Jürgen S. ist Schäfer im beschaulichen Wistedt/Osterwohle. Das liegt in Sachsen-Anhalt – bei Salzwedel. Gemeinsam mit einem halben Dutzend Hütehunde wacht er über 350 Mutterschafe. Ein paar Ziegen laufen auch mit. Nah am Hof weiden Lamas, und Jürgens Freundin züchtet Pferde.
Alles idyllisch, alles gut? Nein, denn der gute Schäfer hatte nun schon zum dritten Mal innerhalb weniger Monate den Wolf in der Herde. „Beim letzten Mal hat er sieben Schafe erwischt. Sie glauben nicht, was hier los ist. Entschädigt wurde ich bis heute nicht.“
Und dann schickte er Bilder. Grauenvolle Aufnahmen. Zerfetzte, ausgeweidete, angefressene, sterbende, aufgeblähte, blutverschmierte Schafe und Lämmer. Dabei war doch gerade erst Ostern. Seine Freundin liefert Fotos eines ihrer Fohlen nach, das nach einer Bissverletzung eine schwere Infektion bekam und um dessen Leben sie jetzt bangen muss.
Nun ist Jürgen eigentlich ein ruhiger Zeitgenosse, so aufgeregt war er noch selten. Mit den Bildern schickt er Telefonnummern aus seiner Umgebung. Betroffene. Nicht nur Schäfer, auch Rinderzüchter und einfache Bürger, die über eine Sachlage berichten, die so gar nicht passen will zu der romantischen Erfolgsgeschichte der so aufwendig betriebenen Wiedereingliederung des Wolfes in Deutschland.
Die nicht recht passen will zu diesen weltfernen Diskussionen, wie sie heute von engagierten und betroffenen Tierschützern in den Großstädten von ihren Computern aus geführt werden. Ein Beispiel? Das Magazin Spiegel“bietet mit „Dein Spiegel“ auch eine dünne Ausgabe für Kinder. Aktueller Titel: „Wölfe in Deutschland“. Müssen sich die Eltern der kleinen Abonnenten erschrecken? Werden da nun diese grauenvollen Bilder auftauchen, die der Schäfer per Whatsapp versandte?
Natürlich nicht. Redakteurin Julia Koch nimmt sich der Wölfe kindgerecht an: „Wenn Wölfe eine Schafsherde angreifen, bekommt der Schäfer vom Staat zwar einen Ausgleich – aber schön ist das natürlich trotzdem nicht.“
Nein, liebe Julia Koch, schön ist das wirklich nicht, wenn das Schaf des Nachts bei lebendigem Leibe angefressen wird, wenn der Wolf ihm die Innereien bereits halb herausgerissen, aber noch keinen tödlichen Biss gesetzt hat, wenn er gestört wird und vom angefressenen Tier ablässt, das dann über Stunden elend verendet. Schafe schreien ihren Schmerz nicht laut heraus.
Nein, Tierschutzregeln gelten für Menschen im Umgang mit Tieren, nicht von Tier zu Tier. Wie ist das eigentlich: Wenn die Klauen unvorschriftsmäßig geschnitten werden, macht sich der Schäfer strafbar, wenn der Wolf wieder angesiedelt wird, darf alles geschehen?
Schäfer Jürgen schickte also zusätzlich zu den Horrorfotos Telefonnummern aus seiner näheren Umgebung von weiteren Betroffenen. Stefan Habke aus Zobbenitz ist einer von ihnen. Und auch der hat wieder weitere Telefonnummern von Schäfern und Rinderzüchtern, die entweder mit trägen oder inkompetenten Behörden um Entschädigungen rangeln oder die sich einfach Sorgen machen, wie das nun alles weitergehen soll.
Der Wolf hat ja keine natürlichen Feinde. Selbst Pro-Wolf-Gruppen wie beispielsweise die „Wolfsite Isegrim“ (http://woelfeindeutschland.de) schätzt eine Zunahme von „pro Jahr etwa 30 Prozent beziehungsweise dem Faktor 1,3“. Man will allerdings wissen, dass die Wachstumskurve nur anfangs steil ansteige. Die „erreicht einen Wendepunkt, flacht ab und pendelt sich an der Kapazitätsgrenze des Lebensraums ein“. Das gelte für alle Tierarten und natürlich auch für Wölfe. Die Kapazitätsgrenze läge für Deutschland ja sowieso bei 440 Rudeln. Aber ob sich der Wolf daran halten wird?
Für die Betroffenen vor Ort jedenfalls zeigt sich eine ganz andere Entwicklung. Da vermehrt sich der Wolf rasant. Isegrim also ein echter Überlebenskünstler? Wenn schon nicht in der offiziellen Statistik, dann doch zweifelsfrei tagsüber dokumentiert mit der Kamera: ausgelassen spielende Wolfsjunge mitten auf einem asphaltierten Weg. Rechts und links das reife Korn in der Mittagssonne.
Aber für niedliche Tiergeschichten ist kein Platz. Denn stellvertretend für viele andere Dörfer und Gemeinden im neuen deutschen Wolfsgebiet hat Isegrim das Leben der Menschen in Wistedt verändert. Pilze suchen oder joggen nur noch mit dem Messer in der Tasche und immer den aufmerksamen Blick nach rechts und links gewandt, berichtet Habke, ohne dass er dabei besonders melodramatisch klingen würde. Die Kinder hätten schon lange striktes Spielverbot abseits der schützenden Höfe. Die würden auch nicht mehr darüber jammern, denn Kinder, die beim Spielen nahe der Weideflächen blutverschmierte Tierkadaver entdecken, wissen den Hof als Spielfläche wieder zu schätzen.
Dass der Wolf den Menschen kaum noch scheut, wissen hier die meisten aus eigener Anschauung. „Allein in den letzten Tagen gab es schon drei Beinaheunfälle durch die Fahrbahn kreuzende Wölfe.“ „Beinahe“? Besagte Wolfsite Isegrim hofft stellvertretend für alle, die mit dem Wolf tanzen, sogar auf echte Unfälle. Da will man die Angst vor dem Wolf so abschwächen: „Verkehrsverluste nehmen zu. Die Population wächst zwar weiter, aber das Wachstum verlangsamt sich.“
Echtes Problem oder Vorurteil?
Die „Volksstimme Haldensleben“ zitiert die Frau des Schäfers Christian Kruse aus Uthmöden: „Unsere Tochter geht in Satuelle in den Waldkindergarten. Wir wollten, dass dort im Wald ein Zaun gezogen wird.“ Es heißt vom Träger der Einrichtung, dass sich die Kinder dann nicht mehr so entfalten könnten. Aber die junge Mutter hat jetzt die Bilder von verendenden Schafen im Kopf. „20 Schafe hat der Wolf auf unserer Weide schon gerissen.“
Zobbenitz, Satuelle, Uthmöden oder Jürgens Wistedt/Osterwohle – Magdeburg, die Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts, ist jetzt in den Köpfen viel weiter entfernt als nur 50 Kilometer. In Zobbenitz kommen 24 Einwohner auf einen Quadratkilometer, in Magdeburg sind es 1173. In der Landeshauptstadt ist die Umwelt- und Agrarministerin Claudia Dalbert von den Grünen zu Hause und in Zobbenitz, wie in vielen anderen sachsen-anhaltischen Orten, seit ein paar Jahren der Wolf. Das eine hat eng mit dem anderen zu tun.
Gegen das Vorurteil des „bösen Wolfs“ aus dem Märchen helfe Aufklärung und Information, weiß Frau Dalbert. Dafür ließ sie in Iden, einem 650-Seelen-Ort in der Altmark, ein Kompetenzzentrum eröffnen mit drei Vollzeitstellen. In Iden werden Schulungen im Zaunbau für Schäfer angeboten. Aber noch ist es nur ein kleines Büro, auch wenn für die Arbeit genug Geld freigeschaufelt wurde.
Nun ist Vorurteilsbekämpfung ganz offensichtlich das Gebot der Stunde. Überall, wo Bürger sich sorgen, soll ein problematisches Miteinander trainiert werden, soll die Integration des Wolfes in seine ehemals angestammte Landschaft vorangetrieben werden. Dafür fuhr die Frau Ministerin sogar mal nach Schopsdorf, denn seit dem Jahreswechsel hat die örtliche Agrargenossenschaft dort bereits neun Rinderkälber – vermutlich durch Wölfe – verloren. 2016 waren es im ganzen Jahr zwölf.
Lächerlicher Rotkäppchen-Vergleich
„Vermutlich“, so schreibt man das, wenn zwar alles auf den Wolf hinweist, aber eine DNA-Analyse nicht durchgeführt wurde. Das liest sich besser, weiß Lutz Kulina aus der Nähe von Gardelegen. Er züchtet nicht nur die wertvollen hellen Charolais-Rinder, er ist beruflich auch als Klauenpfleger überall im Land unterwegs. Er erinnert sich noch gut, wie die Landwirte und Tierzüchter vor ein paar Jahren von der Presse mit Rotkäppchen-Vergleichen veräppelt wurden, als sie bei einer Informationsveranstaltung ihre Sorge um den einziehenden Wolf äußerten.
Mittlerweile hält sich Kulina zusätzlich sieben Esel. Nein, nicht etwa weil er eine Verwandtschaft spürt, sondern weil diese in dem Ruf stehen, Wölfe fernzuhalten.
Und weil der Esel nicht gern allein steht, weil sich sonst möglicherweise Tierschützer aufregen könnten, müssen es pro Kleinherde immer gleich mindestens zwei sein. Und weil Kulina viel herumkommt und überall fachgerecht Klauen schneiden muss, weiß er von einer viel größeren Anzahl „vermutlicher“ Wolfsschäden.
Aber vermutlich ist dieses „vermutlich“ gewollt, denn eigentlich steht es selbst für die Wolfsbeauftragten am Tatort außer Frage, wie die Tiere getötet oder so schwer verletzt wurden, dass sie verenden. Aber auch ein „vermutlich“ wird entschädigt. Irgendwann. Nur taucht es dann eben nicht mehr in der Statistik der nachgewiesenen Wolfstötungen auf.
Nun orientieren sich auch die Termine der für Züchter so wichtigen Zuchtschauen an der optimalen Zeit für das sogenannte Abkalben auch der Charolais-Rinder. Aber bei Kulinas bestimmt heute der Wolf den Besamungszeitpunkt, damit Meister Isegrim nicht im Mai auf den Wiesen die schutzlosen Kälber als willkommene Zwischenmahlzeit bekommt.
Immer mehr Betroffene melden sich – auch bei der Redaktion von TE. Gleich im Dutzend werden Bilder geschickt von Wolfssichtungen. Aber noch mehr Aufnahmen von Kadavern. Ein wahres Whatsapp-Massaker. Die Qualen dahinter mag man sich kaum vorstellen. Das Schweigen der Lämmer dröhnt im Kopf. Die Pferdezüchterin mit dem verletzten Fohlen schreibt: „Die da oben sollen sich mal an den Fuchs erinnern. Der macht zwar keinen Schaden, aber das ehemals scheue Tier wird mit jeder neuen Generation dreister. Die besorgen sich mittlerweile ihr Fressen schon regelmäßig in den Ortschaften und Städten. Warum soll das mit den Wölfen anders laufen? Meine Nachbarin musste neulich hupen und hupen, bis ein Wolf endlich die Straße frei gemacht hat.“
Schäfer Jürgen weiß um die neue Idee des Ministeriums, finanzielle Unterstützung bei der Anschaffung sogenannter Schutzhunde zu leisten. Aber er bleibt skeptisch. Diese Hunde sind noch mal ein anderes Kaliber als seine Hütehunde. Ihre Aufgabe ist es, sich dem Wolf entgegenzustellen. Aber wie soll der Schutzhund nun unterscheiden zwischen dem Wanderer oder harm losen Hundebesitzer, der gerade vorbei kommt, und dem bösen Wolf?
Bei Schäfer Kruse ist soeben ein Lehrling krankenhausreif gebissen worden. Kruse lässt immerhin die Vermutung gelten, dass der Lehrling den Hund vielleicht provoziert haben mag. Seine Hütehunde allerdings sind da gemütsstärker. Für den Wolf jedenfalls braucht man nun mal einen ebenbürtigen Gegner, wenn man ihn vergrämen will.
Forderung nach Wolfsreservaten
Stefan Harbke aus Zobbenitz appelliert in der „Magdeburger Volksstimme“ an die Volksvertreter: „Es kann nicht sein, dass der Wolf uns unserer Freiheit beraubt. Wir fordern, den Wolf in Reservaten oder Tierparks zu halten, sodass er eine Daseinsberechtigung hat.“
Wolfsmanagement, Wolfskompetenzzentrum, Rissbegutachter und Herdenschutzberater – dem Schäfer soll geholfen werden. Aber der ist längst nicht mehr allein im Stall. Auch die Bürger der kleinen Ortschaften entlang der einsamen Straßen bekommen es mit der Angst zu tun. Siegfried Borgwardt, CDUFraktionsvorsitzender im Landtag von Sachsen-Anhalt, nimmt das Thema inzwischen ernst: „Die CDU will nicht warten, bis ein Mensch angefallen wird.“
Aber was will Borgwardt unternehmen? Will er Schäfer Kruse nun mit Mistgabel und Dreschflegel auf die Frühlingsdeichflächen zwischen Klietz und Jerichow begleiten? Dort könnte es nämlich schon demnächst zur Konfrontation kommen: Jäger berichteten Kruse, dass dort etwa neun Wölfe herumliefen.
Die Wolfsverbreitungskarte kommt da kaum noch mit. „Wolfsrisse werden nur in Nichtwolfsgebieten dokumentiert, also dort, wo es interessant ist“, schreibt der Freundeskreis freilebender Wölfe e.V. Den Wolf wird diese Art der Willkommenskultur sicher freuen. Oder es ist ihm völlig egal – solange nur genug Lämmer, Kälber und Fohlen zur Freilandfütterung bereitstehen.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 06/2017 von ‚Tichys Einblick‘ Print erschienen: