Tichys Einblick
Teilen und Herrschen:

Wie gesellschaftliche Spaltung die Gesellschaft zusammenhält

Kaum ein Tag vergeht ohne ein Beispiel gesellschaftlicher Polarisierung. Ständig müssen unverhandelbare Positionen bezogen und die Fronten verhärtet werden. Diese Spaltung ist gewollt, jedoch ist das alte Prinzip von „teile und herrsche“ auch ein Garant für stabiles Regieren.

picture alliance / Zoonar | Anastasiia Torianyk

Man muss kein besonders scharfsichtiger politischer Beobachter sein, um zu erkennen, dass weite Teile westlicher Gesellschaften nach dem Prinzip von „teile und herrsche“ regiert werden. Die bewusst herbeigeführte Spaltung der Gesellschaft scheint unser Zusammenleben in ein riesiges Pulverfass zu verwandeln, in dem fast täglich neue Polaritäten auftauchen, die eine einst homogene Gesellschaft immer weiter fragmentieren.

Wie sehr man sich bei dieser Spaltung auch selbstkritisch in den Spiegel schauen muss, wurde hier schon früher dargelegt, zuletzt sehr hellsichtig von Kollegin Anna Diouf. Doch so sehr der Eindruck entstehen mag, dass die Spaltung der Gesellschaft ein chaotisch-destruktives Element in das Zusammenleben trägt, so hat sie auch eine äußerst stabilisierende Funktion.

Ein Weg zu gesellschaftlicher Stabilität

Denn das Prinzip von „teilen und herrschen“ basiert von alters her auf der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Polaritäten. Diese Polaritäten stellen eine Bündelung weitaus komplexerer Sachverhalte dar, sie sind eine grobe Vereinfachung eines Problems auf ein einfaches Gegensatzpaar wie „links-rechts“, „für oder gegen Impfung“, „Israel-Palästina“, „Russland-Ukraine“, „Trump-Harris“ oder sogar „Papst Benedikt-Papst Franziskus“.

Dass sich im Zuge solcher Polarisierungen ungeahnte Spannungen und Aggressionen zwischen den Lagern entladen, ist Teil der Übung und mag daher erst einmal als aufwiegelndes Herrschaftsinstrument einer manipulativen Elite erscheinen. Womöglich nicht einmal zu Unrecht. Doch muss man sich bei genauerer Betrachtung fragen, ob diese Spannungen und Aggressionen reiner Ausfluss dieser Polarisierung sind, oder ob diese Polarisierung diese Spannungen und Aggressionen nicht auch kanalisiert, indem sich die Gegensätze mehr oder weniger die Waage halten, sodass es nicht zu größeren Ausbrüchen von Gewalt und Chaos kommt.

Schon in der Antike nahm man beim „Teilen und Herrschen“ immer auch ein gewisses Maß an Gewaltbereitschaft in Kauf, ja mehr noch, es diente sogar der Umleitung des Gewaltpotenzials in gelenkte Bahnen, sodass sinnvolles Regieren (eines fremden Volkes) erst möglich wurde.

Auch in seinen frühneuzeitlichen Ausprägungen, die sich weniger an das Volk als Masse denn an einen überschaubaren Hofstaat oder bürokratischen Apparat richteten, war das Teilen und Herrschen ein Mittel, um zerstörerische Intrigen im Sand verlaufen zu lassen und Stabilität zu gewährleisten.

Erst mit der modernen Massendemokratie wurde auch das breite Volk zu einer „zu bespielenden“ Masse dieses Prinzips, und der medial-politische Apparat sah seine Funktion zunehmend darin, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Auf der Suche nach einem Konsens

Denn Gleichgewichte können auch kippen und würden dann unweigerlich in einem der Extreme münden. Solche Revolutionen sind aber in den wenigsten Fällen zu begrüßen, da sie meist eine Schneise der Verwüstung durch die Gesellschaft ziehen. Der Grad gesellschaftlichen Ungleichgewichts lässt sich sogar am Ausmaß der oktroyierten Polarisierungen ablesen, denn je häufiger eine binäre Wahl zwischen einem vermeintlichen Gegensatzpaar ansteht, umso deutlicher wird die Notwendigkeit, diese Methode zur gesellschaftlichen Stabilisierung einzusetzen. Mit anderen Worten: Je größer die innere Zerrissenheit und Anspannung in einer Gesellschaft, umso häufiger werden ihr lenkbare Polaritäten vorgesetzt, um die Spannungen kontrollieren zu können.

Woher aber rührt die innere Zerrissenheit? Natürlich könnte man viele verfehlte politische Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte als Grund anführen, doch stellt sich die Frage, ob diese noch wirklich ursächlich, oder schon längst nur Symptom, also einer jener besagten Pole im Spiel von teilen und herrschen, sind.

Dazu muss aber die Frage nach einer Alternative zu diesem Herrschaftsprinzip gestellt werden. Einfach nur eine Rückkehr zur „wahren“ Demokratie zu fordern, mag zwar gut klingen, blendet aber viele Probleme aus, die damit noch lange nicht gelöst sind. Denn Mehrheitsbeschlüsse sind das eine – doch eine Kultur, eine Zivilisation, benötigt einen noch viel weiter gefassten gesellschaftlichen Konsens. Im abendländischen Westen war dies für Jahrhunderte das Christentum, später löste dies der Aufklärungsgedanke ab. Doch heute? Welchen gesellschaftlichen Konsens gäbe es heute, der anstelle der Herrschaft durch Teilung die Gesellschaft prägen könnte? So muss man – egal ob man das nun befürwortet oder nicht – feststellen, dass in Zeiten gesellschaftlicher Zerrissenheit eine Lenkung von oben zumindest grundlegende Stabilität gewährleistet.

Ordnung statt Chaos

Das will nicht sagen, dass die Interessen der Herrschenden und des Volkes immer konträr zueinander stehen. Im Gegenteil, das Markenzeichen goldener Zeitalter ist, dass die Interessen der Eliten und der breiten Bevölkerung viele Überschneidungsflächen haben und alle Parteien von politischen und ökonomischen Entscheidungen profitieren. Doch kein goldenes Zeitalter dauert ewig und die wenigsten würden behaupten, dass der Westen gegenwärtig ein solches goldenes Zeitalter durchliefe. Es gibt auch durchaus Versuche, einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu entwickeln: der quasi-religiöse Glaube an die drohende Klimakatastrophe einerseits, die Neudefinition von Familie und Fortpflanzung andererseits.

Aber auch am anderen Ende des Spektrums wird experimentiert. Die massenhafte Deportation von Bürgern ausländischer Abstammung unter dem Oberbegriff Remigration könnte, wenn sie sich als tatsächlich mehrheitsfähig herausstellen würde, innerhalb kürzester Zeit von Eliten und Politikmachern übernommen und zur neuen Leitlinie erkoren werden, denn prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass jene Kräfte, die das Spiel von teilen und herrschen vorantreiben, in den allermeisten Fällen nicht wirklich ideologisch sind, sondern Ideologie lediglich als eines von vielen Mitteln zur Sicherung von Herrschaft einsetzen. Vereinfacht gesagt: heute so, morgen so – Hauptsache wir bleiben am Ruder.

Doch bislang scheint sich im Ringen um einen neuen Grundkonsens kein klarer Favorit durchzusetzen. Die Klimareligion und Genderpolitik drohen noch vor der totalen Machtübernahme von der Realität eingeholt und zu Fall gebracht zu werden, ethnische Projekte wie die Remigration dürften Jahrzehnte nach Enoch Powell an der bereits viel zu weit fortgeschrittenen ethnischen Vielfalt westlicher Gesellschaften scheitern.

So bleibt es ein Ringen und Suchen nach einem neuen Grundkonsens in einer sich rapide verändernden Welt. Doch um das Chaos fernzuhalten, ist das Herrschaftsinstrument von teilen und herrschen wohl der Revolution vorzuziehen. Das hindert natürlich das Individuum nicht daran, sich diesem Prozess nach Möglichkeit zu entziehen, so wie ohnehin fast jeder Mensch die Welt in das bewusste „Ich“ und „die Anderen“ unterteilt und folglich vor allem bei Letzteren das Mitläufertum erkennt, dessen wir uns alle beizeiten schuldig machen.

Teilen und Herrschen stellt zwar eine Form von Minderheitenherrschaft dar, doch in der modernen Massendemokratie erlaubt diese Methode sogar, Mehrheiten für ihre Legitimierung zu gewinnen. Es mag kein schöner Prozess sein, aber es ist der Prozess, den unsere Gesellschaft zurzeit verdient. Eine durch Teilen und Herrschen ermöglichte Minderheitenherrschaft ist dem Chaos und der Revolution womöglich vorzuziehen. Wer anderes behauptet, hat Chaos und Revolution noch nicht erlebt.

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