Meine Lieblingsbuchhandlung befindet sich im Hamburger Schanzenviertel. Ja, genau dort, wo ihre inneren Bilder umgehend zwischen Molotow-Cocktails, Straßenschlachten und G20 entstehen. Es ist eine aus der Zeit gefallene Buchhandlung mit alten durchgehangenen Bücherregalen, einem strikt kuratiertem Buchfundus, linken Demonstrationsaufrufen an der Pinnwand und Buchhändlern, die nicht von sich aus grüßen (müssen). In Zeiten der Beliebigkeit pflegt das Buchhändlerkollektiv noch Überzeugungen, die man persönlich teilen kann oder auch nicht. Dazu gehört, dass in dieser Buchhandlung nur Bücher ausliegen, deren Position man dort politisch teilt. Die Bestellung einer „Lesemaus“ für den Sohn unter dem Titel „Mein Freund ist Polizist“ wird demgemäß schmallippig aufgenommen. Das mag man verurteilen, empört zur Kenntnis nehmen oder aber großmütig belächeln. Ich finds gut und schreibe ziemlich überzeugt: In Zeiten der Beliebigkeit ist jede Form der respektorientierten Positionierung ein Lichtblick …
„Hypermoral“ oder „Erwachsenensprache“ – Aufhebung eines linken oder rechten Schema?
Vor kurzem hatte ich über das Buch „Hypermoral“ von Alexander Grau (Philosoph und Kolumnist bei „Cicero“) gelesen und wollte es eben dort kaufen, stromerte durch den Laden, fragte schließlich kurzerhand nach und bekam vom wirklich sympathischen Buchhändler die gegrinste Antwort, dass man keine „konservativen Bücher“ führe. Ich lächelte zurück und griff schließlich zu einem anderen Buch von dem ich ebenfalls gehört hatte: „Erwachsenensprache“ von Robert Pfaller (Professor für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie in Linz) – die „Hypermoral“ bestellte ich kurzerhand im Internet. In der Folge las ich – Ferien sei Dank – zwei sachgesellschaftliche Bücher parallel … und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das direkte Gegenlesen eines konservativen und eines linken Beobachters führte zu spannenden und in der Ausgangsdiagnose gleichartigen Schlüssen. Bescheiden mag man feststellen, dass irgendwann nicht mehr das „links“ oder „konservativ“ entscheidend für die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist, sondern eine kausal übergreifende Sachdiagnose der Zustände wie sie nun einmal sind. Und die entzieht sich, dem Verstehenwollen des Autors vorausgesetzt, einem linken oder rechten Schema. Das ist eigentlich ganz einfach. In den vergangenen Monaten war dies in so manchem Artikel auch in diesem Magazin immer wieder erfahrbar.
Beide Autoren stellen fest, dass die zeitgenössischen politischen Debatten von „Gedankenzwängen“ geprägt sind, die sich in Nebensächlichkeiten verlieren, um die eigentlichen Fragen eines konstruktiven Zusammenlebens als gesellschaftliche, aber eben auch gemeinschaftlichen Verbund, nicht zu stellen. Die Differenzierung zeigt sich vielmehr im Verständnis der daraus zu ziehenden gesellschaftlichen Konsequenzen …
Scheinwichtigkeiten der gesellschaftlichen Diskussion
Was schreibt Pfaller in seinem Buch „Erwachsenensprache“? Zunächst stellt der marxistisch-psychoanalytisch geprägte Kulturwissenschaftler ein Auseinanderbrechen gesellschaftlicher Räume und Natürlichkeiten fest: „Plötzlich fuhren Eisenbahnen in die Irre, Pensionsvorsorge geriet zum Spekulationsgegenstand, Gesundheit und Bildung verfielen einem irrationalen Ökonomisierungsdruck, Arbeiten verwandelten sich in Bullshit-Jobs, Produkte zerfielen vorzeitig dank geplanter Obdoleszenz oder entzogen sich in die Undurchschaubarkeit ihrer ständig wechselnden Benutzeroberflächen […].“
Immer mehr Menschen gerieten in unsichere und prekäre Lebenssituationen und zugleich – deshalb der Titel „Erwachsenensprache“ – würden Unscheinbarkeiten des sozialen Miteinanders als die entscheidenden politischen Probleme definiert: „Im selben Moment, in dem die USA und ihre Verbündeten die Welt mit Krieg, dubiosen Revolten und Bürgerkrieg überziehen und den friedlich belassenen Teil mit Austeritätspolitik in Armut treiben, überziehen sie die Welt mit einer Ideologie des gesäuberten, verharmlosenden Sprechens.“
Ausgangspunkt für die Bedeutung von Scheinwichtigkeiten sei die Prämisse, dass alles „Gleich“ bedeutsam sein. Interessanterweise verweist Pfaller dabei auf Marx und Engels, die hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderungsprozesse feststellten: „Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“ Die Vorstellung der Globalisierung als kulturelle Homogenisierung wird hier 160 Jahre vorweg genommen.
Für Pfaller ist es kein Zufall, dass die vermeintlichen humanitären Forderungen nach Berücksichtigung jeder Besonderheit genau zu dem Zeitpunkt auftauchen, in dem die Zielsetzung der Gleichheit in den westlichen Gesellschaften insgesamt massiv bedroht ist – vor allem durch zunehmende Ohnmacht der demokratisch-legitimierten Politik gegenüber der Gestaltungsmacht internationaler Konzerne. Pfaller schreibt: „Die neoliberale, postmoderne Gesellschaft fördert nicht die Ärmeren und Ärmsten, damit diese möglichst so gut wie alle anderen leben können, sie fördert vielmehr immer nur Ausnahmen, um alle übrigen getrost verkommen zu lassen.“ Mit harten Konsequenzen argumentiert der Kulturwissenschaftler: „Politisch korrekter Sprachgebrauch ist – ebenso wie Charity, ethical Fashion, ökologisches Einkaufen und veganes Kochen – vor allem und zu allererst ein Distinktionskapital, eine Waffe mit deren Hilfe man mehr oder weniger Gleichgestellte wirksam zu Ungleichen machen kann.
Damit mussten die Sozialdemokraten Abstand nehmen von einer Politik, die auf Ausgleichung von Klassenunterschieden zielte, und ihre Agenden verlagern. So machte man erst einmal lieber in Frauenpolitik statt Klassenpolitik, und dann lieber Politik für Homosexuelle oder Queers als Frauenpolitik, und dann überhaupt am liebsten „diversity“… Und wozu auch über neue Armut reden oder gar etwas dagegen tun, wenn man mit schwullesbischen Ampelmännchen (freilich nur in den touristischen Innenbezirken) Aufgeschlossenheit demonstrieren und sogar internationalen Applaus einfahren kann.“ Alles müsse „sensibel“ und „abwägend“ berücksichtigt werden … damit entzieht sich die Politik ihres eigentlichen gesellschaftlichen Gestaltungswillens zugunsten von Pseudo- und Symbolpolitik, die die große „Toleranz“ einlösen wolle. Wenn aber alles tolerant und gleich ist, dann verbieten sich individuelle Übertretungen und Interpretationen. Pfaller bringt es in sehr nachvollziehbare Bilder, die das Schmunzeln in Trübsal übergehen lassen: „Statt freudiger kleiner Handlungen des Feierns sollen nur noch schmallippige Gesten der Enthaltung gelten: statt zu grüßen, lieber stumm bleiben: statt Nachkommenden die Tür aufzuhalten, lieber sich blind stellen und unverbindlich weitergehen; statt ein Kompliment zu machen, lieber schweigen; statt parfümiert zu sein, lieber naturbelassen riechen; statt gesellig eine Konversation einzuleiten, lieber stur und stumm vor sich her starren; statt gemeinsam ein Glas Wein zu trinken, lieber vereinzelt abstinent bleiben.“
Moral ersetzt Logik
Es ist eben dieses Bild, dass die Parallelität der Beobachtungen von links und rechts geradezu aufzwingt, wenn Alexander Grau ziemlich deskriptiv festhält: „Die Inbrunst und die Emphase, mit der nicht nur hierzulande gesellschaftliche Fragen moralisch hochgekocht werden, zeigt, dass es mitnichten um die Etablierung rationaler Erwägungen und nüchterner Entscheidungsprozesse geht. Vielmehr dient die Moralisierung quasi aller gesellschaftlichen und politischen Fragen der Emotionalisierung und damit der Massenmobilisierung im Kampf um die öffentliche Meinung.“
Waren bisher wissenschaftlich fundierte Ergebnisse die Grundlage für Urteile, übernähme jetzt Moral eine qualitative Richtlinienkompetenz, wenn nicht sogar Monopolstellung. Grau pointiert: „Indem sie Gefühle mobilisieren, entlasten sie zugleich vom Nachdenken. Moral fühlt sich jedoch nicht nur gut an, sie verschafft auch eine wunderbare rhetorische Ausgangsposition, mit der man etwaige Gegenargumente im Keim ersticken kann.“ Argumente verlieren ihre Grundlage als Prozess eines logischen Abwägens, sondern werden durch Ideologisierung ersetzt: Ob Atomkraft vielleicht sogar besser für die Entwicklung der Welt ist, ob die Ehe „Mann und Frau“ vorbehalten sein soll, ist nicht mehr dem Kampf der Argumente vorbehalten, sondern wird zum Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“. Grau selbst macht diesen Zusammenhang an folgendem Beispiel deutlich: „Wer sich etwa gegen eine multikulturelle Gesellschaft ausspricht, gegen massive Einwanderung oder für den Versuch, auch in einem Zeitalter der Massenemigration kulturelle Homogenität zu wahren, der begreift entweder die Moderne nicht, übersieht die Alternativlosigkeit, hantiert mit unsauberen Begriffen oder wird von Ängsten oder Schlimmerem beherrscht. Die Folge: Wer den moralischen Inhalten und Wertvorstellungen widerspricht, dem wird seine persönliche Autonomie und Urteilskraft abgesprochen.“
Eine korrekte Welt ist eine Welt ohne Freu(n)de
Das Erfolgsgeheimnis des „hypermoralischen Primats“ liege in einer hoch vernetzten Welt, in der vernunftbegründeten Rechtfertigung faktenunabhängiger Entscheidungen. Es gilt nicht mehr Argumente abzuwägen und mit ihnen zu überzeugen, sondern die richtige, d.h. moralische Haltung an sich kann Argument werden. Diese Projektion bleibe allerdings nicht auf den unmittelbaren Wirkungskreis beschränkt, sondern umfasse eine generelle Sorge um die Welt und alle Menschen: „Man ist für alles verantwortlich. Der Verantwortungsbereich des Einzelnen wird ins Globale gesteigert. Insbesondere der einzelne Mitteleuropäer erweist sich als verantwortlich für jedes Ungemach der Welt, für Umweltkrisen, Ressourcenknappheit, Kriege und soziales Elend. Das erzeugt ein schlechtes Gewissen. Also kauft er fair gehandelte Produkte, trennt fleißig Müll und fährt Hybridfahrzeuge. […] – also einer Überdehnung des moralischen Anspruchs in Raum, Zeit und Intensität.“ Und – so mag man hinzufügen – sieht sich verantwortlich für die Wortwahl gefeierter Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert, deren Werke von falschen Bezeichnungen nur so wimmeln.
Pfaller schreibt ähnlich: „Wir beobachten eine radikale, gewaltsame „Entzauberung der Welt“: Alles, was das Leben lohnend macht; alle kleinen Freuden und Narrheiten; alles, was nur auch ein wenig Unterbrechung der Alltagsmechanismen und -ökonomien verspricht und den Menschen Gefühle der Souveränität und der Solidarität verschaffen könnte, soll beseitigt werden.“
Es zeigt sich, dass die Schwierigkeiten einer komplexen Moderne von welcher Warte auch immer, gleichartig dokumentiert werden: Entscheidend bleibt allerdings die Differenz der Ursachen: Während die Linke das Unheil aus einem entfesselten Kapitalismus zieht, der auch – ganz im Sinne des Materialismus – die sozialpsychologischen Dispositionen des Einzelnen verändere, so setzt Grau an den gesellschaftlichen Wirkweisen von Politik und Medien an. Für ihn monopolisiert eine kosmopolite und von der Realität weit entfernte lebende Elite in den stuckverzierten und SUV-belasteteten Metropolen die gesamtgesellschaftliche Meinung, und, diskreditiere die Zweifler und negativ Betroffenen einer Welt, im Kommunikationsgewitter. Das Gedachte darf nicht gedacht werden, um einer universellen Ethik zu entsprechen, die den Konflikt unter den Teppich kehrt oder teuer erkauft.
Es besteht also Hoffnung auf Besserung, wenn von allen Seiten spezifische Zustände als nur noch grotesk bezeichnet werden. Dass die heutige Situation bigott ist, verdeutlichen ihrer beider Ausflüge ins persiflierend Beschreibende – vom Verzicht auf den Wein beim Abendessen oder der Umbenennung unkorrekter Straßennamen … es wird spannend sein, ob eine identische gesellschaftspolitische Diagnose zu Verständigung und Bereicherung, oder zu Abgrenzung und Differenzbetonung im intellektuellen Diskurs führen wird. Man sollte hoffen, dass die Wissenschaft weiter ist als die Politik – im Sinne der Menschen. Und meinem Buchhändler werde ich beim nächsten Besuch ruhig die Hand halten und ihm gut zusprechen, dass Wahres wahr bleibt, auch wenn es vom vermeintlich Falschen gesagt wird: Also Pragmatismus statt hypermoralistische Erwachsenensprache.