Das moderne Deutsch kennt zwei pronominale Anredeformen: Du bzw. (für mehrere Personen) Ihr und Sie. Wer mit jemanden zum ersten Mal kommuniziert, muss sich – außer bei Kurzkontakten, wo man die Anrede vermeiden kann – für eine Form entscheiden. Geduzt werden allgemein Kinder und Verwandte (Familien-Du); tendenziell Freunde (Freundschafts-Du) und Angehörige derselben Gruppe (Gruppen-Du): Studenten, Arbeitskollegen, Vereins- und Parteimitglieder , Disco-Besucher usw. Ansonsten ist, insbesondere bei größerem Altersunterschied, das Sie die Regel. Einseitiges Duzen unter Erwachsenen gilt als beleidigend.
In den letzten fünfzig Jahren, genauer seit der Studentenbewegung von 1968, hat sich die Duz-Zone stark ausgeweitet: Zunächst gingen die Studenten – die vorher zweihundert Jahre lang einander siezten – zum „solidarischen“ Du über; dann folgten andere Gruppen, seit den 1990er Jahren auch die Wirtschaft (Firmen-Du) und die sozialen Medien. Ein Du zwischen zwei Erwachsenen, die nicht verwandt sind, bedeutet also meist nicht mehr, dass es sich um „Duzfreunde“ handelt: In politischen Parteien (SPD, GRÜNE), deren Mitglieder sich automatisch duzen, kann ein „Parteifreund“ durchaus zum „Duzfeind“ werden.
Das neue, erweiterte Du konnte allerdings das alte Sie nur zurückdrängen, nicht ersetzen. Wer sprachlich vor den 1970er Jahren sozialisiert wurde – 39 Prozent der Wahlberechtigten sind über 60 Jahre alt – kennt noch aus eigener Erfahrung die traditionelle Anrederegel, dass Du Nähe und Vertraulichkeit ausdrückt, Sie hingegen Höflichkeit und Respekt.
„Respekt für Dich“
Der Wahlkampfslogan 2021 der SPD verbindet einen konservativen Begriff mit einer – zumindest für konservative Wähler – unkonventionellen Anrede: Über einem Foto des Spitzenkandidaten Olaf Scholz steht (in Großbuchstaben) RESPEKT FÜR DICH. Diese – werbetechnisch vermutlich gewollte – sprachliche Dissonanz zwischen Anrede und Ansage fiel im Netz sofort auf und wurde zum Beispiel so kommentiert:
● „Respekt und dann Duzen. Die spinnen!“
● „Also ich kann mich nicht erinnern, Olaf das „DU“ angeboten zu haben. Trotzdem duzt er die Leute. Zeugt so etwas von Respekt“? Zum Lachen!“
Die Forderung nach mehr „Respekt“ gehört seit den 1990er Jahren zum Diskriminierungsdiskurs zahlreicher Gruppen (aktuell der „Black lives matter“- Bewegung). In Deutschland wird dabei immer wieder beanstandet, dass Mitglieder dieser Gruppen von Amtspersonen geduzt werden.
Inhaltlich konkretisiert die SPD den programmatischen RESPEKT als „Soziale Politik für Dich“, etwa bei der Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro pro Arbeitsstunde. Für andere Einkommensgruppen zahlt sich dieser versprochene Respekt finanziell allerdings nicht aus, im Gegenteil: Manche werden dafür höhere Steuern zahlen müssen. Respekt!
„Bereit, weil Ihr es seid“
Der – gereimte – Slogan der GRÜNEN redet die Wähler mit Ihr an. Es handelt sich um eine Gruppenanrede, die weniger direkt wirkt als ein individuelles Du, und deshalb kaum als „beleidigend“ oder „respektlos“ aufgefasst werden kann. Das Ihr bzw. der Imperativ Plural (Wählt!) betont – im Unterschied zum Plural-Sie – die Zusammengehörigkeit einer Gruppe und eignet sich deshalb als Appell zu gemeinsamen Handeln. Dieses appellative Ihr wurde in den Wahlslogans der Weimarer Republik (1919-1933) und der frühen Bundesrepublik gerne verwendet:
● Frauen! Wählt sozialdemokratisch! (1919; die SPD hatte das Frauenwahlrecht gefördert)
● Wählt CSU! (1949)
● Wählt FDP, dann wählt Ihr Deutschland! (1953)
Die Wendung bereit sein bedeutet, Vorbereitungen für etwas abgeschlossen zu haben. Wozu sind die GRÜNEN „bereit“? Das Spitzenpersonal für die Regierung; die Wähler, das Ihr, für ein neues, grünes Zeitalter. Damit erinnert der Slogan an Bibelstellen, in denen die Jünger und frühen Anhänger Christi aufgefordert werden, sich auf seine Wiederkehr einzustellen:
● Darum seid bereit und stellt euch ganz und gar auf das Ziel eures Glaubens ein. (Petrus 1, 13; Bibelübersetzung „Hoffnung für alle“)
● Darum seid auch ihr bereit (lateinisch: estote parati)! Denn der Menschensohn [= Christus] kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meint. (Matthäus 24, 44; Luther-Übersetzung)
Der Slogan der Grünen hat also einen bibelsprachlichen Hintergrund, und dazu passt auch die Anrede Ihr; denn in der Bibel, genauer: ihrer deutsche Übersetzung, kommt Sie nicht vor. Auch Gott wird geduzt.
„Deutschland gemeinsam machen“
Der Slogan der CDU enthält keine direkte Anrede, wendet sich aber indirekt an alle, die es betrifft (hier: die Wähler), so wie ein „Bitte zurückbleiben!“ auf Bahnhöfen oder Gebrauchsanweisungen für Nutzer: „Das Sauerkraut in einen Topf geben und bei mittlerer Hitze ca. 3 Min. erwärmen“. Dieser „imperativische Infinitiv“ funktioniert als Sparform, welche die grammatisch kompliziertere Formulierung mit Anredeformen überflüssig macht und das Du/Sie-Problem umgeht.
Beim Brustbild des Spitzenkandidaten Armin Laschet wird der Slogan leicht abgewandelt zu „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“. Hier stellt sich kein Anredeproblem, weil es sich um eine verblose Äußerung handelt. Inhaltlich wurde der Slogan übrigens schon 1969 von der SPD verwendet: „Wir schaffen das moderne Deutschland“.
Die Schlüsselbegriffe der beiden CDU-Slogans sind „gemeinsam“ und „Deutschland“. Das Wort gemeinsam appelliert an ein Wir-Gefühl, aber wen meint „wir“? Die „Deutschen“ können es nicht sein; denn im politischen Diskurs von CDU, SPD und GRÜNEN kommen sie praktisch nicht mehr vor. Ein Sprachbeobachter von einem anderen Stern käme nach der Lektüre der Parteiprogramme zu dem Ergebnis, dass die Staatsbürger Deutschlands heute Menschen heißen bzw. Menschen in Deutschland. „Deutsche“ gibt es zwar noch, aber nur im Ausland oder als historische Erinnerung. Vor einem halben Jahrhundert war dies ganz anders: Damals, 1972, gewann die SPD unter dem Bundeskanzler Willy Brandt mit dem Slogan
Deutsche
wir können stolz sein auf unser Land
die Bundestagswahl und erzielte mit 45,8 Prozent ihr bestes Ergebnis.
Ob die „Menschen in Deutschland“ ein gemeinsames Wir-Gefühl entwickelt haben, ist fraglich. Auch die CDU scheint sich nicht sicher zu sein, denn sie hat Varianten ihres Slogans schon früher bei Bundestagswahlen verwendet: „Gemeinsam für Deutschland“ (2002), „Gemeinsam für unser Land“ (2009), „Gemeinsam erfolgreich. Für Deutschland“ (2013), „Erfolgreich für Deutschland“ (2017).
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Der Altmeister der Wahlkampf-Forschung, Peter Radunski (Wahlkämpfe. Moderne Wahlkampfführung als politische Kommunikation, 1980) stellte für die Wirksamkeit eines Wahlslogans drei Kriterien auf: 1) sprachliche Verständlichkeit und Einprägsamkeit, 2) Glaubwürdigkeit (der Slogan muss zum Spitzenkandidaten und der Partei passen), 3) Relevanz (er muss ein für die Wähler wichtiges Thema ansprechen). Ob und wie die vorgestellten Slogans diese – auch heute noch gültigen – Kriterien erfüllen, mögen die Leser und Wähler beurteilen.