Der mit 5.000 Euro dotierte Deutsche Schulbuchpreis wird seit 1990 vom Kuratorium „Deutscher Schulbuchpreis“ vergeben. Das Kuratorium würdigt damit die Lebensleistung von Autoren, die die schulische Bildung unterrichtlich, pädagogisch oder schulpolitisch bereichern. Der Schulbuchpreis 2020 ging an den großen Lyriker und Essayisten Reiner Kunze. Die Ehrung fand am 20. August im Rathaussaal von Passau statt; das Ehepaar Kunze lebt in der Nähe. Ein denkwürdiger Ort ist dies, ist in Passau doch vor 800 Jahren das Nibelungenlied entstanden. Nach einem Grußwort des Passauer Oberbürgermeisters Jürgen Dupper sprach Josef Kraus, Vorsitzender des Kuratoriums und TE-Autor, die Laudatio. TE veröffentlicht sie nachfolgend in Auszügen.
Laudatio:
Reiner Kunze wurde am 16. August 2021 88 Jahre alt. 1933 geboren, übersiedelte er am 13. April 1977 nach endlos vielen Schikanen von der DDR in die Bundesrepublik. 88, das ist zweimal 44. Die ersten 44 Jahre, 1933 bis 1977, musste Reiner Kunze in einer der deutschen Diktaturen leben. Seit 44 Jahren nun lebt er in einer Demokratie. Einer Noch-Demokratie?
Und nun nach mehr als vierzig Auszeichnungen eben der Schulbuchpreis! Denn die Jugend erfährt über Reiner Kunze, woran man ein totalitäres System erkennt, was man zu seinem Einsturz beitragen kann, wie man mit Sprache zur Welt und zu Wahrheiten findet, wie man mit Sprache zu sich selbst und zum Mitmenschen findet. Es ist dieser Preis auch die Anerkennung für ein Bekenntnis Reiner Kunzes: „Dürfte ich zwischen einem Literaturpreis und einem Platz im Schullesebuch wählen, würde ich mich für den Platz im Lesebuch entscheiden.“
Reiner Kunze hat kein bestimmtes Schulbuch geschrieben. Das würde er sich nicht antun. Denn Schulbücher müssen sich an bestimmten ministeriellen Vorgaben orientieren. Das wäre für Reiner Kunze zu viel der Einengung. Außerdem würde er ein solches Unterfangen schon im Anfangsstadium verwerfen – nämlich nach der Lektüre der Lehrpläne. „Lehrpläne?“ würde er ausrufen, „nein, Leerpläne sind das!“
Ab 1962 wurde Kunze freiberuflicher Schriftsteller. Am 16. September 1968 wurde unter dem Decknamen „Lyrik“ eine Stasi-Akte über ihn angelegt. Auslöser war Kunzes Sympathie mit dem „Prager Frühling“. Kunze wurde zu einem Stachel im System – besonders verehrt zumal von jungen Leuten, die sich oft zu Hunderten um ihn scharten.
Was in der Stasi-Akte alles gesammelt wurde, erfuhr Reiner Kunze erst 1990: 12 Aktenordner voller menschlicher Abgründe (was die Zuträger betrifft), 3491 Blätter der Bespitzelung, 377 „analysierte“ Briefe. Weitere Unterlagen sind 1990 von interessierter Seite verbrannt worden. Reiner Kunze hat Auszüge aus seiner „Akte“ Ende 1990 in der Dokumentation „Deckname ‚Lyrik‘“ teilweise veröffentlicht.
Ab 1974 waren ihm Maßnahmen bis zur physischen Vernichtung angekündigt: „Das überleben Sie nicht“, sagte man zu ihm. Die Staatsmacht beließ es auch nach der Übersiedelung nicht dabei: Im Mai 1977 wurde die Losung ausgegeben: „Geeignete Verbindungen in westlichen Massenmedien über Kunze zu publizieren und … die Möglichkeit einer Zusammenarbeit des Kunze mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu verbreiten.“
377 Briefe und überhaupt die Post! Sie waren Lebenselexier des Reiner Kunze all die schweren Jahr hindurch: „einundzwanzig variationen über das thema ‚die post‘“ sind daraus entstanden. Die DDR-Post sah er als „Läusekamm“, mit dem systemwidriges „Ungeziefer“ herausgekämmt werden sollte.
1977 dann die Übersiedelung: Nicht alle westlichen Mainstream-Leute waren erbaut ob der schier sezierenden Schilderungen, die Kunze über die erlebte DDR verfasste. Hier, im „Westen‘“, waren offenbar schon die Maßstäbe verschwunden, die einen totalitären Staat ausmachen.
Reiner Kunze war für noch so viel Stasi-Silberlinge nicht zu korrumpieren. Für ihn gab es keine Kompromisse. Denn: „Das poetische Bild ist nicht kompromissfähig, weil es auf Wahrheit verweist.“ Will heißen: Kunze vertraut der Sprache. Er verlässt sich auf ihre Würde, ihre Weisheit und ihre Wahrheit. In ihr – der Sprache – ist nämlich schier generationsübergreifend – also in intergenerationeller Demokratie – Erfahrung, Gedächtnis, Weisheit, Wahrheit gespeichert.
Das Schlimme ist: Wir merken es kaum noch, wenn all dies dahinschwindet. Es ist ein Verlust des Verlustes, wie es der kürzlich verstorbene englische Philosoph Roger Scruton genannt hat: Wir merken den Verlust selbst von etwas Unwiederbringlichen oft nicht mehr.
Ein Schulpreis für Kunze? Ja, auch deshalb, weil Kunze ein Herz für Kinder und Jugendliche hat. Das Hineindenken in das Fühlen Heranwachsender beherrscht er wie kaum ein anderer. Immer wieder gab es Gedichte für Kinder. 2011 als Sammlung „Was macht die Biene auf dem Meer? Gedichte für Kinder, Mütter, Väter, Großmütter und Großväter“.
Und dann der Briefeschreiber Reiner Kunze: Für ihn ist das Briefeschreiben das „Tor zur Welt“, die „Zweite Luftröhre“ – er widmet ihm oft mehrere Stunden täglich. Welch Kontrast zur Jugend, die sich über sog. „soziale“ Medien oft nur noch in Sprachfetzen verständigt! Eine Mail-Anschrift hat Reiner Kunze übrigens nicht: „aus Überlebensgründen!“
Sodann: Reiner Kunze – der Patriot: Reiner Kunze ginge auch als Kosmopolit durch. Siehe seine Reisen durch nahezu alle Länder Europas, in die USA, in Länder Lateinamerikas, Korea und Japan. Aber er blieb Patriot. „Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Diese Sorge Heinrich Heines indes beschäftigt Reiner Kunze bis heute. Er litt unter der deutschen Teilung. 1963, Kunze war 30 Jahre alt, schrieb er: „Nun bin ich dreißig Jahre alt / Und kenne Deutschland nicht: / Die grenzaxt fällt in Deutschland wald / O Land, das auseinanderbricht im Menschen / Und alle brücken treiben pfeilerlos.“
Reiner Kunze hat diesen Teil Deutschlands psychisch unbeschadet, vermutlich sogar gestärkt überstanden: trotz Bespitzelung, trotz Berufsverbot, trotz Ausbürgerung. Trotz Drohungen eines DDR-Kulturministers Hoffmann: „Herr Kunze, dann kann Sie auch der Minister für Kultur nicht mehr vor einem Unfall auf der Autobahn bewahren.“
Dennoch hat Kunze die Mauer mit leisen Tönen zum Einsturz gebracht. Er höhlte die hohle DDR aus und war damit poetischer Wegbereiter der wiedergewonnenen Einheit Deutschlands. Viele seiner Gedichte, zumal wenn er sie selbst vorträgt, mögen pianissimo sein. Aber ihre Aussage ist fortissimo.
Und heute noch sagt er allen, die es anders hinklittern wollen: Die DDR war ein Unrechtsstaat. Annähernd 1.000 Menschen haben bei ihrem Versuch, von Deutschland nach Deutschland zu fliehen, ihr Leben verloren. Es gab 200.000 bis 250.000 politische Gefangene. Noch 1981 wurde in Leipzig – politisch motiviert – ein Todesurteile vollstreckt. Um Systemkritiker dingfest zu machen oder um sie und ihre Familien wenigstens zu drangsalieren, gab es 189.000 Informelle Stasi-Mitarbeiter (Stand: 1989) und 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter (Stand: 1989).
Wer das kritisiert, kam auch im Westen nicht nur gut an. Ein Nobelpreisträger Günter Grass (1999) meinte gar, die DDR sei eine „kommode Diktatur“ gewesen. Mit dem Vorsitzenden des DDR-Schriftstellerverbandes Hermann Kant hatte Kunze schon viel früher gebrochen. Kant hatte über Reiner Kunze nach der Ausreise der Kunzes aus der DDR hinterhergerufen: „Kommt Zeit, vergeht Unrat.“
Schließlich Kunze als Sprach- und Herzensbildner: Kunze ringt um jedes Wort. Das ist das wohltuende Gegenstück zur Schwatzhaftigkeit, der sich heute so viele befleißigen. Kunze lädt ein zur Meditation. Und er lädt ein, jedes Wort zu wägen. Er sagt: „Wort ist währung / Je wahrer, / desto härter.“ Bei Hunderten von Lesungen in Schulen hat er damit junge Leute begeistert.
Zwei sprachliche Fehlentwicklungen hat sich Kunze zur Brust genommen. Erstens: Für ihn war die Rechtschreibreform ein Beispiel von Machtarroganz und Skrupellosigkeit. Wörtlich: „Wer das Niveau der geschriebenen Sprache senkt, senkt das Niveau der Schreibenden, Lesenden und Sprechenden“. 2002 hat er Entsprechendes in einer Denkschrift zu Papier gebracht. Der Titel dieser Schrift war alleine schon Sprachphilosophie: „Die Aura der Wörter“.
Zweitens hat sich Reiner Kunze den Gender-Unfug zur Brust genommen: Wer als Freidenker im totalitären Staat der DDR der Indoktrination ausgesetzt war wie er, der hegt eine tiefe Skepsis gegen verordnete Gebote des Denkens, Redens und Schreibens. Da ist es ein Geschenk des Himmels, dass es einen Reiner Kunze gibt. Auch im Jahr 2021, in dem die „gendergerechte“ Verhunzung unserer Sprache bis hinein in die „Öffentlich-Rechtlichen um sich greift und das sog. Gender-Sternchen über 300mal gewisse Wahlprogramme ziert – mit einem „Sternchen“, das manche auch noch für aussprechbar halten – mit einem Glottisschlag, einem gesprochen Zungenschnalzer, der freilich eher Logopädie-Bedarf signalisiert. Und dann erst so abstruse Konstruktionen wie: „Backendenhandwerk“, Fußgehendenbrücke“, „Letztes Jahr gab es drei tote Radfahrende.“ Reiner Kunze sagt dazu: „Der Sprachgenderismus ist eine aggressive Ideologie, die sich gegen die deutsche Sprachkultur und das weltliterarische Erbe richtet, das aus dieser Kultur hervorgegangen ist.“ Und da kann der sonst so leise Reiner Kunze zornig werden. Als ich ihm am Telefon ein paar Beispiele aus der Giftküche der Gender-Sprache zitierte, wurde er laut: „Das ist ein Verbrechen gegen unsere Sprache!“
Reiner Kunze ist nicht denkbar ohne Frau Dr. med. Elisabeth Kunze. Hier hat er nie einen Zweifel aufkommen lassen: „Meine Unabhängigkeit als Schriftsteller verdanke ich der Kameradschaft meiner Frau.“ Elisabeth Kunze, geborene Littnerová (welch vielsagender Name!), kommt aus Aussig an der Elbe (Usti nad Labem). Sie hatte am 9. Juni 1959 über DDR-Radio Kunze-Liebesgedichte gehört und nach langen Briefumwegen Kontakt zu Reiner Kunze gefunden. Er schickte ihr im Januar 1960 sein Büchlein „Vögel über dem Tau“. Dann gab es 400 Briefe zwischen den beiden, manche 25 Seiten lang. Ebenfalls per Brief ging ein Heiratsantrag ins gut hundert Kilometer entfernte Aussig. Ein Telefonat besiegelte die Absicht. Zwei Seelenverwandte hatten ich gefunden. Seit 8. Juli 1961 sind beide verheiratet. 60 Jahre Ehe: Diamantene Hochzeit!
Reiner Kunze – der glückliche Sisyphos: Darf man Reiner Kunze mit Sisyphos in Verbindung bringen? Mit dem „Mythos des Sisyphos“? Der Nobelpreisträger des Jahres 1957 für Literatur, Albert Camus, hat exakt unter diesem Titel 1942 einen Essay veröffentlicht. Camus greift hier die existentielle Grunderfahrung des Absurden auf, gegen das nur eine Revolte der leidenschaftlichen Selbstverwirklichung helfe. So oder so ähnlich sieht sich vermutlich Reiner Kunze. Insofern ist es nicht so ganz überraschend, dass dieser Camus-Essay mit dem Schlusssatz endet: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Ja, wir können uns Reiner Kunze als glücklichen Menschen vorstellen, der wieder und wieder dieselben großen Aufgaben wälzte und der dies mit Eros und Ethos sowie – falls nötig – mit Trotz tut.
Zum Ende schweift mein Blick heute nach „Stockholm“. Ihr dort in Eurem schlauen Komitee: Warum habt ihr Reiner Kunze bislang verschlafen?
Reiner Kunze: Welch ein Vorbild!