Tichys Einblick
Eine Antwort

Wir brauchen Geschichtsbewusstsein, nicht nur Verfassungspatriotismus

Das Grundgesetz kann kein Wir-Gefühl begründen, wenn es einerseits zu einer europäischen Provinzverfassung herabgesetzt und andererseits zur Begründung von Solidarität mit Nichtbürgern gemacht wird. Gemeinsame Konventionen und ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein sind notwendig.

Die ehemaligen Volksparteien, wer wüsste es nicht, befinden sich in einem bemitleidenswerten Zustand. In der SPD glaubt man durch immer mehr Wahlgeschenke den Rest an Stammwählern, die man noch hat – primär Rentner – bei der Stange halten zu können, in der CDU will man nur irgendwie überleben und an der Macht bleiben, egal wie. Dafür ist man bereit, auch noch die letzten eigenen Positionen zu räumen und gegen die der SPD oder der Grünen, schlimmstenfalls aber – so jedenfalls in der Kieler Staatskanzlei – vielleicht auch der Linkspartei einzutauschen. Dass die CDU so vollständig orientierungslos geworden ist, liegt freilich nicht nur an der bewussten Entsorgung alter CDU-Positionen durch die allzeit ebenso pragmatische wie machtbewusste Kanzlerin, sondern auch daran, dass es der CDU an intellektueller Substanz fehlt. Dieses Problem bestand vielleicht schon früher, nur da konnte man sich eine gewisse geistige Anspruchslosigkeit der eigenen Selbstdarstellung leisten; heute, wo man sich bei den Wahlen im permanenten Sinkflug befindet, könnte das anders sein. 

Umso wichtiger sind für die CDU politische Köpfe, die das Blatt vielleicht doch noch wenden könnten. Zu diesen Köpfen muss man wohl die Düsseldorfer Staatssekretärin Serap Güler rechnen, die in ihren Zeitungsartikeln, aber auch bei öffentlichen Auftritten eine scharfe Klinge zu führen weiß, und in einem Milieu Klartext redet und schreibt, in dem Politiker und Politikerinnen, auch und gerade in führender Position, unangenehmen Fragen gern durch wolkige Gemeinplätze und durch schon rein grammatisch inkohärente Sätze ihre Stoßkraft nehmen wollen. Vor kurzem rief sie in einem Artikel in der FAZ zu mehr Nationalstolz auf. Das an sich ist schon bemerkenswert und unter heutigen Bedingungen fast schon ein Tabubruch.

Mehr Nationalstolz wagen? Aber Wie?

Allerdings will Güler diesen Nationalstolz, den sie als wichtige Bedingung auch für die Integration von Immigranten ansieht, dann doch auf einen reinen Verfassungspatriotismus beschränkt wissen. Kultur und Geschichte spielen hier kaum eine erkennbare Rolle. Dahinter steht natürlich der Gedanke, dass so etwas wie ein reiner Verfassungspatriotismus – also Stolz darauf, dass in der eigenen Verfassung universale Werte wie Rechtsstaatlichkeit verwirklicht sind – für Einwanderer mit einem ganz anderen kulturellen Hintergrund leichter zugänglich ist als ein Patriotismus, der mit einer konkreten, traditionsgebundenen nationalen „Leitkultur“ verbunden ist, von der ihre Kritiker vermuten, dass sie allzu leicht ins ethnisch Exklusive abgleitet. Als leuchtendes Beispiel für einen gelungenen Verfassungspatriotismus sieht Güler die USA. Kein Zweifel, die Amerikaner sind stolz darauf, dass ihr Land die – vermeintlich – größte und beste Demokratie in der Welt ist, das gilt für Linke tendenziell genauso wie für Konservative oder Wirtschaftsliberale. Allerdings ist dieser Verfassungspatriotismus, was in ähnlicher Weise übrigens auch für Frankreich gilt, missionarisch. Man sieht im eigenen Land ein Modell für den Rest der Welt und fühlt sich in den USA dazu berufen, die eigene Verfassung und die eigenen Wertvorstellungen zu exportieren, notfalls auch mit militärischen Mitteln oder mit Hilfe wirtschaftlicher Sanktionen, soweit das nicht allzu kostspielig wird. 

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Ein solcher missionarischer Verfassungspatriotismus, der dann in Verbindung mit einem entsprechenden Sendungsbewusstsein in der Tat identitätsstiftend sein kann, kommt nun für Deutschland freilich kaum in Frage. Es gibt zwar auch und gerade links der Mitte immer wieder Politiker, die davon überzeugt sind, dass die Welt am deutschen Wesen genesen müsse, aber das stößt im Ausland naturgemäß angesichts der deutschen Geschichte eher auf massive Abwehr.

Im Übrigen sollten wir auch nicht vergessen, dass die USA heute ein Land sind, das zutiefst gespalten ist. Das politische Klima wird durch Hass, Intoleranz und Verachtung für den politischen Gegner bestimmt und zwar in einem unfassbaren Ausmaß. Im Vergleich dazu befindet sich die politische Kultur in Deutschland immer noch in einem leidlich erträglichen Zustand, trotz aller Krisensymptome. Bei den Kulturkriegen, die die USA spalten, spielen zwar ethnische Gegensätze nicht per se und durchgehend die entscheidende Rolle, aber die bestehenden Gegensätze verschärfen sie eben doch, dazu reicht ein Blick auf die Wählerschaft von Präsident Trump, die im Kern eben aus Weißen der unteren Mittelschicht und der Unterschicht besteht, die nicht einsehen wollen, dass sie sich nur wegen ihrer Hautfarbe schuldig fühlen sollen, während umgekehrt die Demokraten eine Koalition aus einer akademisch gebildeten, linksliberalen weißen Elite und diversen, vor allem auch ethnischen Minderheiten darstellen.

Man könnte fast sagen, der amerikanische Verfassungspatriotismus hat funktioniert, solange er sich mit einer konkreten ethnischen Leitkultur – und zwar der der weißen angelsächsischen Protestanten verband. Die „Wasps“ (White Anglo-Saxon Protestants) besaßen bis in die 1960er Jahre hinein trotz vieler lokaler und regionaler Minderheitskulturen auf nationaler Ebene eine kulturelle Hegemonie, die natürlich auch ihre sehr unerfreulichen Aspekte in Gestalt der Verachtung für Afroamerikaner, Katholiken oder Juden bis hin zu offener Diskriminierung besaß. Aber der völlige Zusammenbruch dieser ethnischen Leitkultur hat ein Vakuum geschaffen, das ein reiner Verfassungspatriotismus offenbar selbst in Amerika nicht zu füllen vermag, obwohl die USA das besitzen, was Deutschland fehlt: einen Vorrat politischer Symbole und Rituale, die in der Tat potentiell eine hohe Integrationskraft besitzen, wie auch Frau Güler betont. 

Serap Güler wünscht sich auch für Deutschland eine stärkere Identifikation mit nationalen Symbolen und Ritualen. In der Tat vermögen politische Rituale – in den USA zum Beispiel die feierliche Vereidigung eines neuen Präsidenten oder das Singen der Nationalhymne – ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, das gerade deshalb relativ stark ist, weil solche Rituale in ihrer Bedeutung ein hohes Maß an Ambiguität und Vieldeutigkeit ertragen. Menschen mit sehr verschiedenen politischen Überzeugungen und Identitäten können an solchen Feiern oder Zeremonien teilnehmen und sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen.

Nun kann man es zurecht beklagen, dass in Deutschland zum Beispiel Einbürgerungen anders als in den USA ganz unzeremoniell und emotionslos verlaufen und dass auch sonst unser Staat wenig weithin anerkannte Symbole besitzt, zu denen man sich außerhalb von Fußballweltmeisterschaften offen und spontan bekennt, oder auch Rituale, und seien es Feiern und politische Feste, an denen man gerne und engagiert teilnimmt, aber das ist nun einmal die spezifische, stark unterkühlte politische Kultur der Bundesrepublik. Das zu ändern wird nicht einfach sein, vermutlich sogar unmöglich, so sehr man das bedauern mag.

Der stille Stolz der alten Bundesrepublik hat nicht überlebt

Dabei sollte man freilich nicht vergessen, dass es einmal einen spezifisch bundesrepublikanischen Stolz auf das eigene Land durchaus gab. Man war stolz auf die politische Stabilität, die Westdeutschland in der Tat lange von Italien und Frankreich mit ihren starken und subversiv agierenden kommunistischen Parteien unterschied, aber auch auf die gelungene Verbindung von Sozialstaat und Marktwirtschaft, sowie generell auf den nach 1945 wieder erreichten Wohlstand. Und nicht zuletzt war man durchaus stolz auf die Stärke der eigenen Währung, von der man auch als Tourist im Ausland sichtbar profitierte. Nur was ist davon geblieben? Vergleichsweise wenig. Die DM, seinerzeit auch ein wichtiges Symbol nationaler Identität, gibt es nicht mehr, stattdessen haben wir eine europäische Lira, die sich Euro nennt. Mit der inneren Logik dieser Währung ist das deutsche marktwirtschaftliche Modell im Grunde genommen in der bisherigen Form ohnehin nicht mehr vereinbar. Der Sozialstaat zerbröselt langfristig, weil er zunehmend unterfinanziert ist, eine Tatsache, die nicht deshalb verschwindet, weil man so tut, als würden die Steuereinnahmen in den nächsten 30 Jahren ins Unermessliche steigen, wie es die gegenwärtige Regierung tut. Auf pünktlich fahrende Züge oder eine gute Infrastruktur kann man erst recht nicht mehr stolz sein, weil das alles einer schon fast mythischen Vergangenheit angehört, an die sich Politikerinnen im Alter von Frau Güler vermutlich gar nicht mehr erinnern können.

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Und was das deutsche Grundgesetz im Vergleich zu anderen europäischen Verfassungen an möglichen Vorzügen zu bieten schien – etwa eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn man auf so etwas Wert legt – wird zunehmend durch die Entmachtung der Nationalstaaten von Seiten der EU unterminiert. Was nützt uns ein starkes Verfassungsgericht, das der Regierung gerne vorschreibt, welche Sozialpolitik sie zu betreiben hat, das aber gegenüber ultra vires-Akten des EuGH oder gegenüber der radikalen Relativierung juristischer Prinzipien bei der Eurorettung und Staatsfinanzierung durch die EZB gänzlich machtlos ist und diesen Kampf auch schon längst aufgegeben hat. Das Grundgesetz wird in Zukunft, das zumindest ist der Wille der meisten deutschen Politiker, zunehmend den Status einer bloßen Landesverfassung innerhalb eines europäischen Staatenverbundes, wenn nicht gar eines freilich vermutlich fragmentarisch bleibenden Bundesstaates erhalten, der seine eigenen Regeln setzt, die mit der deutschen Rechtskultur in der Regel nicht mehr viel zu tun haben.

Dass die Loyalität gegenüber einer solchen „Provinzialverfassung“, und das wäre das Grundgesetz dann, für sich genommen eine gemeinsame Identität zu begründen vermag, die in Krisen belastbar ist, ist eher unwahrscheinlich. Die reale Situation ist eher die, dass die Politik vorangetrieben vom Verfassungsgericht von den steuerzahlenden Bürgern immer mehr an Solidarität gegenüber Bedürftigen jeder Art verlangt, ohne dass es noch ein greifbares „Wir“ gibt, das diese Solidaritätsappelle legitimieren könnte. Wenn es keinen Unterschied mehr zwischen Bürgern und bloßen Einwohnern, die z. B. eine andere Staatsbürgerschaft aber dennoch fast alle Rechte der Bürger besitzen, gibt, und das Bürgerrecht seine Exklusivität verliert, wird auch die Identifikation mit dem Staat und seinen Institutionen weiter abnehmen.

Wir brauchen mehr als reinen Verfassungspatriotismus

Ein bloßer Verfassungspatriotismus wird aus den genannten Gründen niemals ausreichen, um hier wieder ein ausreichend starkes Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Dazu gehört mehr, etwa ein Ensemble von kulturspezifischen Wertvorstellungen, sozialen Konventionen, aber auch historischen Erinnerungen und Erfahrungen, die wirklich gemeinsame Identifikationsoptionen, wenn schon nicht eine klare Identität schaffen können.

Was ist mit sozialen Konventionen im Alltag gemeint? Dem Grundgesetz kann man zum Beispiel selbst mit sehr viel Phantasie nicht entnehmen, ob es für eine Frau legitim ist, ein kurzes Kleid zu tragen, namentlich, wenn sie mit den ultrakonservativen Vertretern einer ursprünglich nicht-europäischen Weltreligion spricht, wie es Frau Güler selbst einmal getan hat. Hier sind dann eher soziale Normen maßgeblich, die sich zwar beständig wandeln und auch immer neu ausgehandelt werden, auf die eine Gesellschaft dann aber eben doch nicht ganz verzichten kann, wenn sie ein Minimum an Kohärenz bewahren will. Die Forderung an Immigranten, sich auf die bestehende Alltagskultur eines Landes in dieser oder jener Form einzulassen oder sie zumindest nicht von Anfang an als dekadent oder allzu fremdartig radikal abzulehnen, ist daher auch durchaus legitim und eigentlich kaum verhandelbar, wenn die Gesellschaft nicht zerfallen soll. Eine Position freilich, die Frau Güler in Wirklichkeit wohl selber teilt.

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Darüber hinaus ist aber auch ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein hilfreich, ja notwendig. Besäßen wir ein solches Geschichtsbewusstsein in Deutschland – und leider besitzen wir es nur in sehr rudimentärer Form, dann wüssten wir vielleicht, dass die besondere Bedeutung, die Rechtsstaatlichkeit für unsere politische Kultur besitzt, nicht nur auf die negativen Erfahrungen mit Diktatur und Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert zurückgeht. Vielmehr spielt hier auch der Umstand eine Rolle, dass sich das Heilige Römische Reich vor 1806 vor allem als Rechtsgemeinschaft verstand, die in der Rechtsprechung der Reichsgerichte in Speyer/Wetzlar und Wien ihren Ausdruck fand. Auch der Föderalismus, der ein so entscheidendes Element unserer Verfassung ist, hat in der deutschen Geschichte sehr alte Wurzeln, die weit über das 19. Jahrhundert hinaus in die Vergangenheit zurückreichen. Aber wer weiß das schon noch? Der Verfall des Geschichtsunterrichts an den Schulen, vor allem dort, wo es um die älteren Epochen der deutschen und europäischen Geschichte geht, ist mit Händen zu greifen und wird von Politikern der maßgeblichen Parteien, die heute zum Teil selbst einem eher bildungsfernen Milieu angehören, sogar noch energisch vorangetrieben. 

Damit wird auch Immigranten und ihren Kindern der Eindruck vermittelt, sie würden in ein Land kommen, das kulturell eine tabula rasa darstellt oder dessen Geschichte ausschließlich durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und deren mühsame Verarbeitung bestimmt wird. Dass die politische Kultur Deutschlands gleichermaßen wie seine Alltagskultur durch eine jahrhundertelange Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen geprägt ist, wird weder Schülern noch Erwachsenen wirklich vermittelt. Hier müsste ein Ringen um ein gemeinsames Zusammengehörigkeitsgefühl, das Immigranten einschließt, ansetzen; ein präsentistischer Verfassungspatriotismus, der nur auf das Bekenntnis zu universalen Werten, nicht zu den historisch bedingten spezifischen Ausprägungen der deutschen politischen Kultur Wert legt, kann dies nicht leisten. Ein tragfähiges Geschichtsbewusstsein, das auch Immigranten vermittelbar ist, würde freilich voraussetzen, dass man die eigene historische Identität vor der Begründung der Bundesrepublik nicht ausschließlich durch moralisches Scheitern und politische Katastrophen bestimmt sieht. So wichtig es ist, sich mit der Selbstzerstörung Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts historisch auseinandersetzen, so kann doch ein Geschichtsbild, das ausschließlich durch Selbstanklage bestimmt wird, zwar durchaus auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen, aber sicherlich keines, das auch für Immigranten attraktiv ist. Dieser Aussage freilich würde vermutlich auch Frau Güler nachdrücklich zustimmen.

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