Mick Jagger geht auf die Straße. Am 17. März 1968. Er demonstriert mit zigtausend anderen gegen den Vietnamkrieg. Was man halt so macht an einem Sonntag in London – im Jahr 1968. Da entdeckt ihn die Menge. Sie skandiert seinen Namen. Die Masse will, dass er sie anführt. Das passt. Jagger ist in diesen Tagen das Gesicht der Rebellion. Die Idee der Rebellion. Da ist es doch nur logisch, wenn er sie anführt.
Doch Jagger verweigert sich. Zu schüchtern ist er für die Führerrolle. Das mag absurd erscheinen für einen Mann, der vor noch viel größeren Mengen singt. Aber eigentlich ist schüchtern auch nicht das richtige Wort. Es ist die Rolle, die ihm nicht passt. Weil er zwar die Rebellion liebt und zelebriert, den Umsturz aber gar nicht will. Warum auch? Kaum einem geht es in diesen Tagen so gut wie ihm.
Mick Jagger wird am 26. Juli 1943 in die englische Mittelschicht geboren. Der Vater sorgt als Sportlehrer und Fitnessexperte für genug Geld, die Mutter sorgt sich um die musische Erziehung der Kinder. Als er alt genug ist, schicken sie ihren Sohn Michael Philip auf die Eliteschule LSE, wo er einen Abschluss in Wirtschaft machen soll. Als er auf dem Weg dorthin ist, kommt er mit Keith Richards ins Gespräch. Beide kennen sich flüchtig aus ihrem Heimatort Dartford; was sie ins Gespräch kommen lässt, sind Platten, die sich der Elite-Schüler aus den USA hat schicken lassen.
Es sind Platten schwarzer Blues-Musiker. Zwar hat der Siegeszug des Rocks längst Europa erreicht. Doch das ist der Rock der weißen Männer wie Bill Haley oder Elvis Presley. Die schwarze Herkunft der Musik gilt auf dem alten Kontinent noch als Tabu – auf dem neuen Kontinent übrigens auch. Zumindest unter den Weißen.
Jagger und Richards gehen gemeinsam den Weg von Schülerband über erste Auftritte bis zum Versuch, sich zu professionalisieren. Die Rolling Stones entstehen. Doch deren Star ist damals noch Brian Jones. Aber bis dahin tritt eine Coverband auf, die nur die Stücke anderer Musiker spielt. Wollen sie Erfolg, müssen sie eigene Songs schreiben – und das können Jagger und Richards so gut wie kaum jemand anderes in Europa. Jetzt rücken sie in den Mittelpunkt.
Neben Richards heißt der entscheidende Mann in Jaggers Leben Andrew Loog Oldham. Der hat für Brian Epstein gearbeitet, den Entdecker und Manager der Beatles. Als Manager schreibt er sich das Recht in den Vertrag, das Image der Stones bestimmen zu dürfen. Brave Jungs im Anzug ist als Konzept bereits vergeben. Das sind in den frühen 60er Jahren die Beatles. Also ziehen sich die Stones wild an und treten noch wilder auf. Es sollte das Image werden, das ebenso passend wie stilprägend für die späten 60er Jahre wird.
Die Stones tun, was sie können, um dieses Image zu festigen: Skandalöse Konzerte wie in Berlin, die dazu führen, dass die Waldbühne über Jahre geschlossen wird und mit dessen Bildern die SED-Führung im Osten ihre Jugend vor dem Westen warnt. Zerlegte Hotelzimmer, Verhaftungen wegen Drogenbesitz und Songs mit Namen wie „Satisfaction“, „Let’s spend the night together“ oder „Sympathy for the devil“. Für Eltern singt Jagger nicht über den Teufel – er ist es persönlich. Für ihre Kinder wird er zum Vorbild. Jungen verweigern den Haarschnitt, bis sich auch Jagger die Haare schneiden lässt. Er ist die Rebellion. Die kleine des 15-Jährigen, der gegen seine Eltern aufbegehrt. Aber auch die große einer geburtenstarken Generation, die nun ihren eigenen Platz in der Gesellschaft beansprucht.
Jagger macht das mit. Warum auch nicht? Die Rebellion ist Party. Mit viel Musik, Sex und Drogen. Wobei Jagger auf der Gewinnerseite steht. Wo er hinkommt, wird er gefeiert. Frauen kämpfen darum, mit ihm ins Bett gehen zu dürfen – Männer auch. Die Musik macht ihn reicher, als es ein LSE-Abschluss jemals vermocht hätte. Aber jetzt soll er eine Demonstration anführen, politische Veränderungen herbeiführen, das System abschaffen, auf dem sein persönlicher Wohlstand beruht? Jagger sagt nein.
Stattdessen schreibt er einen Song: Street Fighting Man. Er veralbert die allgegenwärtige Protestkultur: „Cause summer′s here and the time is right for fighting in the street, boy“. Ja, es ist Sommer, da geht man halt auf die Straße und „kämpft“. Ein bisschen, was soll man auch sonst machen. Aber eine Rebellion? Also eine echte, mit Konsequenzen: „But what can a poor boy do / Except to sing for a rock ’n‘ roll band / ′Cause in sleepy London town / There′s just no place for a street fighting man, no.“ Was auf Deutsch so viel heißt wie: Statt Revolutionär bleibe ich lieber Sänger, Euch noch viel Spaß mit der Rebellion, aber macht mir den Kapitalismus nicht kaputt, den brauch’ ich noch.
Die 60er enden. Die Rebellion geht so schnell, wie sie gekommen ist. Nun folgt auch ein Umbruch für die Rolling Stones: Jones verlässt die Band und stirbt kurz darauf. Jagger und Richards haben mit Drogenproblemen zu kämpfen. Und am 6. Dezember 1969 stirbt ein Fan während eines Konzerts in Kalifornien. Ein Ordner von den Hells Angels ersticht ihn. Darauf bricht ein Tumult aus, drei weitere Menschen kommen ums Leben.
Die Stones machen eine kleine Pause. Dann kommen sie zurück. Besser denn je. In den 70er Jahren haben sie sich vom Zeitgeist abgekoppelt. Jetzt nehmen sie die besten Alben ihrer Geschichte auf: „Sticky Finger“, Exile on Main St.“ oder „It’s only Rock’n Roll“. Die Stones sind jetzt so bluesig, so schwarz, wie es Jagger und Richards von Anfang an sein wollten.
In den 80er Jahren droht die Band zu zerfallen. Jagger und Richards machen Soloprojekte, streiten sich öffentlich. Am Ende des Jahrzehnts kommen sie aber wieder zusammen. Ohne ihre Gemütslage groß zu erklären. Das übernimmt ein Song für sie: „You’re not the only one with Mixed Emotions“. Von nun an strömen immer mehr Fans in ihre Konzerte. Es könnte ja das letzte sein. Immer und immer und immer wieder.
Wobei Jagger und Richards auch im hohen Alter noch eine gute Figur auf der Bühne abgeben. Jetzt, mit 80 Jahren, da er sein Bad-Boy-Image immer weniger braucht, räumt Jagger in Interviews auch schon mal ein, dass er viel gesünder lebt, als er es bisher zugibt. Bliebe noch ein Thema. Der Sex. Nicht wegen der acht Kinder, die Jagger anerkannt hat. Sondern wegen des Sexsymbols, als das er immer galt. Wobei da schon mehr dran ist, als an dem Image des Rebellen.
Eigentlich hat Jagger äußerlich nichts, was ihn damals als prädestiniert für diese Rolle erscheinen lässt: zu klein, zu schmächtig, zu große Ohren und dann diese dicken Lippen. Auch steht sein Kleidungsstil nicht unbedingt im Lexikon als sicherer Weg zu sexy Auftreten. Wie er etwa in hautengen Gymnastikanzügen durch das Video von „Start me up“ turnt, würde bei anderen eher gruselig wirken.
Doch Jagger hat etwas, das sich nicht erklären lässt – und schon gar nicht kaufen oder erarbeiten: Charisma. Und Selbstbewusstsein. Charisma und Selbstbewusstsein sind eine unschlagbare Kombination. Hätte sich der 25 Jahre alte Jagger eine Mülltonne um die nackten Hüften nieten lassen, wären später die anderen auch so rumgelaufen. Und würde er es heute tun, würden seine Fans auch gelassen reagieren: Ist halt der Mick.