An einem Donnerstagabend entlud sich der Mob gegen Flüchtlinge in Clausnitz im Erzgebirge. Sprechchöre, ein Schneeball klatschte gegen die Busscheiben. Die Sensationsmeldungen schafften es bequem in die Samstagausgaben der Tagespresse. An einem Donnerstagabend in Köln richtete sich der Pöbel gegen die eigene Bevölkerung. Spießrutenlaufen, Vergewaltigung, Raub. Da wurde überwiegend erst am darauffolgenden Dienstag mit vielen Fragezeichen versehen berichtet. Hat die Presse nichts dazu gelernt?
Dazu passt, dass der Deutsche Presserat jüngst einen bemerkenswerten Spruch gefällt hat. Er sieht in der zu späten Berichterstattung über die monströsen Vorgänge in der Kölner Silvesternacht keinen Verstoß gegen den Pressekodex. Damit bekommt der mediale Supergau noch im Nachhinein Absolution von allerhöchster journalistischer Schiedsstelle. Das mutet wie ein Persilschein für unterlassene Berichterstattung an, buchhalterisch vielleicht sauber, aber ethisch nicht wirklich rein.
Persilschein vom Presserat
Zur Erinnerung: die skandalösen Ereignisse auf der Kölner Domplatte, in Hamburg, Bielefeld und anderen deutschen Städten gingen als „Schande von Köln“ um die Welt und fanden sogar im amerikanischen Präsidentschafts-Vorwahlkampf negative Beachtung. Insgesamt summierten sich die Anzeigen auf weit über 1.000 Einzelfälle, in denen junge Frauen beklaut, begrabscht, penetriert und sogar vergewaltigt wurden. Auch eine Polizistin in Zivil befand sich unter den Opfern.
Obwohl sich Ausmaß und Relevanz der Delikte bereits am Neujahrstag (Freitag) abzeichneten, berichteten viele deutsche Printmedien erst vier bzw. fünf Tage später darüber. Das lag zum einen, wie man heute weiß, an der politisch gewollten Vertuschungspolitik der Polizeiführung, zum anderen am unverständlich langen Zögern der Medien, über unbequeme Begleiterscheinungen der Berliner Flüchtlingspolitik offen und unverzüglich zu berichten. Bei den Öffentlich-Rechtlichen schoss das ZDF den Vogel ab. Der Sender hatte zwar schon Anfang Dezember einen arabischsprechenden Kanal für Flüchtlinge eingerichtet, war aber in Sachen Köln für die deutschen Gebührenzahler peinlich lange nicht auf Sendung. Man sah sich genötigt, sich für diese „Fehlentscheidung“ offiziell zu entschuldigen.
Die Rückbesinnung ist nötig, um den Spruch des Presserates anderthalb Monate nach Köln im Lichte der gesicherten Erkenntnisse gebührend zu gewichten.
Die Beschwerde kam scheinbar unkompliziert daher: „Zu späte Berichterstattung über die Kölner Vorgänge in der Silvesternacht in Köln“ lautete der Vorwurf gegen eine Tageszeitung. Dahinter verbarg sich die (ungestellte) Frage des „Warum?“. Vom Presserat zu lösen waren also zwei Aufgaben: 1. Liegt eine zu späte Berichterstattung vor? 2. Wenn ja, woran lag der Verzögerungsmodus?
Anzunehmen, dass der Presserat einen peinlichen Präzedenzfall witterte. Er umschiffte die erste Klippe, indem er im Pressekodex expressis verbis keinen Prüfungsansatz für „zu späte Berichterstattung = Aktualität“ finden konnte. Eine presseethische Pflicht zur Berichterstattung sieht der Kodex nicht vor, teilte er mit. Ersatzweise machte er Ziffer 2 „Sorgfalt“ zur Prüfungsgrundlage, mit negativem Ergebnis. Insofern hatte sich auch Frage 2 erledigt.
Doch in der nachfolgenden Begründung unterlief den Gralshütern der Pressefreiheit eine fragwürdige Formulierung: „Es darf davon ausgegangen werden, dass aufgrund der Konkurrenzsituation im Nachrichtenmarkt jede Zeitung ein ökonomisches Eigeninteresse daran hat, den eigenen Lesern die für sie relevanten Nachrichten möglichst zeitnah zu präsentieren“, resümierte das oberste journalistische Schiedsorgan.
Der Presserat ist nicht zu kurz, sondern voll daneben gesprungen.
Fast scheint es, als hätten sich die Teilnehmer der Beschwerdekommission vor der Sitzung von Billy Wilders Reporterkomödie „Extrablatt“ inspirieren lassen, um am filmischen Beispiel einer Presse außer Rand und Band Aktualität und Ökonomie in Einklang zu bringen. Besser hätten sie daran getan, den Beistand des Heiligen Franz von Sales zu erbitten, des Schutzheiligen der katholischen Presse. Der hätte sie vermutlich vor kruden Argumenten bewahrt.
Denn, bitteschön: Stellt der Presserat die Aktualität der Tagespresse marktwirtschaftlichen Gesetzen anheim? Ist schnellstmögliche Information eine Frage von Aktienkursen? Geht Sparsamkeit vor nachrichtlicher Notwendigkeit? Wenn dem so wäre, heißt das: Geld geht vor Wahrhaftigkeit. Hatten viele Zeitungen nach Silvester keine Lust, Geld zu verdienen?
Man hat die Wahl: Entweder war Köln nicht profitabel genug oder eine falsche Toleranz vor straffälligen Zuwanderern, Angst und Trotz, den „Rechten“ nicht in die Hände spielen zu wollen, wirkten wie Bremsklötze für eine zügige Nachrichtenübermittlung.
Rekapitulieren wir. Zu späte Berichterstattung = Aktualität stehen als Prüfkriterien nicht im Pressekodex und sind ergo nicht sanktionsfähig, darf man den Presserat interpretieren. Muss aber auch nicht im Kodex stehen, lautet das Gegenargument, denn Aktualität ist systemimmanenter Bestandteil einer Zeitung. Der Publikationswissenschaftler Dovifat nennt Aktualität als das wesentlichste von vier klassischen Merkmalen einer professionellen Tageszeitung, neben Publizität (Zugänglichkeit für Leser), Periodizität (regelmäßiges Erscheinen) und Universalität (inhaltliche Vielfalt). Der Experte versteht unter Aktualität die schnellstmögliche Vermittlung jüngsten Gegenwartsgeschehens.
Aktualität ist deshalb kein ökonomischer Gunsterweis der Anzeigenabteilung, sondern presseethische Pflicht der Redaktion. Wer eine Nachricht aus rein pekuniären Gründen verzögert, gräbt an der eigenen Glaubwürdigkeit und der der gesamten Presse. Pressefreiheit geht anders. Aktualität gehört zur Zeitung wie das Amen zur Kirche, der Treibstoff zum Auto. Aktualität steht deshalb nicht im Pressekodex, weil sie fleischgewordene Zeitung ist. Deshalb hätte sich der Presserat wohl oder übel zu einer Kritik aufraffen müssen. Es fehlt am Schamkodex.
Der Presserat hat auch übersehen, dass Aktualität messbar ist, nämlich die Zeit vom Ereignis bis zur Erscheinungsweise der Meldung. Köln stellt in der Publizistik insofern einen seltenen Fall dar, weil er nahezu mathematisch-rechnerisch einzuordnen und beweisbar ist.
Die „Spätzünder“ in der deutschen Presse können sich deshalb schwerlich darauf berufen, dass Relevanz und Ausmaß der Vorgänge lange nicht erkennbar gewesen seien. Schon ab dem Neujahrstag Mittag (Freitag) veröffentlichten Kölner Zeitungen erste Meldungen über sexuelle Übergriffe, hat das ARD-Magazin „Hart aber fair“ ermittelt. Am 2. Januar (Samstag) um 18.07 Uhr brachte die Deutsche Presseagentur eine erste Meldung über „Übergriffe“. Bild und WDR sprachen am 3. Januar (Sonntag) von „Sexüberfällen“ und „40 Tätern“.
Selbst unter Berücksichtigung der anfangs bewusst falschen und beschönigenden Presseberichte der Kölner Polizei („Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich“) und der Feiertagssituation hätten die Medien ausreichend Zeit gehabt, Recherchen anzustellen und zeitnah zu berichten. Doch selbst das reichte vielen nicht aus, um am Montag (4.1.) zu informieren. Erst am Dienstag (5.1.) stiegen die meisten überregionalen Leitmedien ein, um auch dann noch verhalten und „versteckt“ über das Kölner Drama zu informieren.
Aktualität unter Ökonomie-Vorbehalt?
Zu den wohl dümmsten Ausreden gehörte, dass die Redaktionen über Neujahr chronisch schwach besetzt seien. Das klingt, als würde der Volontär den Chefredakteur vertreten und die Pressefreiheit auf verdientem Urlaub sein. Also doch eine Frage der Ökonomie?
Was der Presserat bei seinem Spruch völlig ausblendet, ist der Zusammenhang mit Köln. Hier ging es nicht um nachrangiges Geschehen, sondern um bisher beispielslose massenhafte Übergriffe gegen Frauen durch ausländische Täter. Wer es ausschließlich dem ökonomischen Interesse einer Zeitung überlässt, ob über Meldungen von Weltrang aktuell berichtet oder erst nach vielen Tagen, wie der Presserat meint, der muss sich vorwerfen lassen, dass er das Leid der vielen hundert weiblichen Opfer zu lange unterschlägt und die Täter schützt.
Ist es etwa eine Frage der Ökonomie, von billig oder teuer, wann und wie über eine Vergewaltigung berichtet wird? Wo bleibt die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde? Es ist Teil des Gerechtigkeitsempfindens der Opfer, dass die Tatverdächtigen, ihre scheußlichen Taten und ihr Hintergrund schnellstmöglich, d.h. ohne schuldhafte Verzögerung, beim Namen benannt werden. Nein, Zeitungen haben eine Aufgabe und Pflicht. Und da steht Aktualität ganz vorne, weil sie ein Teil der Wahrhaftigkeit ist, wie sie in der Präambel zum Pressekodex gefordert wird.
Das alles hat den Presserat bei der Bewertung der zeitkritischen Beschwerdefrage offensichtlich nicht beschwert. Er ist nicht über eine Vorprüfung hinaus gekommen, sondern hat die Anzeige bereits im Vorfeld abgebügelt. Er hätte sich zumindest bei der beschwerten Tageszeitung nach sachlichen Argumenten für die signifikant verspätete Berichterstattung erkundigen müssen, um die Ernsthaftigkeit seiner Prüfung zu unterstreichen. Hat er offensichtlich unterlassen und muss sich nun gefallen lassen, dass sein Spruch keinen Einzelfall darstellt, sondern Präzedenzfallcharakter hat.
Nun muss man kein Hellseher sein, um die Beweggründe und Mechanismen zu erahnen. Der Presserat ist paritätisch besetzt mit Vertretern der Zeitungs- und Zeitschriftenverbände und der Journalistenverbände. Finanziert wird die Arbeit von den Verbänden und einem Zuschuss des Bundes. Ein Schelm, der sich Böses dabei denkt. Tritt man dem Schiedsgremium zu nahe, wenn man das ausgeleierte, aber immer noch wahre Sprichwort von der Krähe bemüht, die der anderen kein Auge aushackt?
Der Presserat bewegt sich mit seinem Spruch auch deshalb auf dünnem Eis, weil selbst leitende Redakteure gesprächsweise einräumen, dass sie sich für die späte Berichterstattung schämen. Für sie liegt nach ihrem eigenen inneren Pressekodex ein Fehler vor, der wieder gutzumachen ist. Leider hat sich die Presse verhalten gezeigt, nach Köln ein überzeugendes mea culpa an die Leseröffentlichkeit zu senden. Nur wenige Organe ließen sich hierzu nieder, eher trotzig als wirklich reumütig. Nun dürfen sie sich dank Presserat von allen Vorwürfen befreit an die eigene Brust klopfen.
Doch Obacht: Köln kommt zur denkbar ungelegenen Zeit. Der Tagespresse geht es nicht gut. Werbeeinnahmen brechen weg, digitale Schwesternprodukte machen die finanzielle Lücke nicht wett. Immer mehr Leser driften zu den meist kostenlosen und aktuelleren Online Medien, überhaupt ins Netz ab. Ein beachtlicher Auflagenschwund über die Jahre ist die Folge, insbesondere bei jungen Lesern. Je nach Umfrage haben zwischen 20 und 60 Prozent der Bürger wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien.
Mancher Zeitungsverbund kämpft mit großformatiger Imagekampagne gegen den Abwärtstrend. Es geht im Kern um Glaubwürdigkeit, Qualität und Vertrauen für ein ehrliches Produkt, das man mit Hand und Kopf festhalten und begreifen kann. Es hat zweifellos nach wie vor seinen hohen Wert und Reiz, ein Printprodukt in den Händen zu halten. Eine Droge der guten Art. Lesegenuss to go. Doch dazu gehört, sich nicht zum Bückling der Politik und Follower des Hypes Mainstream machen zu lassen und Fehler zuzugeben.
Der Presserat hat eine Chance vergeben
Genau hier hat der Presserat den Tageszeitungen einen Bärendienst erwiesen, weil er sich wegduckt. Ein kritischer Spruch zur Kölner Berichterstattung hätte Weckruf und Leitlinie sein können. Er hätte zum Ausdruck gebracht, dass sich viele überregionale Leitmedien ganz schlicht und einfach unprofessionell verhalten haben. Hätte den Lesern signalisieren können, dass man keine „Wir-schaffen-das-Zeitungen“ sein will mit einseitigen Schönwetter-Homestorys aus Flüchtlingsheimen, keine Zeitung, die Scheuklappendenken in Spalten verabreicht, Mainstreamnachgeplapper gegen rechte Bewegungen ohne Substanz oder von der Politik retuschierte Kriminalstatistiken. Hätte sagen müssen, dass zum Zeitungsmachen auch Demut, Selbstkritik, Reflektion gehören, besonders, wenn die Hütte brennt.
Hätte, hätte, Fahrradkette. Die Chance ist erstmal vertan. Der Presserat hat an dieser Stelle versagt, sich zum Buchalter der Pressefreiheit geschrumpft. Das freiwillige Selbstkontrollorgan konnte sich nicht zum Selbstkritikorgan der freien Presse aufstellen. Schade. Stattdessen mogelt sich der Presserat in gebückter Haltung mit fragwürdigen Erklärungen aus der Kölner Affäre, die längst zur allgemeinen Vertrauenskrise geworden ist. Und unterschätzt dabei, dass Glaubwürdigkeit und Vertrauen in dem Maße schwindet, wie offenkundige Fehlleistungen kaschiert und weggebügelt werden.
Zugute halten muss man dem Presserat, dass er nach Köln mächtig unter Druck geraten und diskussionsbereit ist. Druck sowohl von Seiten der Leser als auch der Presse selbst entsteht insbesondere durch die Frage, ob man die Nationalität von mutmaßlichen Tätern nennen darf. Die Presse sieht sich in einer misslichen Sandwichposition, weil sie von Lesern angegangen wird, die sich durch Verschweigen der Nationalität desinformiert fühlen, andere beklagen wiederum, die Medien würden Vorurteile durch Nennung der Herkunft nähren. Einschlägig ist die Ziffer 12 Richtlinie 12.1 „Diskriminierung“ des Pressekodex.
Befolgt man die Ziffer 12 Richtlinie 12.1 als reine Lehre, dann nehmen Fallgestaltungen mitunter groteske Züge an. Weil z.B. bei sogenannten Antänzern Nordafrikaner assoziiert werden könnten, empfiehlt der Presseratssprecher den textlichen Hinweis, der Antänzer sei kein Nordafrikaner gewesen. Um beim Bild zu bleiben: gemessen am Drehpotenzial rechtfertigen solche Verrenkungen sicher ähnlich gute Haltungsnoten wie der gekonnte doppelte Rittberger beim Eistanz.
Die meisten Leser dürften jedoch das abgehobene Herumgeeiere auf hohem Niveau leid sein. Sie wollen proaktiven Klartext und nicht für kriminelle Delikte von Personen mit anderen Nationalitäten in Mithaftung genommen werden. Der Schweizer und Österreichische Presserat sind zu diesem Punkt relaxter und gewähren mit Kann- statt Muss-Regelungen der Presse größeren Ermessensspielraum. Die Österreicher sehen in der bloßen Nennung der Nationalität noch keinen Ethikverstoß, die Schweizer sollen auf diskriminierende Anspielungen verzichten und die Verhältnismäßigkeit wahren.
Der deutsche Presserat will sich demnächst mit der umstrittenen Ziffer 12 auseinandersetzen. Er sollte berücksichtigen, dass die deutschen Zeitungsleser nach über 60 Jahren Demokratie soweit gefestigt sind, dass sie nicht auf politische Scharlatane, gleich welcher Couleur, hereinfallen.
Klemens Volkmann ist Redakteur im Ruhestand und hat viele Jahre in einer obersten Landesbehörde gearbeitet.