Wer an Tirol denkt, dem fallen hohe Berge, Schnee und Skirennen ein. Im Sommer vielleicht noch ein Bad im Inn. Aber niemand kommt selbst bei drängenden Nachfragen darauf, dass am Fuße des Kranzhorns mit Sicht auf verschneite Berge die Ouvertüre zum dramatischen Gedicht „Manfred“ op. 115 von Robert Schumann in höchster Qualität angeboten wird. Zur Belohnung wird auch noch die Symphonie Nr. 1 B-Dur „Frühlingssymphonie“ op. 38 nachgereicht.
Wo Erl liegt? Dort, wo Tirol einen tiefen Keil ins bayerische Oberland hineingebohrt hat. Der Habsburger Kaiser Maximilian hat 1504 die Causa Erl den Gerichten Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg zugeschlagen. Natürlich unter Beschlagnahme von 27 Quadratkilometer Landes. Die bayerischen Bauern haben bis 1809 versucht, daran noch etwas zu ändern. Dabei hat man sich gegenseitig Kirchen und hölzerne Innbrücken angezündet. Geholfen hat es nichts. Alles vergessen und vergeben. Heute lädt Tirol Bayern und die Welt zu hochwertigen Musik-Festspielen ein. Und das ist gut so.
Da steht zwischen fetten, grünen Wiesen ein Festspielhaus wie aus dem Ei gepellt und daneben noch ein Passionsspielhaus, von denen Metropolen weltweit nur träumen können. Eine Freitreppe führt hinauf ins weißgetünchte großräumige Foyer, in dem man sich vom ersten Moment an zu Hause fühlt. Obwohl das Haus stolze 862 Sitzplätze aufweist, wirkt alles familiär. Männer tragen Janker, Frauen haben Dirndlschmuck angelegt. Das Personal bietet rundum unauffällig-unaufdringlich einen Wohlfühl-Service an. Gibt es auf dieser Welt überhaupt Probleme? Wenn ja, an diesem Abend sind sie ganz weit weg.
Und dann betritt man den Konzertsaal. Holzgetäfelt, soweit das Auge reicht, die weiträumige Bühne in ein warmweiches Licht getaucht, der Zuschauerraum angenehm abgedunkelt mit guter Sicht und einer bequemen Bestuhlung in dezentem Blau. Auf der 450 Quadratmeter-Bühne wärmen sie sich schon kakophon auf, die Geiger, Cellisten, Bassisten, dahinter die Bläser und – wie es sich für ein klassisches Orchester gehört: Den Hintergrund runden die Pauken und Trompeten ab. Der Mann auf dem Hocker an der Triangel neben den Pauken darf nicht fehlen, auch wenn er an diesem Abend mehr genießender Beobachter als aktiver Musiker ist.
Woher kommen diese Interpreten in einen Ort mit 1.604 Einwohnern und 69 landwirtschaftlichen Betrieben? Das Programmheft spricht von einem „motivierten und excellent vorbereiteten Ensemble, das sich aus 20 Nationen“ zusammensetzt. Erl übt offensichtlich große Anziehungskraft aus und das schon seit 1997. Die Erwartungen sind hoch und werden nicht enttäuscht.
Dann kommt er mit federnden Schritten: Johannes Debus, der Dirigent, der hauptberuflich musikalischer Direktor der „Canadian Opera Company“ in Toronto ist. Er hebt den Taktstock und hat Musik und Musiker ebenso harmonisch wie fest im Griff. Das Programmheft erzählt eine düstere Geschichte von einem Manfred, der sich von einem Fluch verfolgt sieht. An diesem Abend erfüllt eine Ouvertüre, die der späte Robert Schumann mit 38 Jahren aufs Notenblatt gezaubert hat, melodisch freundlich einen Konzertsaal mit einer außergewöhnlichen Klangqualität. Die Musik nimmt einen mit und lässt den Zuhörer nicht mehr los, bis der 50-jährige in Speyer gebürtige Dirigent kraftvoll abwinkt.
Der Höhepunkt naht. Er hat sich durch einen Flügel auf der Bühne angekündigt und hat einen Namen: Lukas Geniušas, 33 Jahre jung, in Moskau geboren, personifiziert er die dritte Generation Pianisten. Geniušas Vater ist der litauische Pianist Petras Geniušas, seine Mutter Ksenija Knorre ist Professorin am Moskauer Konservatorium. Seine Großmutter war die russische Pianistin Wera Wassiljewna Gornostajewa.
Im Kopf hat er drei Sätze des Klavierkonzerts Nr. 1 e-Moll op. 11 von Frederic Chopin, die seine Hände in mehreren Emotionsstufen über die Tastatur gleiten lassen. Dabei entlockt er dem ausladenden Instrument Klänge, die man so nur sehr selten zu hören bekommt. Er lässt sein Erler Publikum an diesem Abend an seiner Virtuosität großzügig teilhaben. Nach dem unter die Haut gehenden Rondo Vivace im 3. Satz weiß man, warum er als 13-Jähriger den ersten Preis beim Ersten Pianowettbewerb der Zentralen Musikschule in Moskau gewonnen hat und neun Jahre später den ersten Preis beim Internationalen Deutschen Pianisten-Wettbewerb in Frankfurt am Main in Empfang nehmen durfte.
Das Publikum verabschiedet ihn in den hochverdienten Feierabend erst nach einer Zulage und auch danach will der Applaus nicht abreißen. Das Gleiche gilt für Johannes Debus. Es ist nicht bekannt, ob Frederic Chopin jemals in Tirol war. Aber er hätte an Lukas Geniušas, am Orchester der Tiroler Festspiele und an der Atmosphäre im Festspielhaus seine Freude gehabt. Auf Wiedersehen Erl. Wir kommen bestimmt wieder.