Es gibt einige Meilensteine abendländischer Resilienz, die all jene, die den Niedergang unserer Kultur betrauern, immer wieder- im wahrsten Sinne des Wortes – beflügeln. Denn neben der Seeschlacht bei Lepanto, Karl Martell bei Poitiers, und – für Fortgeschrittene! – der Schlacht bei Covadonga, ist die 2. Wiener Türkenbelagerung und deren Entsatz durch das Heer der heiligen Allianz unter prominentem Einsatz der polnischen Husaren mit ihren markanten Flügeln, sicherlich der Klassiker unter den jährlichen Abendlandgedenktagen.
Für diejenigen, die in den letzten Jahren unter einem Stein gelebt haben, hier ein kurzer Abriss: Am 12. September des Jahres 1683 schlug die kaiserlich-polnische Entsatzarmee unter der Führung des polnischen Königs Jan III. Sobieski die belagernden Osmanen unter Kara Mustafa entscheidend. Die tapferen Wiener Verteidiger unter Graf Starhemberg hatten bereits seit Mitte Juli die Stadt hartnäckig verteidigt, doch der fortschreitende Minenkrieg der Osmanen drohte das Schicksal des „Goldenen Apfels“ Wien schon bald zu besiegeln. Das Entsatzheer, in dem auch Karl V. von Lothringen eine – in der öffentlichen Wahrnehmung viel zu wenig gewürdigte – Rolle spielte, erreichte die Stadt in höchster Not. Der Ansturm der 14.000 Mann starken polnischen Hussarita, sowie 4000 weiterer Kavalleristen gilt als größter Kavallerieangriff der Geschichte und als Wendepunkt der osmanischen Expansion nach Europa (zumindest bis 1945).
Diese Rettung in höchster Not einer kaiserlichen Stadt, die auch vom Gegner als Tor zum Westen betrachtet wurde, inspirierte die Menschen seit jeher. Kaum jemand wird den entscheidenden Entsatz von Minas Tirith durch die Reiter Rohans in Tolkiens Herr der Ringe gelesen haben, ohne sich dabei an den famosen Ansturm vom Wiener Kahlenberg erinnert gefühlt zu haben. Doch wie bei so vielen Heldentaten der Vergangenheit, unterlag auch das Kahlenberggedenken zunächst einem Vergessens- und Dekonstruktionsprozess.
Polnische Erinnerungskultur trotzt Osmanen und Jakobinern und wird dennoch düpiert
Die Polen vergaßen die Bedeutung dieser Schlacht (und ihrem entscheidenden Beitrag dazu) nie, die Josefskirche am Wiener Kahlenberg wurde – nach mehrfacher Zerstörung durch Osmanen, aufgeklärte Absolutisten, sowie Jakobiner – 1906 vom polnischen Resurrektionistenorden übernommen, der nicht nur eine Gedenkplakette für Jan III. Sobieski anbrachte, sondern die Kirche und den Kahlenberg zu einem unter Polen beliebten Wallfahrtsort machte, dessen Höhepunkt der Besuch von Papst Johannes Paul II. im September 1983 (300. Gedenkjahr) war.
Im Nachkriegsösterreich ließ man die Polen lange Zeit gewähren, doch mit der Veränderung des politischen Klimas nach links, wurde auch das Gedenken der Schlacht am Kahlenberg, die nun plötzlich als anti-islamischer Aufreger in einer multikulturellen Welt galt, politisch verdächtig.
In den 2010er Jahren begann die Identitäre Bewegung Österreichs dem Kahlenberg-Gedenken neues Leben einzuhauchen. Martin Sellner & Co. organisierten Gedenkumzüge, die der linken Medienlandschaft und der Antifa ein Dorn im Auge waren. Zum Eklat kam es vor allem außenpolitisch, denn während man in Polen fleissig an einem Denkmal von Sobieski für den Kahlenberg arbeitete, beschmierte die Wiener Antifa den bereits an Ort und Stelle befindlichen Sockel mit Beschimpfungen der Identitären. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde jegliches Kahlenberggedenken zur politisch verdächtigen Tat erklärt. Der tiefrote Wiener Stadtrat erkannte die Zeichen der Zeit und erwies sich als williger Erfüllungsgehilfe der roten Stoßtrupps. 2018 beschloss die Stadt Wien, das Angebot Polens für ein Reiterdenkmal Sobieskis abzulehnen, die somit gekränkten Polen beschlossen, das Denkmal in Krakau aufzustellen. Am Wiener Kahlenberg blieb nur der leere Sockel als Mahnmal der politischen Feigheit zurück.
Identitärer Clusterfuck und unvermeidlicher Lärm
Während das polnische Gedenken sich verständlicherweise stark auf den Beitrag Sobieskis und seiner Hussarita konzentrierte, waren die identitären Gedenkfeiern von einem merkwürdigen Mix anachronistischer Symbolik geprägt. Fackelumzüge mögen zwar ein historisch omnipräsentes Phänomen gewesen sein, sind aber dennoch ein symbolisches Spiel mit dem Feuer, das vor allem herzlich wenig mit dem Entsatz Wiens im 17. Jahrhundert zu tun hat.
Und wenn dann bei der Abschlusskundgebung am Kahlenberg Rainhard Fendrichs „I am from Austria“ als sentimentaler Höhepunkt dieses Gedenkens angestimmt wird, dann beschleicht einen spätestens in diesem Moment ein unliebsames Kribbeln im Bauch, das einen zweifeln lässt, ob sich aus dieser Art des Gedenkens noch tatsächliche Resilienz gewinnen lässt, oder ob es lediglich darum geht sich mit ein wenig bittersüßer „Weißt noch? Früher!“-Nostalgie den Untergang zu beschönigen.
Schließlich gibt es unter den Kahlenberg-Gedenkern einen Typus zumindest rein äußerlich kampfeslustiger Gesellen, die sich mit dem unvermeidlichen Sabaton-Klassiker „And then the winged Hussars arrived“ in einen Zustand imaginären Kulturkampfs versetzen, mit dem sie sich zu einer ausgedachten letzten Schlacht aufputschen. Oder vielleicht auch nicht. Den Reiz dieses Lärms hat der Autor dieser Zeilen nie verstanden. Andererseits werden vor allem diese jungen Männer und Frauen „der Tat“ betonen, dass es auch noch eine weitere Kategorie gibt: Jene, die alles nur miesmachen, abgehoben sind und darum auch nie etwas verändern werden. Die Existenz dieser Kategorie, wiederum, bestreitet der Autor dieser Zeilen vehement.
Wenn Spaß zu altem Kaugummi wird
Doch da wäre auch Positives zu berichten. Dass in der modernen Internet- & Memekultur der Humor auch beim Gedenken an die Schlacht am Kahlenberg nicht zu kurz kommen darf, ist unstrittig eine der erfreulichsten Nebenerscheinungen. Dennoch wird im Laufe der Jahre immer deutlicher, dass sich die Rezeption und das Gedenken der Schlacht am Kahlenberg im Kreis drehen. Selbstverständlich müssen jährliche Gedenkfeiern nicht immer von Grund auf neu erfunden werden, denn auch der katholische Jahreskreis – um nur ein Beispiel zu nennen – bietet mit seiner streng getakteten Abfolge von Heiligenfesten einen Fixpunkt jährlich wiederkehrender, identischer Feiern. Man kann aber nicht umhin festzustellen: Die Tiefe der Erfahrung macht den Unterschied!
Hier aber droht der trotzig-identitäre Widerstand in seiner Flügelreiterromantik auf Grund zu laufen. Die immer gleichen Memes, ob nun mit ironischer Anspielung auf die heutige Migrationspolitik, oder vor Pathos triefender Flügelreiter-FanArt polnischer Provenienz, haben schon längst ihren Geschmack verloren und fühlen sich vielmehr wie alter Kaugummi an, der pflichtgetreu einmal im Jahr durchgekaut wird. Wenngleich zumindest die Memes wohl noch viele Jahre fortbestehen werden, eine tatsächlich bündelnde Kraft eines konservativen Widerstands stellen diese schon längst nicht mehr dar.
Es geht dabei aber nicht darum, diese Dinge alle abzuschaffen (außer „And then the winged Hussars arrived“, das muss auf den Müllhaufen der Geschichte), sondern um sie wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich sind: beiläufiger Spaß als Teil einer ernstzunehmenden Erinnerungskultur.
Dazu muss aber die Bedeutsamkeit des Entsatzes von Wien tiefer als bisher erarbeitet werden. Populistische Zugänglichkeit eines solchen Themas mag zwar ein Eisbrecher für Viele sein, sie nutzt sich aber auch ab, wenn nicht tiefergehend am Fundament gearbeitet wird. Es wäre falsch diese Forderung als „elitär“ oder „abgehoben“ zu bezeichnen, denn es ist wahrscheinlich die Crux unserer Zivilisation im Endstadium, dass wir in Anbetracht unserer kulturellen Richtungslosigkeit darauf angewiesen sind zu Historikern zu werden, um zumindest einem kleinen Schimmer der Kraft unserer Vorfahren wieder gewahr zu werden.
Ohne tiefergehende Beschäftigung verkommt jedes Gedenken zu Langeweile
Anstatt der Verengung des Gedenkens auf Flügelreiter, die nebenbei in keinster Weise schreiend vom Kahlenberg runterstürzten, sondern erst einmal den halben Tag vom Berg abstiegen, bevor das Gelände flach genug für einen Ansturm war, ließen sich so viele weitere Aspekte finden, die das Drama Wiens 1683 dreidimensionaler erscheinen ließen. Der Beitrag Karls V. von Lothringen, zum Beispiel, wird fast nie thematisiert, ebenso wenig die harte, aber heldenhafte Führung der Verteidiger Wiens durch Graf von Starhemberg, oder die Rolle von Marco d’Aviano. Es ließen sich zahlreiche Blickwinkel auf das Kahlenberggedenken finden, die dieses frischer und lebendiger wirken lassen würden, als nur das verpflichtende Abspulen von Memes an jedem 12. September.
Zu guter Letzt, es mag manchem Leser wiederum „abgehoben“ und „elitär“ erscheinen, ließe sich der Sache auch kulturell begegnen. Johann Caspar Kerll, geboren in den Wirren des 30-jährigen Krieges im Vogtland, hatte sich nach schwerer Kindheit emporgearbeitet bis zu einem der Wiener Hoforganisten unter Leopold I. Doch bereits 1682 traf ihn das Schicksal schwer: Als die Pest in Wien ausbrach, verließ Kerll als Teil des Hofstaats von Leopold die Stadt, bei seiner Rückkehr fand er seine Frau unter den Opfern des Schwarzen Todes. Als ein Jahr später die Türken auf Wien marschierten, verließ er die Stadt diesmal nicht. Sein Freund und ebenfalls Hoforganist Alessandro Poglietti flüchtete mit seiner Familie aus der Stadt und wurde von marodierenden Tataren erschlagen, seine Kinder in die Sklaverei verkauft. Am Zenit seines Schaffens widmete sich Kerll nicht mehr der Musik für den Kaiser, sondern verteidigte die belagerte Stadt, um sein und das Leben seiner Kinder zu retten.
Noch während der Feierlichkeiten zur Befreiung Wiens schrieb Kerll eine neue Messe, die „Missa in fletu solatium obsidionis Viennensis“, also die Messe „zum Trost in der Wehklage des belagerten Wiens“. Sie ist Kerlls persönliche Aufarbeitung der Entbehrungen dieser Zeit, die er allesamt am eigenen Leibe erfahren hatte. Doch das Werk ist nicht nur geprägt von Trauer und Dramatik, sondern auch von Hoffnung und Schönheit. Weder verfällt Kerll dabei in plakativen Jubel ob der Befreiung, noch in zornigen Trotz gegen den Feind. Sie ist geprägt von einer Tiefe des Erlebens, einem dunklen Chiaroscuro, das vom goldenen Schein der Darmsaiten der begleitenden Gamben durchdrungen wird. In ihr finden wir die Tiefe eines ganzen Lebens, ja einer ganzen Kultur, die ohne ihren Glauben auch nicht denkbar war. In ihr finden wir die Lebenswelt der Menschen, die tatsächlich Wien verteidigten und dies erfolgreich taten. Vielleicht ist es an uns, dort zu graben, wo wir echte Tiefe finden können, in der Hoffnung dabei auf eine Quelle zu stoßen, die uns nachhaltiger speist, als der alte Kaugummi von Austropop, Fackelumzügen und Flügelreiter-Memes. Von “And then the winged hussars arrived” ganz zu schweigen …