Angriffe werden. Und die Slogans der muslimischen Demonstranten nehmen explizit ‚die Juden‘ ins Visier.
In den islamischen Urstaat von Medina, wo der Prophet Muhammad erstmals politische Macht im direkten Sinn ausübte, waren auch drei jüdische Stämme einbezogen. Doch nach und nach wurden diese, jeweils nach militärischen Konflikten mit dem Nachbarn und Erzfeind, Muhammads Vaterstadt Mekka, ausgeschaltet. Zwei hatten das relative Glück, ‚nur‘ vertrieben zu werden, die Männer des dritten Stammes wurden – angeblich wegen Verrats – getötet, Frauen und Kinder versklavt.
Die damaligen Vorgänge kennen wir nur aus muslimischen Quellen, jüdische oder neutrale Überlieferungen gibt es nicht. Aber selbst, wenn wir der Argumentation folgen, es habe seitens der Juden Verrat gegeben, stellt sich die Frage: Waren alle Juden damals ‚Verräter‘?
Welche Schuld traf Kinder?
Später eroberten die Muslime die vorwiegend von Juden bewohnte Oase Chaibar. Damals wurden Präzedenzfälle geschaffen für die künftige Behandlung von Nichtmuslimen im Dar al-Islam, dem Machtbereich des Islam. Nichtmuslime hatten eine Sondersteuer zu zahlen, waren zahlreichen Regulierungen (zum Beispiel Kleiderordnung) unterworfen und wurden ‚Bürger zweiter Klasse‘.
Aus der Geschichte lernen
Freilich ist nichts vergleichbar mit dem Genozid der Nationalsozialisten an den Juden. Doch Deutschland hat seine Lektion gelernt, Konsequenzen gezogen und Verantwortung übernommen. Israel bezeichnet heute Deutschland als seinen engsten Partner neben den USA. Hieraus ergibt sich auch die Verpflichtung, auf deutschem Boden keinerlei Judenhass und Diskriminierung von Juden von anderer Seite zu dulden – auch nicht unter dem Vorwand, Israel führe eine allzu harte Politik gegenüber den Palästinensern.
Deutschland hat auch Muslimen und Arabern viel geholfen und ihnen seit Jahrzehnten Asyl bei uns gewährt. Es wäre erfreulich, wenn auch noch mehr Palästinenser und Muslime versuchen würden, konstruktive Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen und gerade in einem Land wie Deutschland sich in den demokratischen Rechtsstaat einzufügen.
Der Autor ist unter anderem Verfasser der Bücher ‚Die Araber und Europa‘ (Kohlhammer 2008) und ‚Gehört der Islam zu Deutschland?‘ (Orell-Füssli 2017).