Tichys Einblick
5 Jahre nach Corona

Erst Vernichtung – und jetzt Vergebung einfordern?

Fünf Jahre nach Beginn von Corona sind die Gräben in unserer Gesellschaft tiefer denn je. Dr. Friedrich Pürner setzt sich mit den Folgen von Ausgrenzung, mangelnder Aufarbeitung und der schwierigen Frage auseinander, ob Vergebung möglich ist, nachdem Kritiker vielfach vernichtet worden waren..

picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt

Der 5. Jahrestag der Corona-Pandemie steht vor der Tür und erinnert uns an die tiefen Risse, die in unserer Gesellschaft entstanden sind. Diese Risse sind nicht einfach nur physikalische Distanzierungen. Sie haben sich zu Gräben moralischer, sozialer und politischer Natur ausgeweitet, die schwer zu überbrücken sind. Es ist ein Moment der Reflexion, ein Zeitpunkt, in dem ich mich frage, wie wir als Gemeinschaft weitergehen können, nachdem wir so viel durchgemacht haben. Wir, die Ausgegrenzten. Die Ungeimpften. Die Ausgestoßenen. Die Hinterbliebenen von Covid-Toten. Selbst habe ich keinen mir nahestehenden Menschen in meiner engeren Familie durch COVID verloren. Andere schon.

Am eigenen Leib habe ich erfahren müssen, wie es ist, ausgegrenzt und von der Gesellschaft verstoßen zu werden. Die volle Härte des Staates, des Systems bekam ich zu spüren. All dies nur, weil ich das sagte und schrieb, was nun durch die offenen Protokolle des RKI für jeden sichtbar ist. Doch wie geht man damit um? Ja, ich wurde in dieser Zeit verletzt. Nicht körperlich. Vielmehr im Inneren. Meine Seele, mein Herz wurden von Menschen, die mir nahestanden und denen ich vertraute, beschädigt. Beruflich und privat.

Es ging nie um Solidarität

Während ich mit vielen anderen Mitstreitern für die Demokratie und die Grundrechte eintrat, wollten andere nur ihre Freiheit zurück. Urlaub, Freiheit, Spaß. Es ging nie um echte Solidarität. Es war der pure Eigennutz, der viele unter Masken und in die Impfung trieb. Genau von diesen Menschen kamen der größte Druck, die größten Anfeindungen, die schlimmsten Vorwürfe sowie die schrecklichsten beruflichen Einschnitte für mich, die ich jemals zu erdulden hatte. Doch wie geht man damit um? Es ist schwer. Sehr schwer. Je mehr Zeit vergeht und je deutlicher zum Vorschein kommt, dass viele Antreiber und Verantwortliche dieser Maßnahmen kein ehrliches Interesse an einer Bitte um Verzeihung oder an Wiedergutmachung haben, umso schwerer wird es für mich, meine buddhistische Gelassenheit und den inneren Frieden zu bewahren. Für mich stellt sich öfter die Frage: weshalb sollte ich weiterhin moralisch und ethisch besser handeln als die, die es nicht tun. Ich merke, wie mir die Kraft schwindet, meinen moralischen Kompass in dieser Sache aufrecht zu halten.

Vor Corona mochte ich einen bestimmten Showmaster. Ich fand ihn und seine Quiz-Sendung genial. Voller Vorfreude wartete ich auf die nächste Sendung. Dann, in der Corona-Zeit, warb er dafür, daheim zu bleiben, sich impfen zu lassen. Mit seinem Gesicht und Bekanntheitsgrad setzte er damit andere Menschen sozial unter Druck. Dabei stellte sich heraus, dass er zum Zeitpunkt der Werbung wohl selbst gar nicht geimpft war. Neulich sah ich ihn wieder im TV. Ich wollte sehen, ob ich ihn wieder ertragen kann. Es gelang nicht. Er war wie immer. Charmant, witzig, klug. Aber das half alles nichts mehr. Ein düsterer Schleier umgibt seine Aura. Ich kann ihn nicht mehr ertragen. So geht es mir mit vielen Menschen. Tolle Schauspieler beispielsweise. Nun kämpfe ich mit mir selbst, dass ich meinen Anspruch an mich selbst haltend, Werk und Mensch trennen kann – aber es gelingt mir kaum mehr.
Ebenso ist es mit Zeitungen – hier namentlich die Süddeutsche Zeitung. Als junger Mann und Student war ich verrückt nach diesem Blatt und verschlang es regelrecht. Was wäre ein Frühstück am Wochenende ohne ausführliche Lektüre dieser Zeitung gewesen? Unvorstellbar. Jeder Tag musste mit dem sog. „Streiflicht“ beginnen. Und nun? In der Corona-Zeit habe ich diese Zeitungslektüre eingestellt. Ich ertrug diese schlechten Artikel über Medizin nicht mehr. Es war nicht mehr auszuhalten, dass die Schreiberlinge so ungeheuerlich auf Menschen, die nur Kritik übten, eindroschen.

Verzeihen ist ein großes Wort

Immer wieder wurde ich gefragt, ob ich das alles verzeihen könne. Gemäß meiner inneren Einstellung antwortete ich mit „Ja“. Ich hoffe, ich habe mich nicht getäuscht und mir selbst nichts vorgemacht. „Vergessen würde ich jedenfalls das alles nicht“, war meine ständige Antwort.

Doch weshalb bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich verzeihen kann? Ob ich tatsächlich verziehen habe? Der zunehmende Groll zeigt mir, dass ich darüber nicht hinweg bin. Wie wird es wohl dann den Menschen in der Gesellschaft gehen, die niemals vor hatten, zu verzeihen?

Woran liegt es, dass mir nun öfter der Gedanke kommt, nicht mehr den Dialog mit den damaligen Ausgrenzern zu suchen? Mit denen, die mich isolierten, diffamierten, verspotteten und betrogen? Woran liegt es, dass ich plötzlich nicht mehr zwischen Künstler und Werk differenziere und allgemein einfach den Künstler samt seiner Kunst ablehne? Womöglich, weil ich es leid bin. Denn das Thema Aufarbeitung, zu der ganz sicher das Eingeständnis von Schuld und Übernahme von Verantwortung gehört, ist selbst nach fünf Jahren der Pandemie nicht ernsthaft zu spüren. Kein Wort des Bedauerns.

Erst in den letzten Wochen begann in den Medien und bei ein paar Politikern ein leichtes Zucken. Wie so oft wird es auch wieder verebben. Besonders auffällig ist die plötzliche Wende bei denjenigen, die einst die strengsten Maßnahmen befürworteten – Politiker und Medien, die jetzt eine Aufarbeitung und Vergebung fordern. Aber warum jetzt? Warum verlangen dieselben Personen, die uns in diese Krise führten, nun Frieden und Versöhnung?

Diese Wende könnte auf politischem Kalkül beruhen. Vielleicht haben die Corona-Hardliner erkannt, dass ihre einstigen Entscheidungen jetzt ein selektiver Stolperstein sind. Die Menschen, die durch die Maßnahmen hart getroffen wurden – sei es durch Jobverlust, soziale Isolation, psychische Belastungen oder persönliche Tragödien – sind nicht bereit, einfach hinzunehmen, was geschehen ist. Sie wollen Antworten, sie wollen Gerechtigkeit, und das könnte die politische Landschaft drastisch verändern. In einem Versuch, das Vertrauen zurückzugewinnen oder zumindest den Schaden zu begrenzen, sprechen sie nun von Vergebung und Versöhnung, doch diese Worte klingen für viele Betroffene wie leere Versprechungen.

Eher Strategie als ehrliche Reue

Für mich ist es vielmehr eine Strategie, die auf der Hoffnung basiert, dass die Zeit die Wunden heilt und die Wähler ihre Unzufriedenheit vergessen oder verzeihen.

Die Medien, einst die Lautsprecher der Pandemiepolitik und willfährige Moralapostel und Scharfrichter von Kritikern, erkennen, dass sie maßgeblich zur Spaltung der Gesellschaft und in Einzelfällen zur beruflichen sowie sozialen Vernichtung von Personen beigetragen haben. Ihre Berichterstattung war oft dramatisch, schürte Angst, ließ wenig Raum für differenzierte Diskussionen und stellte Personen, die Kritik übten, an den öffentlichen Pranger. Die Medien haben in vielen Fällen mehr auf Schlagzeilen als auf wissenschaftliche Nuancen gesetzt. Dies führte zu einer Polarisierung, die bis heute nachwirkt.

Nun fordern sie – wenig glaubhaft – eine Aufarbeitung, vielleicht in der Hoffnung, ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren oder wiederherzustellen. Doch wie kann man Glaubwürdigkeit wiedergewinnen, wenn man selbst ein Teil des Problems war?
Nun fordern sie, dass man sich bitteschön verzeihen möge, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Wie kann das jemand fordern, der selbst die Axt anlegte und bislang nicht die geringste Übernahme von Schuld und Verantwortung zeigt?

Das Staatsziel wurde auf vielen Schultern verteilt

Die Forderung nach Aufarbeitung und Vergebung ist mit tiefen ethischen und philosophischen Problemen behaftet. Wer trägt die moralische Schuld, wenn Entscheidungen im Namen des Gemeinwohls getroffen wurden, die doch so viel Leid verursacht haben? Der absolute Gesundheitsschutz war plötzlich das Staatsziel. Alle Erkrankungs- und Todesfälle in Bezug auf Corona sollten verhindert werden. Der Preis: ein ständig andauernder Ausnahmezustand und die Verletzung von Grundrechten. Doch zu keinem einzigen Zeitpunkt waren diese strikten Regelungen verhältnismäßig.

War es nicht auch die Wissenschaft, die unsicher war? Ja, eine gewisse Unsicherheit stehe ich der Wissenschaft zu. Doch nach einem kurzen Moment der Schockstarre hätte sich die Wissenschaft wieder auf das konzentrieren müssen, was Wissenschaft ausmacht: valide Daten erheben, Diskussionen anregen und führen sowie Hypothesen entwerfen, überprüfen und auch wieder verwerfen, wenn es keine Evidenz dafür gibt.

Und was war mit den Individuen, also den einzelnen Menschen, die entweder die Regeln befolgten oder sie missachteten? Sie hätten alle die Pflicht gehabt, sich umfassend zu informieren. Es ist nicht ausreichend, sich nur auf die Beiträge einzelner Personen, die die Deutungshoheit für sich beanspruchen, zu verlassen und alles unreflektiert zu glauben und aus Angst vor Repressalien hinzunehmen.

Die Last der Verantwortung scheint auf viele Schultern verteilt zu sein. Das macht die Aufarbeitung zu einem komplexen, schmerzhaften Prozess. Oft frage ich mich, ob es wirklich möglich ist, eine klare Schuld zuzuweisen – angesichts der Fülle an Faktoren und Vielzahl an involvierter Akteure. Meine Antwort: Ja, es ist möglich. Denn die Verantwortlichen, die Regierenden, der Gesetzgeber, die Verordnungsgeber, die Experten und die, die öffentlich andere diffamiert und ausgegrenzt haben, sie alle haben Namen.

Wie gehen wir als Gesellschaft um?

Die Frage nach Gerechtigkeit und Wahrheit stellt uns vor ein Dilemma: Haben wir das Recht, die Wahrheit zu verlangen und Fehler offenzulegen oder haben wir das Recht, diese schmerzhaften Erinnerungen zu vergessen? Beides steht in einem unversöhnlichen Spannungsverhältnis. Die Wahrheit zu suchen, könnte alte Wunden aufreißen, während das Vergessen uns daran hindert, aus unseren Fehlern zu lernen. Die Leidtragenden werden dann damit alleine gelassen. Es ist eine Balance zwischen der Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen, und dem Bedürfnis nach Heilung und Frieden.

Bleibt noch die Frage nach Vergebung und ich bin wieder am Anfang. Kann man wirklich vergeben, wenn das Vertrauen so tief erschüttert wurde? Vergebung erfordert ein ungeheueres hohes Maß an moralischer Disziplin. Die Spaltung, die die Pandemie verursacht hat, macht es schwer, diese Position zu erreichen.

Für viele ist die Verletzung zu tief, der Schmerz zu groß, um Worte der Versöhnung einfach hinzunehmen. Viele haben ihre Lebensgrundlagen verloren, ihre sozialen Kontakte verloren, haben psychisch gelitten und einige sind aufgrund der Impfung schwer geschädigt worden – für sie sind die Worte der Politiker hohl und unbefriedigend. Wie kann man vergeben, wenn man das Gefühl hat, dass diejenigen, die Vergebung fordern, nie wirklich verstanden haben, was sie angerichtet haben?

Die Forderung nach Versöhnung stößt daher auf Widerstand, weil sie von vielen als zu spät, zu opportunistisch oder als nicht ausreichend empfunden wird. Das Vertrauen in diejenigen, die nun Frieden predigen, ist verloren. Es wird schwer, diese Kluft zu überwinden. Die Gesellschaft müsste sich selbstkritisch auseinandersetzen, aber dafür sind wir zu sehr in unseren Überzeugungen verankert. Es gibt eine tief verwurzelte Angst, dass ein ehrliches Eingeständnis kollektiver Fehltritte nur weitere Spaltungen fördern könnte.

Diese Aufarbeitung wird Zeit brauchen, wahrhafte Ehrlichkeit und vor allem die Bereitschaft zur Selbstreflexion. Es ist nicht nur eine Frage der Politik oder der Medien, sondern eine Aufgabe für jeden Einzelnen von uns. Wir müssen bereit sein, unsere eigenen Rollen in dieser Krise zu hinterfragen und zu verstehen, dass diese letzten fünf Jahre nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine moralische und philosophische Herausforderung war.

Nur durch ein tieferes Verständnis für die angerichteten Schäden bzw. Verletzungen und die Bereitschaft, die Fehler der Vergangenheit zu erkennen sowie zu akzeptieren, können wir hoffen, eine Gesellschaft zu formen, die weniger gespalten und verständnisvoller ist.

Die Heilung wird nicht über Nacht kommen, aber mit jedem ehrlichen Gespräch, jedem Moment der Selbstreflexion, jeder Handlung des Verstehens machen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen uns daran erinnern, dass wahre Vergebung und Versöhnung nicht durch Worte, sondern durch Handlungen und echte Veränderung erreicht werden kann.

Ich hoffe für uns alle das Beste. Fünf Jahre nach den ersten nachgewiesenen COVID-Fällen in Deutschland bin ich immer noch tief erschrocken über das Ausmaß der staatlichen Maßnahmen. Nach fünf Jahren bin ich immer noch betroffen, wie sehr mich einige Menschen enttäuscht haben. Diese Kerbe in meinem Herzen – so fürchte ich – werde ich den Rest meines Lebens zu tragen haben.


Dr. med. Friedrich Pürner, MPH
Mitglied des Europäischen Parlaments, MdEP

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