Das Problem stellte sich letztes Jahr in Deutschland 739.000-mal: Wie soll das Kind heißen? Der Nachname eines Neugeborenen ist durch den der Mutter und/oder des Vaters geregelt, der Vorname hingegen frei wählbar. Die Auswahl ist riesig – allein 2022 wurden 34.000 verschiedene Jungen- und 35.000 verschiedene Mädchennamen vergeben. Die Hälfte der Neugeborenen erhielt aber einen der hundert häufigsten Vornamen und jedes neunte Kind einen der zehn häufigsten. Wie lauten diese Topnamen und woher kommen sie?
Die Gesellschaft für deutsche Sprache (Wiesbaden) veröffentlicht jährlich auf der Grundlage der standesamtlichen Geburtenregister die Liste der zehn beliebtesten Vornamen in Deutschland. Dabei wird unterschieden zwischen „Erstnamen“ und „Folgenamen“ (rund ein Drittel der Kinder bekommt mehrere Vornamen). Die zehn beliebtesten Erstnamen 2022 lauten (Schreibvarianten werden zusammengefasst):
Geschlechterspezifische Vornamenlautung
Zwischen den Topnamen für Mädchen und Jungen bestehen lautstrukturelle Unterschiede: Die Mädchennamen haben alle mindestens zwei Silben und enden auf Vokal, und zwar – außer Mar-ie – volltönendes – a. Bei den Jungennamen kommen auch Einsilbler vor (Finn, Paul) und sie enden überwiegend auf Konsonant.
Insgesamt klingt der Vokalismus der weiblichen Vornamen heller (kein u, nur einmal o) als der männlichen. Das entspricht einer Tendenz der deutschen Sprache zur geschlechterspezifischen Vornamenlautung, die sich auch experimentell nachweisen lässt: Legt man deutschen Muttersprachlern Kunstnamen wie „Timitra“ und „Moebus“ vor und fragt, ob es Männer- oder Frauennamen sind, so halten mehr als 95 Prozent „Timitra“ für einen weiblichen Vornamen und „Moebus“ für einen männlichen.
Geschichtliche und sprachliche Herkunft
Knapp die Hälfte der zwanzig Topnamen ist biblischen Ursprungs. Bei den Jungennamen wird an den Urvater Noah (Arche Noah) erinnert, die Evangelisten Matthäus und Lukas (italienisch Mateo bzw. Luca), den Apostel Paul(us) und den Propheten Elias. Die Mädchennamen verweisen auf die Gottesmutter Maria (Kurzform Mia, Variante Marie) sowie die biblischen Frauen Hanna und eventuell Elisabeth (die Kurzform Ella kann sich auch auf andere Vornamen beziehen).
Sprachlich sind die biblischen Namen hebräisch oder griechisch-lateinisch. Von den nicht-biblischen Vornamen ist Sophia „Weisheit“ griechisch und Clara „die Leuchtende“ lateinisch; Emil bzw. Emil-ia gehen auf lateinisch aemulus „eifrig“ zurück, Leon auf leo „Löwe“ und Lina auf mittellateinisch Carol(in)a, eine weibliche Bildung von Carolus „Karl“. Drei Viertel der deutschen Topnamen entstammen also dem christlich-antiken Erbe. Von den übrigen wurden vier aus anderen Sprachen entlehnt: Finn „Finne“ ist skandinavisch, Mila (Kurzform von Lud-mila) slawisch, Louis und Henry französisch bzw. englisch. Ein einziger Vorname (sofern man ihn nicht als Kurzform von französisch Emma-nuelle wertet) hat eine germanisch-deutsche Herkunft: Emma.
Germanisch-deutsche Vornamen
Germanisch-deutsche (kurz: altdeutsche) Vornamen bestehen meist aus zwei Namengliedern: Hein-rich (von heim „Heimat“ + rich „reich, mächtig), Lud-wig (lud „berühmt“ + wig „Kampf“), Ger-hard (ger „Speer“ + hard „fest, stark“), Ger-linde (ger + lind „sanft, mild“), Ermen-gard (ermen „allumfassend“ + gard „Einfriedung“) mit der Kurzform Emma. Die (heidnischen) altdeutschen Namen dominierten in Deutschland bis ins 14. Jahrhundert, als christliche Namen sich stark verbreiteten, zunächst in den Städten und bei den Frauen: So waren in Bamberg um 1330 von den zehn häufigsten Männernamen alle altdeutsch (Heinrich, Konrad, Herrmann … Albert, Berthold) und um 1490 die Hälfte biblische und Heiligennamen (Johannes, Nikolaus, Georg, Peter, Michael). Bei den zehn häufigsten Frauennamen in Bamberg waren 1330 schon drei christlich (Christine, Katharina, Agnes) und 1490 sieben.
Die Reformation, welche die Verehrung der Heiligen (und ihrer Namen) ablehnte, brachte einen Wiederanstieg der altdeutschen Namen, aber nur im protestantischen Deutschland. Im katholischen Deutschland blieben die christlichen Namen dominant, erst im 19. Jahrhundert setzt, vor allem in den Bildungsschichten, eine Bewegung für „deutsche“ Namen ein: In der zentralen Münchner Pfarrei St. Peter sind im Geburtenjahrgang 1876 unter den zehn häufigsten Vornamen bei den Mädchen (noch) keine altdeutschen vertreten, bei den Jungen immerhin drei: Karl, Ludwig, Otto; Spitzenreiter war aber das christliche Namenpaar Maria (30 Prozent aller Mädchen) und Joseph (21 Prozent aller Jungen).
Einen Schub erhielten die altdeutschen Namen nach dem 1. Weltkrieg, in den 1920er Jahren, der aber 1945, nach dem Ende des 3. Reiches, abnahm und in den 1970ern auslief: 1957 waren noch Wolfgang, Bernd und Ulrich sowie Ute und Ulrike unter den Top-Zehn, 1970 und in einigen Folgejahren allein Frank „der Freie“; dann tritt der altdeutsche Namentypus in dieser Rangliste nicht mehr auf: „Überall sind die germanisch-deutschen Namen zur Zeit in den Hintergrund getreten“, resümierte vor vierzig Jahren der Namenforscher Wilfried Seibicke die damalige Vornamengebung. Daran hat sich seitdem nichts geändert.
Wiederkehr
Altdeutsche Vornamen haben heute meistens einen Träger, der zur Generation 60+ gehört, es sind Seniorennamen. Passen solche Namen zu einem Neugeborenen? In früheren Zeiten hätte sich diese Frage nicht gestellt; denn die Vornamenwahl wurde jahrhundertelang hauptsächlich durch „Nachbenennung“ geregelt: Das Kind erhielt den Vornamen nach dem der Eltern, Großeltern, des Taufpaten, Herrschers oder eines religiösen Vorbilds (Gottesmutter Maria, Ortsheiliger u. Ä.). Heute spielt die Nachbenennung in Deutschland nur noch eine kleine Rolle – außer bei der islamisch geprägten Bevölkerung: In Berlin war 2022 der häufigste Jungenname Mohammed.
Insgesamt zeigt die Vornamenwahl in Deutschland eine steigende Individualisierung: Das Kind soll einen „besonderen“ Namen bekommen, und das ist immer häufiger auch der Fall: Zwei Drittel der 69.000 verschiedenen Vornamen (Erstnamen + Folgenamen) des Geburtenjahrganges 2022 kommen nur ein einziges Mal vor, sind also höchst individuell. Ein Drittel wurde mehrfach vergeben, aber selbst die Spitzenreiter bei den Erstnamen, Emilia und Noah, kommen jeweils nur auf 1,4 Prozent, was heißt: unter siebzig Mädchen oder Jungen sind sie einmal vertreten. Zum Vergleich: 1915 erhielten in München 11 Prozent der Mädchen den Namen Maria und 9 Prozent der Jungen den Namen Johann (Kurzform von Johannes).
Könnten die altdeutschen Namen wieder attraktiv werden? Durchaus, aber erst in zwei Jahrzehnten, wenn die heutige Trägergeneration gestorben ist, weil sie dann keine Seniorenvornamen mehr sind, sondern etwas Besonderes. Auf sprachlichen Umwegen sind sie allerdings schon 2022 unter die zehn beliebtesten männlichen Erstnamen gekommen: Die fremdsprachigen Vornamen Louis und Henry (Nr. 9 und 10, mit jeweils 1 Prozent) stammen von zwei uralten germanisch-deutschen Namen, nämlich Ludwig und Heinrich.