Grammatisch gehört „wir“ zur Wortgruppe der Personalpronomen: ich, du, er/sie/es; wir, ihr, sie. Die sprachsystematische Bedeutung dieser Pronomen ist sehr abstrakt: ich bezeichnet lediglich die sprechende Person, du die angesprochene und wir mehrere Personen einschließlich des Sprechers, wobei deren Zahl mindestens zwei beträgt (wir beide), aber nach oben nicht begrenzt ist. Wie viele und welche Personen ein Wir konkret umfasst, ergibt sich aus der Sprechsituation – allerdings häufig nur ungefähr.
Zu Beginn der Pressekonferenz sagte Scholz, er habe seit Anfang 2022 „mit vielen Verantwortlichen innerhalb der Regierung“ über die Energiesicherheit Deutschlands gesprochen und konstatierte: „Lange vor dem [Ukraine-]Krieg … haben wir [Hervorhebung des Autors] diese Fragen im Blick gehabt und die notwendigen Entscheidungen vorbereitet und getroffen.“ Wir meint in diesem Fall die „Bundesregierung“, also den Kanzler und seine „Minister“. Dieses politische Wir kann sich auch auf den Staat beziehen: Die Ankündigung „Wir werden einsteigen bei [der Firma] Uniper mit 30 Prozent am Anteil des Unternehmens“ besagt ja nicht, dass Scholz und seine Minister persönlich diesen Aktienanteil kaufen, sondern der Staat Bundesrepublik Deutschland, den sie vertreten.
Das erste Wir im Zitat ist ein stilistischer Sonderfall, der „Majestätsplural“ (pluralis majestatis), den Herrscher statt der Singularform ich benutzen (Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, verordnen …). Am 22. Juli fand keine Kabinettssitzung statt; die „wichtigen Entscheidungen“ im Fall Uniper muss also Scholz selbst getroffen haben. Ansonsten im Statement sagt er aber ich.
Die Botschaft seines Statements hat die Süddeutsche Zeitung (23./24. Juli) in einer einprägsamen Schlagzeile zusammengefasst:
„Kein Bürger wird alleingelassen. Kanzler Scholz schwört die Deutschen auf schwere Zeiten und noch höhere Preise ein, Helfen soll ein Schutzschirm für Bedürftige“
Die SZ verzichtet auf das Gendern der „Bürger“ und nennt das Staatsvolk, das sich hinter dem politischen Wir verbirgt, beim Namen: „die Deutschen“ – ein Ausdruck, der nicht zum Wortschatz der Bundesregierung (auch der vorhergehenden) gehört. Scholz vermeidet auch den Ländernamen Deutschland und sagt stattdessen „dieses Land“ und (dreimal) „unser Land“.
Wen meint also Scholz mit dem Wir in Formulierungen wie „Wir halten zusammen“? Vermutlich die Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland. Er könnte auch sagen „Wir Bürger“ oder „Wir Deutsche“, aber das wäre politisch nicht korrekt: Die Bürger müssten zu Bürgerinnen und Bürger gegendert werden, und die genderneutrale Volksbezeichnung Deutsche gilt als „rechts“ und „nationalistisch“. Bleibt das Personalpronomen wir, das einerseits genderneutral ist, andererseits ohne Zusatz einen so elastischen Begriffsumfang hat, dass es niemanden ausschließt. Allerdings ist mit diesem abstrakten, inhaltsleeren Wir kein Staat zu machen – auch wenn es ständig wiederholt wird.