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Das Werk ist größer als sein Urheber

„Palestrina“ in Wien: Wer rettet Pfitzners Musik?

Hans Pfitzner gilt wegen seiner Vergangenheit im Dritten Reich als „umstrittener“ Komponist. Doch davon merkt man in seiner Musik nichts. Seine genialen Werke sind autonom und zeitlos. Die Oper „Palestrina“ steht dabei in der ersten Reihe. Von Georg Etscheit

Aufführung von Pfitzners „Palestrina“ in der Oper Zürich. Archivaufnahme aus dem Jahr 2011

picture alliance / dpa | Steffen Schmidt

Rom zur Zeit des Konzils von Trient (1545–1563): Die Kirchenväter beraten über eine Reform der Kirchenmusik als Reaktion auf die Ausbreitung des Protestantismus in Europa. Die vielstimmige, kunstvolle Figuralmusik soll wieder dem einfachen, frommen Gregorianischen Choral weichen. Das entsetzt den Musik liebenden Kardinal Borromeo, der den berühmten Komponisten Pierluigi da Palestrina dazu drängt, eine exemplarische Messe im polyphonen Stil zu schreiben, die sowohl den liturgischen wie künstlerischen Forderungen an die reformierte, katholische Kirchenmusik entspricht, ohne auf längst vergangene Zeiten zurückgreifen zu müssen.

Palestrina steckt in einer Schaffenskrise und weist das ehrenvolle Angebot zurück, was Borromeo zutiefst kränkt. Allein in seiner Werkstatt zurückgeblieben, erscheinen Palestrina in einer Vision die großen Meister der Tonkunst. Sie mahnen ihn an seine Pflicht, schaffen zu müssen, sein Erdenpensum sei noch nicht erfüllt. Wie in Trance schreibt Palestrina nun doch eine neue Messe, die nach ihrer erstmaligen Aufführung vom Kirchenvolk bejubelt wird und selbst dem Papst großen Respekt abnötigt. Palestrina wird daraufhin als „Retter der (Kirchen)musik“ in die Geschichte eingehen.

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Das ist, in aller Kürze zusammengefasst, der Stoff für Hans Pfitzners Opernmonolith „Palestrina – Musikalische Legende in drei Akten“, eine der wichtigsten Musiktheaterschöpfungen des 20. Jahrhunderts. Pfitzner (1869–1949) komponierte nicht nur die zwischen Spätromantik und Frühmoderne changierende Musik, sondern schrieb auch das Libretto. „Bei der Qualitätsgleichheit von Dichtung und Musik ist schwer zu unterscheiden, welcher von beiden der Vorzug zu geben ist“, heißt es im Handbuch der Oper (dtv/Bärenreiter), einem ebenso zuverlässigen wie unideologischen Ratgeber für Opernfreunde.

Seit der umjubelten Uraufführung unter Bruno Walter in München im Jahre 1917 war „Palestrina“ fixer Bestandteil der Spielpläne vieler deutschsprachiger Opernhäuser, obwohl die riesige Besetzung mit zahlreichen kleinen, wenngleich anspruchsvollen Partien schwer zu realisieren und kostspielig ist. Im „Handbuch der Oper“ wird Pfitzners „Palestrina“ auf eine Stufe mit Wagners „Parsifal“ gestellt. Das Werk sei, ähnlich wie „Parsifal“ ein „Weihespiel, das eine würdige Aufführung nur im besonderen, festlichen Rahmen, selten aber im Opernalltag erfahren dürfte“.

Trotzdem wurde Pfitzners Meisterwerk allein an der Wiener Staatsoper bislang 130 Mal aufgeführt, in sieben Inszenierungen. Die letzte aus dem Jahre 1999 stammte von Herbert Wernicke und wurde jüngst unter Leitung von Christian Thielemann an vier ausverkauften Abenden wiederaufgenommen. Im Vorfeld hatte ein Wiener Musikkritiker die Wiederaufnahme als die eigentliche Sensation der Spielzeit 2024/25 bezeichnet.

Was macht eine bloße Wiederaufnahme zur Sensation? Vielleicht die Tatsache, dass die Oper mittlerweile, ungeachtet ihrer überragenden Qualität, aus der musikalisch interessierten Öffentlichkeit so gut wie verschwunden ist, mitsamt der meisten anderen Werke des Komponisten wie der Spieloper „Das Christ-Elflein“, die Kantate „Von deutscher Seele“ oder sein grandioses Violinkonzert, für das sich in den 60er Jahren noch die deutsche Geigerin Edith Peinemann eingesetzt hatte.

Der Grund: Pfitzners deutschnationale Gesinnung, sein vielfach dokumentierter Antisemitismus, seine (letztlich erfolglose) Anbiederung an die Nazis sowie den Holocaust relativierende Äußerungen nach Kriegsende. Wobei sich bei Pfitzner persönliche Freundschaften mit Juden und ein ausgeprägter „Kulturantisemitismus“ nicht ausschlossen. Pfitzner sah sich selbst, ähnlich wie Palestrina in der Legende, als Bewahrer der deutschen Musiktradition vor dem zersetzenden Einfluss des „jüdisch-internationalen Geistes“ und der aufkommenden Moderne mit der von Arnold Schönberg begründeten seriellen Kompositionstechnik. Antisemitismus als „Hassgefühl“ dagegen sei abzulehnen.

Auch nach Kriegsende wandelte sich Pfitzners verquastes Weltbild kaum: „Er blieb seinen jüdischen Freunden (darunter Bruno Walter) wie seinem Antisemitismus treu, glaubte weiter an die Dolchstoßlegende aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und an die Überlegenheit der Deutschen als Kulturnation“, schreibt die Historikerin Sabine Busch in ihrer Studie „Hans Pfitzner und der Nationalsozialismus“.

Das ist alles sattsam bekannt und erforscht. Doch in Pfitzners Musik merkt man von alledem nichts. Geniale Werke, dazu gehört auch der „Palestrina“, entwachsen ihren Schöpfern, sie werden gewissermaßen autonom und zeitlos. Außerdem unterschied sich Pfitzners Weltanschauung kaum von der des allseits verehrten Richard Strauss und Richard Wagners. Doch diese musikalischen Heroen, mit deren Musik sich immer noch viel verdienen lässt, vom Thron zu stürzen wagt (noch) niemand. Arbeitet man sich deswegen an dem vermeintlich Geringeren ab?

Spätestens seit Aufkommen der „Pegida“-Bewegung und der AfD und dem damit einhergehenden Kulturkampf „gegen rechts“ wurde Pfitzners Geisteshaltung zum Anlass genommen, seinen Namen und sein Werk aus dem öffentlichen Raum zu tilgen. Pfitznerstraßen wurden umbenannt, ein Pfitzner-Denkmal in seinem einstigen Wohnort Schondorf am Ammersee abgeräumt, seine Werke nicht mehr gespielt. Hatten sich nach Kriegsende noch Dirigenten wie Bruno Walter oder Joseph Keilberth, „ebenso energisch wie traditionsbewusst“, so der Pfitzner-Kenner Rolf Tybout, für die Pfitzner-Pflege eingesetzt, begann die Stimmung gegen Pfitzner spätestens in den 2010er Jahren zu kippen.

Als Ingo Metzmacher Pfitzners Kantate „Von deutscher Seele“ zum Tag der Deutschen Einheit 2007 „leicht provokatorisch“ (Tybout) aufs Programm setzte, titelte die „Welt“: „Warum ein Linker Musik aus der Nazizeit dirigiert“. Dabei hat das Stück mit „Nazi-Musik“ nicht das Geringste zu tun, sondern ist eine Huldigung an den von Pfitzner heiß verehrten Eichendorff und das „reine und tiefe“ Wesen des deutschen Volkes, das Pfitzner in den Wirren nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg gefährdet schien.

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Zwar seien in dieser Zeit noch keine Programme verhindert worden, „doch kamen nur wenige ohne ein kritisches Begleitprogramm oder eine Diskussionsrunde aus“, schreibt Tybout. Im Pfitzner-Gedenkjahr 2019 ergriff der Trierer Dirigent Jochen Schaaf die Initiative und plante ebenfalls eine Aufführung der Kantate. Doch diesmal halfen auch erklärende Symposien und Begleittexte nicht mehr: Die Aufführung wurde auf öffentlichen und medialen Druck hin abgesetzt; auch ein erneuter Versuch Schaafs 2021 scheiterte aus denselben Gründen.

Vor diesem Hintergrund kann man die Entscheidung des Wiener Staatsopernchefs Bogdan Roščić, in dieser Spielzeit den „Palestrina“ wiederaufzunehmen, durchaus als mutig bezeichnet werden. Wobei kolportiert wird, dass Christian Thielemann, ein bekennender Pfitzner-Fan, dem Intendanten der Wiener Staatsoper eine Art Handel vorgeschlagen hatte: Er werde Wagners „Lohengrin“ als Übernahme der Salzburger Osterfestspiele in Wien nur dann leiten, wenn man ihm Gelegenheit, gebe, an gleichem Ort auch den „Palestrina“ zu dirigieren. Vielleicht gibt es nun sogar eine CD-Aufnahme von der neuen Produktion unter dem frisch gebackenen Musikchef der Berliner Lindenoper.

Ob man irgendwann auch im woken Berlin wieder einen „Palestrina“ wird erleben können? Eigentlich stünden die Chancen dafür unter Thielemann nicht schlecht. Ginge der bislang als Speerspitze des musikalischen Konservatismus gehandelte Dirigent nicht gerade auf Schmusekurs mit der Gegenseite. Davon zeugen eine neue Brahms-Einspielung zusammen mit dem Pianisten Igor Levit und begleitende Medienberichte unter dem Tenor: Links und rechts mischen als „neues musikalisches Traumpaar“ die Klassik auf.

In einer Einführungsmatinee zum Wiener „Palestrina“ bestritt Thielemann, dass das Verschwinden von Pfitzners Musik aus der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit einem „politischen Überbau“ stehe. Das ist nachweislich falsch. Doch vielleicht will Thielemann ja den Ball absichtlich flach halten, um den Berlinern irgendwann doch nochmal einen „Palestrina“ oder eine andere Pfitzner-Oper unterzujubeln, ohne dass ihm die Antifa gleich die Hütte abfackelt.

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