Der „Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt für das Jahr 2022“ wurde am 20. Juni 2023 präsentiert und ins Netz gestellt. Der Bericht umfasst 284 Seiten (ohne Anhang), und der Name „AfD“ kommt darin überhaupt nicht vor.
Viereinhalb Monate nach Erscheinen des Berichts, am 7. November, bewertete der sachsen-anhaltinische Verfassungsschutz die AfD – die bei der Landtagswahl 2021 mit 21,8% nach der CDU (34,1 %) zweitstärkste Partei geworden war und aktuell nach einer Umfrage vom 24. Oktober mit 33% stärkste Partei sein würde – plötzlich als „gesichert rechtsextremistisch“.
Kennen Sie Sven Liebich? Im Verfassungsschutzbericht 2022 für Sachsen-Anhalt (im Folgenden „Bericht“) sind ihm unter der Überschrift „Rechtsextremistische Aktivitäten von Sven LIEBICH“ dreieinhalb Seiten gewidmet (weit mehr als irgendeiner anderen Person). Als seine Spezialität gilt „das Durchführen von Versammlungen“, und die Verfassungsschützer erkennen an, dass er darin „quantitativ betrachtet bundesweit ohne Vergleich“ ist: „Neben seinen etablierten ‚Montagsdemos‘ führte er im Zusammenhang mit coronabedingten Beschränkungsmaßnahmen zusätzlich eine Vielzahl von Versammlungen in Halle (Saale) … durch.“ Außerhalb Sachsen-Anhalts „besuchte LIEBICH mehrfach ‚[Corona-]Spaziergänge‘ in Dresden (Sachsen)“, war bei einer „Versammlung in Warnemünde (Mecklenburg-Vorpommern) unter dem Motto Sichere und saubere Straßen – Sichere und saubere Heimat … alleiniger Redner “, und bei einem Besuch der Bayreuther Festspiele durch Ex-Kanzlerin Merkel am 25. Juli 2022 hielt er dort „unter dem Motto Hallo Elite, das Volk ist da – Merkeljugend in Bayreuth“ eine Kundgebung ab. Zu den Versammlungen Liebichs kamen, laut Schätzung des Verfassungsschutzes, maximal 50 Personen: „Allerdings wird dies seinen Aktivismus nicht schmälern“, schlussfolgert der Bericht (S. 60).
Der „Rechtsextremist Sven LIEBICH“ (S. 57) – der vom Verfassungsschutz keiner Partei oder Gruppierung zugeordnet wird – organisiert also Veranstaltungen und hält Reden; Gewalt übt er nicht aus und fordert auch nicht dazu auf. Die linksextremistische Szene in Sachsen-Anhalt ist handfester, über die „Autonomen“ heißt es im Bericht:
„Eine Demonstration ist für Autonome … erst ein Erfolg, wenn es zu Ausschreitungen und Angriffen auf die Polizei und den politischen Gegner kommt. Den scheinbar spontan verübten Gewalttaten gehen häufig konkrete Planungen voraus, so dass etwa im Verlauf der Aufmarschstrecke Steindepots angelegt … werden.“ (S. 153)
Neben öffentlichen Aktionen führen die sachsen-anhaltiner Autonomen – heute stärker als früher – auch „klandestine Aktionen“ durch, nämlich „(Brand-)Anschläge gegen symbolträchtige Objekte wie Fahrzeuge, Gebäude oder sensible Infrastruktur“, wobei es zu „erheblichen Sachschäden“ kommen kann sowie „schweren und schwersten Verletzungen von Menschen“.
Diese – so der Bericht (S. 135) – „realweltlichen Gewalthandlungen“ prägen in Sachsen-Anhalt viel stärker den Linksextremismus als den Rechtsextremismus, zu dem amtlich jetzt auch die AfD gehört: ihr Extremismus scheint in einer Gedanken- und Diskurswelt zu liegen, wo – laut Verfassungsschutz – „zahlreiche muslimfeindliche, rassistische und auch antisemitische Aussagen von Funktions- und Mandatsträgern“ ermittelt und ausgewertet wurden.
Es stellt sich die Frage, warum man diese Aussagen nicht schon früher fand. Die amtliche Antwort, die AfD habe sich „seit der Corona-Pandemie radikalisiert“ überzeugt schon chronologisch nicht: Die Pandemie dauerte in Deutschland vom Frühjahr 2020 bis Herbst 2022, die „Radikalisierung“ der AfD müsste also schon 2022 sichtbar geworden sein und entsprechend im Verfassungsschutzbericht für dieses Jahr erscheinen. Im Registeranhang des Berichts werden 74 (vierundsiebzig) Parteien und Gruppierungen genannt, die „verfassungsfeindliche Ziele verfolgen“, aber die AfD ist nicht darunter. Am 31.12.2022 war also die AfD noch nicht „radikalisiert“ und verfassungsfeindlich; nun, seit November 2023, soll sie „rechtsextremistisch“ sein, und zwar „gesichert“ (als ob es einen wissenschaftlichen Beweis dafür gäbe).