Spätestens seit Ende 2015 haben wir uns in Deutschland schmerzlich daran gewöhnen müssen, Nachrichten zu erhalten, die über etwas berichten, das in normalen Zeiten als unvorstellbar erachtet wurde. Nun mag es auch an dieser Eskalation des Undenkbaren gelegen haben, dass der Begriff des „postfaktischen Zeitalters“ in der Rezeption der Gegenwart populär wurde.
Heute wissen wir, dass wir es mit Ablenkungsmanövern zu tun haben, wenn sich die Behauptung von Fake News gegen die Kritiker des bis dato nicht Vorstellbaren richten.
So ist es noch einmal eine besondere Situation, wenn ausgerechnet aus den Reihen der Mainmedien – formerly known as „Leitmedien“ – eine Meldung online geht, die in normaleren Zeiten das Potential gehabt hätte, ein waschechter Skandal zu werden, wenn ZDF gerade online berichtet, dass der Social-Media-Konzern Facebook Listen seiner Kritiker angelegt hat und diese via Handy-Ortung ausspioniert, als wäre es das Natürlichste der Welt, dass sich Zuckerbergs Kommunikationsmaschine einen privaten Geheimdienst leistet.
Nun ist die Verführung für Facebook sicher groß, wenn gewöhnliche Geheimdienste längst bei Zuckerberg Schlange stehen und wenn Regierungen bei Verhandlungen mit den Steuerzahlungsverweigerer Facebook Audienzen erbitten müssen, wenn sie ein paar Brosamen Datenschutz bei der Datenkrake durchsetzen möchten.
Facebook hat jetzt gegenüber dem ZDF bestätigt, dass der Konzern eine Beobachtungsliste führt, auf der Gegner des Konzerns verzeichnet seien. Auf Anfrage, warum diese Liste eingerichtet wurde, erklärte die Facebook-Sprecherin nebulös: „Es gab Fälle, in denen Personen öffentlich gegenüber Facebook Drohungen ausgesprochen haben.“ Der Reporter Salvador Rodriguez der amerikanischen Nachrichtenseite CNBC hatte als erster über die Existenz einer solchen Listen berichtet. Intern hieße diese Liste bei Facebook angeblich „Bolo“. Das sei die Abkürzung von „be on outlook“ (unter Beobachtung stehen).
Noch viel skandalöser: Facebook hat eingeräumt, nicht davor zurückzuschrecken, bei Bedarf den aktuellen Aufenthaltsort derjenigen zu orten, deren Namen sich auf der Beobachtungsliste befinden. Nur was für ein Bedarf sollte das sein, wenn die Facebooksprecherin sagt: „Falls erforderlich kann die Analyse die Standortdaten des bedrohenden Benutzers einschließen.“
Fassungslos macht hier noch einmal mehr die ungeheure Kaltschnäuzigkeit des Konzerns – noch dazu nur wenige Tage, nachdem Zuckerberg selbst einen längeren Essay veröffentlicht hatte, der von großen Veränderungen sprach, von einer Art radikaler Hinwendung zur absoluten Privatsphäre, hin zu Facebook-Profilen, die nicht einmal mehr Facebook selbst einsehen könnte.
Ist Zuckerberg ein Lügner oder hat er in seinem eigenen Konzern keine Gestaltungsmacht mehr?
Wer wird ausspioniert, wer wird als Kritiker von Facebook erkannt? Werden nur solche Kritiker ausspioniert, die auch einen Facebook-Account haben? Oder gehören WhatsApp und Co. automatisch mit zum Operationsraum dieses firmeneigenen – wie nennt man so etwas? – Spionagetools?
Gegenüber dem ZDF spricht Facebook von „branchenüblichen Maßnahmen“. Aber welche Branche soll das sein, wenn der Konzern als gigantischer Monopolist auftritt? Wenn er selbst quasi alleine die Branche ist? So wird branchenübliches Verhalten zum ureigenen Verhalten.
Und wer nun wissen möchte, was die Feinde von Facebook gegen Facebook tatsächlich im Schilde führen, der landet unvermittelt im Wattebäuschchenzimmer, dort, wo höflich angefragt wird, ob der Konzern denn bereit wäre, mitzuteilen, wer denn nun auf der Liste stehen würde.
So fragt der hamburgische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit welche Kriterien denn erfüllt sein müssen, damit ein Name auf diese Beobachtungsliste gelangt. Fragt er Facebook. Also ein Tanz der Maus um die Schlange. Hilflos, hypnotisiert, machtlos und am Ende gewohnheitsmäßig einfach heruntergewürgt.
Besonders skurril, wenn Facebook gegenüber dem ZDF beruhigen möchte, wenn es betont, das alles würde „in Übereinstimmung mit der Datenschutzrichtlinie von Facebook“ durchgeführt. Die deutschen, europäischen oder amerikanischen Datenschutzrichtlinien? Uninteressant.
Viel interessanter aber wird hier die Frage, inwieweit die Eingriffe der Politik in die Meinungsfreiheit, das Verlangen nach einer engmaschigen Kontrolle der Daten der Bevölkerung, die Etablierung eines Hate-Speech-Gesetzes den Konzern dazu ermuntert haben mag, jetzt weitere gewichtige Standards in Sachen Datenschutz und Persönlichkeitsrechte der Nutzer über Bord zu werfen, wenn Facebook weiter mitteilt, dass man nach konzerninternen Richtlinien Informationen verwendet, „um Konten und Aktivitäten von Nutzern zu überprüfen, schädliches Verhalten zu bekämpfen, Spam und anderen schlechten Erlebnissen vorzubeugen, die Integrität unserer Produkte zu wahren und Safety und Security von Facebook-Produkten zu fördern.“
Den Skandal zweifellos völlig verharmlosend könnte man hier abschließend ein deutsches Sprichwort zitieren: „Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus.“ Faktisch allerdings ist hier bissige Hund von der Leine, weil der dumme Hase ein Wolf sein wollte. Ein besonderer „Dank” der schon Geschädigten und zukünftig Geschädigten geht hier zweifellos an Heiko Maas.