Tichys Einblick
Aber wen meint Scholz mit „wir“?

Siebzigmal „Wir“ in dreizehn Minuten

Die Lage war ernst: Bundeskanzler Scholz unterbrach seinen Urlaub und gab am 22. Juli in Berlin eine Pressekonferenz „zu aktuellen Fragen der Energiepolitik“. Sein Eingangsstatement dauerte 13 Minuten und 8 Sekunden. Zentrales Wort darin ist „wir“, es kommt insgesamt 70-mal vor – alle elf Sekunden.

Bundeskanzler Olaf Scholz bei kurzfristig einberufener Pressekonferenz 22.7.2022

IMAGO / Bernd Elmenthaler

Grammatisch gehört „wir“ zur Wortgruppe der Personalpronomen: ich, du, er/sie/es; wir, ihr, sie. Die sprachsystematische Bedeutung dieser Pronomen ist sehr abstrakt: ich bezeichnet lediglich die sprechende Person, du die angesprochene und wir mehrere Personen einschließlich des Sprechers, wobei deren Zahl mindestens zwei beträgt (wir beide), aber nach oben nicht begrenzt ist. Wie viele und welche Personen ein Wir konkret umfasst, ergibt sich aus der Sprechsituation – allerdings häufig nur ungefähr.

Zu Beginn der Pressekonferenz sagte Scholz, er habe seit Anfang 2022 „mit vielen Verantwortlichen innerhalb der Regierung“ über die Energiesicherheit Deutschlands gesprochen und konstatierte: „Lange vor dem [Ukraine-]Krieg … haben wir [Hervorhebung des Autors] diese Fragen im Blick gehabt und die notwendigen Entscheidungen vorbereitet und getroffen.“ Wir meint in diesem Fall die „Bundesregierung“, also den Kanzler und seine „Minister“. Dieses politische Wir kann sich auch auf den Staat beziehen: Die Ankündigung „Wir werden einsteigen bei [der Firma] Uniper mit 30 Prozent am Anteil des Unternehmens“ besagt ja nicht, dass Scholz und seine Minister persönlich diesen Aktienanteil kaufen, sondern der Staat Bundesrepublik Deutschland, den sie vertreten.

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Neben Regierung und Staat kann das politische Wir auch die Regierten einbeziehen, das Volk. In folgender, viel zitierten Passage des Statements erweitert sich das Wir zu einer Gemeinschaft von Kanzler, Regierung und Volk (= wir alle): „Heute haben wir [= Scholz] uns mit der Zukunft des Unternehmens Uniper beschäftigt und dazu auch wichtige Entscheidungen getroffen. Bevor ich auf diesen konkreten Fall … eingehe, will ich aber über die Prinzipien sprechen, nach denen wir [als Regierung] handeln. You’ll never walk alone. Wir [alle] bewältigen die schwierigen Zeiten gemeinsam, wir [alle] halten zusammen … Niemand wird mit seinen Herausforderungen und Problemen alleingelassen, keine einzelne Bürgerin, kein einzelner Bürger, auch nicht die Unternehmen in diesem Land. Wir [alle] sind gemeinsam stark genug, das auch zu schaffen … Wir [als Regierung] werden auch alles Erforderliche tun, was getan werden muss, damit das auch gemeinsam gelingt, und wir [als Regierung] werden es so lange tun, wie es erforderlich ist.“

Das erste Wir im Zitat ist ein stilistischer Sonderfall, der „Majestätsplural“ (pluralis majestatis), den Herrscher statt der Singularform ich benutzen (Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, verordnen …). Am 22. Juli fand keine Kabinettssitzung statt; die „wichtigen Entscheidungen“ im Fall Uniper muss also Scholz selbst getroffen haben. Ansonsten im Statement sagt er aber ich.

Die Botschaft seines Statements hat die Süddeutsche Zeitung (23./24. Juli) in einer einprägsamen Schlagzeile zusammengefasst:

Kein Bürger wird alleingelassen. Kanzler Scholz schwört die Deutschen auf schwere Zeiten und noch höhere Preise ein, Helfen soll ein Schutzschirm für Bedürftige“

Die SZ verzichtet auf das Gendern der „Bürger“ und nennt das Staatsvolk, das sich hinter dem politischen Wir verbirgt, beim Namen: „die Deutschen“ – ein Ausdruck, der nicht zum Wortschatz der Bundesregierung (auch der vorhergehenden) gehört. Scholz vermeidet auch den Ländernamen Deutschland und sagt stattdessen „dieses Land“ und (dreimal) „unser Land“.

Wen meint also Scholz mit dem Wir in Formulierungen wie „Wir halten zusammen“? Vermutlich die Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland. Er könnte auch sagen „Wir Bürger“ oder „Wir Deutsche“, aber das wäre politisch nicht korrekt: Die Bürger müssten zu Bürgerinnen und Bürger gegendert werden, und die genderneutrale Volksbezeichnung Deutsche gilt als „rechts“ und „nationalistisch“. Bleibt das Personalpronomen wir, das einerseits genderneutral ist, andererseits ohne Zusatz einen so elastischen Begriffsumfang hat, dass es niemanden ausschließt. Allerdings ist mit diesem abstrakten, inhaltsleeren Wir kein Staat zu machen – auch wenn es ständig wiederholt wird.

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