Tichys Einblick
Anachronistische Musikhochschulen

Götterdämmerung der Klassik

Skandale um Machtmissbrauch, schließende Institute, unzeitgemäße Lehrpläne: Die harte Realität einer Welt, in der die klassische Musik eine immer geringere Bedeutung spielt, erreicht – nachdem Absolventen schon vor Jahren mit ihr konfrontiert wurden – nun auch die deutschen Hochschulen. Veränderung tut not, aber fehlt der Mut zum radikalen Umdenken?

picture alliance / Sipa USA | Jaap Arriens

Unter den vielen wegbrechenden Gewissheiten unserer Zeit erscheint der Verlust der Bedeutung der sogenannten klassischen Musik im Bildungskanon zwar bedauerlich, aber nicht wirklich prioritär. Dieser Prozess ist aber nicht erst seit der Ampel und noch nicht einmal seit Angela Merkel im Gange, er begann im Endeffekt bereits nach dem Ende des Krieges, als die Musikkultur zunehmend bewahrend wurde und sich schon früh in ein Rückzugsgefecht gegen die Populärmusik begab.

Der Prozess ging dabei so langsam vonstatten, dass noch bis in die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts Stardirigenten wie Herbert von Karajan und Leonard Bernstein Haushaltsnamen waren. Dass deren, im Vergleich zur ausgeführten Musik, disproportionale Inszenierung bereits ein Zeichen des Niedergangs war – geschenkt. Die Welt schien heil, so wie ein Haus, dessen Fundament zwar bröckelt, das aber mit einem hübschen Fassadenanstrich versehen wurde.

Doch die vielen Zeitenwenden der letzten 10 Jahre haben für einen fast schon stromschnellenartigen Umbau der Gesellschaft gesorgt, sodass wer unbedacht den Blick schweifen lässt und sich fragt, in welchem Zustand sich die klassische Musikkultur denn befindet, mit Schrecken feststellt, dass sich deren gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit mittlerweile nicht länger verleugnen lässt.

„Machtmissbrauch“ ist das neue #MeToo

Während die Konzert- und Veranstaltungsbranche traditionell für ihre Verschwiegenheit bekannt ist, dringen in den letzten Tagen und Wochen die Hiobsbotschaften vor allem aus den Ausbildungsinstitutionen. Nachdem eine Studie bereits im Frühjahr von strukturellem „Machtmissbrauch“ an den Musikhochschulen Deutschlands berichtete, wurden nun solche Klagen auch wieder ganz konkret laut – diesmal aus der Musikhochschule in Dresden. Studenten berichten davon, Angst vor dem Unterricht zu haben, sich wertlos zu fühlen und sowohl verbal, als auch in manchen Fällen körperlich missbraucht zu werden.

Allerdings muss man dazu sagen: Die Anschuldigungen sind – vor allem was den körperlichen und möglichen sexuellen Missbrauch angeht – noch relativ vage, was natürlich auch in der Anonymität der Beschwerdeführer begründet liegt. So behauptet eine Studentin, es sei „Usus, dass man Körper kommentieren darf“, ebenso wie die Tatsache, dass „man Leute anfasst, ohne zu fragen“. Es sei „klar, dass da Übergriffigkeiten stattfinden“, ebenso wie „rassistische Dinge“.

Die Studentin ging sogar so weit zu behaupten, man müsse als Studentin „bereit sein, alles zu tun“, eine äußerst schwerwiegende Anschuldigung, auch wenn diese nur implizit ausgesprochen wurde.

Die Neuordnung hierarchischer Strukturen

Grundlage für all diese Kritik ist das vielzitierte Naheverhältnis von Professoren und Studenten an Musikhochschulen. Dabei galt gerade diese lange Zeit als eine der Stärken des Ausbildungssystems. Anstatt in der Anonymität eines riesigen Hörsaals unterzugehen, bekommen Musikstudenten Einzelunterricht mit renommierten Meistern ihres Fachs. Dass Studenten dies über lange Zeit zu schätzen wussten, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass kaum ein Musiker in seinem Lebenslauf schreibt, an welcher Universität er studiert hat, wohl aber bei welchen Professoren.

Für die Qualität der Ausbildung ist dieser Einzelunterricht von unschätzbarem Wert. Dass er aber auch Schattenseiten hat, ist nicht erst seit den neuesten Berichten bekannt, sondern ein hinlänglich bekanntes offenes Geheimnis. Schon seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten, sind unschickliche Beziehungen zwischen Professoren und Studenten ein bekanntes Phänomen. Diese allerdings auf einseitigen Machtmissbrauch durch die Autoritätsperson zu reduzieren, stellt eine drastische Vereinfachung der Dynamiken dar, die seit der #Metoo-Debatte vor einigen Jahren zum Standard wurde.

Nicht nur, dass Machtgefälle sich gerade in der Sexualität ganz anders darstellen können, als in rein professionellen Beziehungen, die binäre Täter-Opfer-Unterteilung lässt außen vor, dass tatsächlich viele Studenten (beider Geschlechter) solche Beziehungen oft mehr wie bereitwillig eingehen und dabei manchmal sogar ein bewusstes Karrierekalkül mitschwingt. Besonders trendaffine Musiker springen da schon mal auf den Zug auf und widmen schnell ihr Diplomprüfungsprogramm zur Mahnwache gegen Machtmissbrauch um und werden dafür mit medialer Aufmerksamkeit belohnt.

Denn eines ist deutlich: In der Musikwelt wird mit harten Bandagen gekämpft. Wer Karriere machen möchte, benötigt im gegenwärtigen System, in dem ein Überangebot auf höchstem Niveau ausgebildeter Musiker auf eine schwindende Marktnische trifft, vor allem Vitamin B – persönliche Beziehungen – oder eine politische Botschaft. Idealerweise beides.

Politisierung als letzter Strohhalm eines Marktes am Existenzlimit

Gerade die Politisierung der Kunst ist für viele Künstler in der Klassikszene der letzte Strohhalm. Aufgrund des „klassischen“ Sujets, also der Interpretation oftmals jahrhundertealter Musik, befinden sich klassische Musiker ohnehin im Nachteil gegenüber ihren Kollegen der zeitgenössischen Kunst, die sich frei von irgendwelchen ästhetischen Zwängen rein der politischen Botschaft hingeben kann.

So bleibt vielen Musikern nur die Brechstange, mit der Beethoven, Schumann & Co. irgendwie relevant gemacht werden sollen für die an Klassik vollkommen desinteressierte Wokeria. In manchen Fällen, wie bei einem Schweizer Duo, geben die Künstler selbst zu, dass ihre politische Gesinnung es ihnen erschwert, klassische Musik noch zu genießen, da die Texte der Lieder dermaßen sexistisch und überholt seien, dass das Singen eigentlich keine Freude mehr mache.

Aber gut: Wenn man nach 20 Jahren Ausbildung zu dieser Schlussfolgerung kommt und sonst keine Talente aufzuweisen hat, ist es nachvollziehbar, dass man die Flucht nach vorne – sprich: ins Politische – sucht. So werden die klassischen Werke der Vergangenheit bereits seit geraumer Zeit umgedichtet und umgeschrieben, um zumindest kurzfristig Aufmerksamkeit zu generieren und wieder ein paar Monate über die Runden zu kommen.

Denn das täglich Brot als Musiker ist alles andere als rosig. Laut Künstlersozialkasse liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen freischaffender Musiker bei circa 16.000 Euro. Wohlgemerkt bei einem Studiengang, der meist bereits ab der Kindheit jahrelanges Training voraussetzt und der auch im Studium Spitzenleistungen vergleichbar mit denen von Topsportlern abverlangen kann.

Musikhochschulen reagieren auf die Realität wie Denethor auf die Armeen Mordors

Nachdem Künstler und Kunstmarkt über Jahre hinweg die Vogel Strauß Politik des Kopfs im Sand betrieben haben, entpuppen sie sich nun zunehmend als wirtschaftliche schwarze Schwäne. Corona war der erste Kahlschlag in der Branche, der vielen Musikern am Existenzlimit den Garaus machte. Doch die große Erholung setzte nie ein. Krieg und Energiekrise sorgen dafür, dass die Gürtel eng geschnallt bleiben. Zunehmend erreichen diese Effekte nun auch Orchester, Ensembles und Hochschulen, wie zuletzt in Weimar, wo die Schließung des Instituts für Alte Musik beschlossen wurde.

Dass parallel dazu die Abteilung für musikwissenschaftliche Genderforschung erhalten blieb, zeigt nur, dass auf dem Weg aggressiver Politisierung noch immer Geld zu verdienen ist, zumindest aus der öffentlichen Hand. Für all jene, die entweder das falsche Geschlecht, die falsche Hautfarbe, oder gar die falsche Gesinnung haben, bleibt meist nur ein steiniger Weg der Findung einer eigenen Nische, oftmals Jahre nach der Ernüchterung nach bestandenem Abschluss, der einen nicht wirklich auf die beruflichen Realitäten vorbereitet hat.

In Weimar möchte man deshalb nun Studiengänge wie Kulturmanagement, aber auch wie Musiktherapie ausbauen, da es genau diese Schnittflächen sind, an denen Musiker heutzutage abseits vom Privatunterricht noch ein Auskommen finden können und in denen ihre Expertise zumindest teilweise von Relevanz ist.

Die Hochschule in Frankfurt ging einen ähnlichen Schritt und bietet Studenten ab dem kommenden Semester Schwerpunktsetzungen an, bei denen Studenten sich je nach beruflichem Interesse auf Kammermusik, historische Aufführungspraxis, Pädagogik oder Korrepetition spezialisieren können. Die Berufsbilder seien sehr viel diverser geworden, zitiert die FAZ den für die Umstrukturierung verantwortlichen Klavierprofessor, der bestätigt, dass viele Absolventen nach dem „Patchworkprinzip“ arbeiten. Patchworkprinzip ist dabei die neudeutsche Verniedlichung von „von der Hand in den Mund leben“, oder von „spiele Noten für Nahrung“. Denn feste Anstellungen sind selbst am klassischen Auffangbecken enttäuschter Karrieremusiker, der Musikschule, schon fast unmöglich geworden.

Das notwendige Hinterfragen des Hochschulwesens

Eine solche Initiative erscheint dabei ebenso löblich wie überfällig, doch ist auch dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Bereits seit vielen Jahren werden in europäischen Hochschulkreisen Programme wie „Educating for Entrepreneurship“ („Ausbilden für die Selbstständigkeit“) vorangetrieben und bieten entsprechend praxisorientiertere Studiengänge an, die vor allem im englischsprachigen und skandinavischen Raum weit verbreitet sind. Andere Teile Europas, darunter auch Deutschland, hängen in diesen Entwicklungen oft um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher.

Doch selbst dieses „Ausbilden für die Selbstständigkeit“ stellt im Endeffekt nur eine verspätete Anpassung an die bereits existierenden Lebensrealitäten dar, lässt Musiker aber nicht wirklich in die Vorhand kommen. Denn dazu bräuchte es tatsächlich eine Öffnung des Hochschulraums zur Welt. Die vermeintlichen Spezialisierungen sollten nicht den Masterstudiengängen vorbehalten bleiben, sondern vielmehr von allen Studenten bereits in den ersten Jahren ihres Studiums durchlaufen werden.

Eine wirkliche Spezialisierung würde aber bedeuten, dass die Hochschulen Kompetenzen abtreten müssten. Bei der Vielzahl von Nischen, die das Resultat des auseinander brechenden Marktes sind, beruft man sich in Hochschulen oft darauf, dass man unmöglich alles abdecken könne. Damit wiederum rechtfertigt man, dass die Wahlfächer in Masterstudiengängen oft mehr in die Kategorie „gut gemeint“ fallen und sich bei genauerem Hinsehen als Notlösung basierend auf den Nebeninteressen des Lehrpersonals entpuppen, anstatt den Studenten wirkliche Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.

Die Zeiten der Hochschulen als Gipfel der Ausbildung, sowie als Garant für eine berufliche Zukunft, sind vorbei und müssen notgedrungen dazu führen, dass die Musikerausbildungen sich wieder vermehrt an älteren Modellen aus dem 18. Jahrhundert und davor orientieren, als der Beruf des Musikers eher als praxisnahes Handwerk, denn als akademisches Studium vermittelt wurde. Dazu müssten Hochschulen aber von ihrem akademischen Podest herabsteigen und Kooperationen mit externen Institutionen schließen, die es Studenten ermöglichen, ihre individuellen Kompetenzen bei wirklichen Fachleuten außerhalb der Hochschule zu erlernen und dies offiziell in ihr Studium mit einfließen lassen zu können.

Solch ein Modell aber würde das Hochschulwesen als Krone der pädagogischen Schöpfung hinterfragen, weshalb es wohl nie umgesetzt wird. Solange Musikhochschulen diesen Schritt nicht wagen, werden Initiativen zur Ausbildung für die Selbstständigkeit immer nur ein dünnes Feigenblatt bleiben, mit dem die Ohnmacht angesichts des sich so rasant verändernden Klassikmarktes kaschiert werden soll. Den Rest erledigt dann der unerbittliche Gang der Geschichte.

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