„Energisch, klar und deutlich“, „authentisch“, ja „perfekt“ – so erlebten viele Fernsehzuschauer am letzten Mittwochabend die Rede des Bundeskanzlers, in der er die Entlassung des Finanzministers und Neuwahlen ankündigte. Tatsächlich las – wie die Presse bald darauf kommunizierte – Scholz seine Rede vom (im Fernsehbild kaum erkennbaren) Teleprompter ab; sie war keine freie Rede, sondern täuschte Spontaneität vor.
Freie, spontane Rede ist gesprochene Sprache, und beim Sprechen sind – im Unterschied zum Schreiben – Formulierung und Äußerung fast gleichzeitig: Wer einen Text schreibt, kann verschiedene Formulierungen ausprobieren, der Leser bekommt nur die Endfassung. Beim Sprechen hingegen muss der Text in Echtzeit formuliert werden, jede Korrektur ist hörbar. Um Formulierungszeit zu gewinnen, verwenden die Sprecher vor allem drei sprachliche Mittel: „gefüllte“ Pausen (Äh und Ähnliches), Wiederholungen und Wortdehnungen (Alsoo). In der Linguistik bezeichnet man diese den Sprechfluss verzögernden Merkmale als „Hesitationsphänomene“. Ein typisches Beispiel hierfür ist folgende Äußerung eines Regierungssprechers zur VW-Krise (ZDF-heute, 28. Oktober):
„Dass mögliche äh mögliche ähäh falsche Managemententscheidungen aus der Vergangenheit äh nicht zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen dürfen äh und es jetzt darum geht äh Arbeitsplätze zu erhalten und zu sichern.“
Man erkennt hier, wie mündliches Formulieren, „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist, ca. 1805), funktioniert: Beim Satzbeginn mit Dass weiß der Sprecher noch nicht genau, was er sagen will; er versucht es mit dem Adjektiv mögliche, verzögert mit einem doppelten äh und findet schließlich das passende Substantiv: falsche Managemententscheidungen. Dann bringt er, mit drei kurzen Äh-Pausen, den Satz relativ flüssig zu Ende.
Scholz sprach bei seiner Rede – anders als sonst – ohne Hesitationen, wie „gedruckt“, und dies vierzehn Minuten und 17 Sekunden lang. Tatsächlich las er von einem Teleprompter ab, zwei seitlich vom Rednerpult an Metallstangen angebrachten speziellen Glasscheiben, auf denen der Text erscheint und ohne Blicksenkung gelesen werden kann. Scholz las aber den Text nicht einfach vor, sondern inszenierte ihn mit deutlichen Sinnpausen und markanten Betonungen (fett markiert): „Darum geht es jetzt. Es ist meine Plicht. Ich als Bundeskanzler“ usw. Diese sprachliche Inszenierung geht nur, wenn man den Text vorher gut kennt und geprobt hat. Authentisch? Nein. Aber eine gelungene Aufführung.
P.S.: Laut einer Anfrage des Bundestagsabgeordneten Dr. Heck (CDU) vom 17. Mai 2024 hat das Bundeskanzleramt Anfang des Jahres einen neuen Teleprompter beschafft.