Der Fall der Hamburger Elbphilharmonie hat vor allem eines gezeigt: wie auch die offensichtlichsten Fakten von interessierter Stelle verdreht werden, um den Klimaextremismus von Gruppen wie der „Letzten Generation“, „Extinction Rebellion“ und anderen kleinzureden oder gar als unterstützenswert zu loben. Trotz der sich abzeichnenden Radikalisierung sehen viele Medien und einzelne Journalisten immer noch keinen Grund, ihre eigene Rolle zu überdenken.
Hätte die als „Aktion“ verniedlichte Attacke auf den Berliner Flughafen BER eine Möglichkeit sein können, sich endlich von den Klimaextremisten zu distanzieren, so sah WDR-Journalist Jürgen Döschner die Gunst der Stunde gekommen, um das Geschehen auf absurde Weise für die Propagierung der eigenen Ideologie zu missbrauchen. „Wie viele der insgesamt 20 von der #BER-Blockade betroffenen Flüge wären vermeidbar gewesen? Wie viele der betroffenen 4-5000 Fluggäste hätten auch weniger klimaschädlich zu ihrem Ziel kommen können?“
Das ist in der Tat eine gute Frage, die allerdings die Frage aufwirft, wie viele der angeblichen Klimaschützer von Sharm el Sheikh auch ohne Flugzeug hätten anreisen können; und wieso demnach einige Flüge „richtig und wichtig“ sind, und weshalb der Flugverkehr des normalen Pöbels weniger wichtig ist. Oder ob es sinnvoll ist, ein so gefährliches Unterfangen wie die Störung des öffentlichen Flugverkehrs herunterzuspielen, um vom Bürostuhl aus darüber zu philosophieren, wie das Leben der Menschen noch mehr bestraft, bevormundet und kontrolliert werden soll.
Einer ganz ähnlichen Diskurstaktik bediente sich vor Tagen bereits der NDR/WDR-„Investigativ“-Journalist Markus Grill. Er nutzte das, was man in der Internetkultur seit Jahren unter dem Schlagwort „Derailing“ kennt: eine Ablenkungsstrategie in Diskussionen, um von unangenehmen Fakten abzulenken und die Debatte in eine gewollte Richtung zu steuern.
Grill: „Die Jurastudentin Carla Hinrichs muss dem Bundesjustizminister die Legitimität des zivilen Ungehorsams erklären. Die Frage, wer hier der Rechtsbrecher ist, ist nicht so simpel: Die Strassenkleberin oder der Politiker, der den Klimaschutz verschleppt?“ Die Klimaextremisten sind also in einer ungewollten Zwangslage: sie können gar nicht anders! Eigentlich müsste Buschmann angeklagt werden, nicht Hinrichs. Hinrichs agiert auf dem Grund eines höheren, ja göttlichen Gesetzes, ähnlich wie die Antigone des Sophokles, die nur deshalb bestraft wird, weil die Menschen verblendet sind.
Mit einer intellektuellen Glanzleistung knüpft ein Autor von der Frankfurter Rundschau an die Diskussion an. „Würde man die nervige „Letzte Generation“ nicht am schnellsten los, indem man die deutschen Klimaziele, das Pariser Abkommen und das Klima-Urteil des BVerfG politisch umsetzen würde?“ Bestechend. Mit Sicherheit würde man auch radikale Islamisten los, würden wir Deutschland zu einem El Dorado der Islamisierung ausbauen. Böse Zungen würden hinzufügen: wir sind auch dort auf dem besten Wege dorthin.
Die Süddeutsche Zeitung glaubt sich wieder als Moralbollwerk der Nation. Detlef Esslinger hebt den Zeigefinger: nach den Geschehnissen am Berliner Flughafen sollten sie – ähnlich wie ungezogene Chorknaben – in sich gehen. Aber auch für Konservative gelte: diese würden übertreiben. Denn: „Manchmal braucht es Regelverstöße, um einer Gesellschaft auf die Sprünge zu helfen.“ Die Klimaextremisten also als Korrektiv für eine träge und uneinsichtige Gesellschaft? Im Gegensatz zu den uneinsichtigen, hysterischen Konservativen? Holger Douglas hat erst kürzlich ausgeführt, dass der Angriff auf einen Flughafen alles andere als ein „aufgebauschtes Problem“ ist.
Die Kollegen vom Bayerischen Rundfunk geben dagegen den Erklärbar: welche Arten von Klimaextremisten gibt es und wie unterscheiden sie sich? Dass der Beitrag mehr Augenwischerei als Aufklärung beinhaltet, konnte man sich schon vorher denken; dass es aber geradezu biografische Nahaufnahmen sind, funktioniert wohl nur in einer Gesellschaft, in der linksradikale Ideen bereits in der Mitte verankert sind.
Während bei Dokumentationen über Gruppen des gegenüberliegenden politischen Spektrums in jeder Zwischenzeile der Autor jede noch so menschliche Regung sofort „einordnet“, fiebert man im BR-Beitrag mit. Keine einzige kritische Frage, dafür: Verzweiflung und Frust als Antrieb. Irgendwie haben die jungen Leute Recht im Anliegen, sie sind eben nur etwas zu eifrig. Für „Fridays for Futrue“ holt man sich eine Politikwissenschaftsstudentin herbei, um die Seriosität zu betonen, vergisst aber irgendwie zu erwähnen, dass der vermeintlich moderate Gegenpart zur „Letzten Generation“ auf Twitter fröhlich gegen Israel hetzt.
Lorenz Beckhardt vom WDR wiederum nutzt die Gunst der Stunde um seine eigene Vergangenheit zu romantisieren und so den Anschlag auf den BER als einen geistigen Nachfolger der Anti-Atomkraftbewegung zu verklären. Dass Beckhardt damit vor allem bekräftigt, wie irrational und verheerend die Anti-Atomkraftbewegung war, insbesondere angesichts der aktuellen Energiekrise, ist vermutlich ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Derselbe Mann, der froh ist, dass es für den ausgefallenen ICE zum Glück noch Inlandsflüge gibt, hat uns vor Jahren so ziemlich alles verbieten wollen, weil er selbst ein „Konsumjunkie“ ist.
Das jüngste Manöver kommt von ZDF-Moderator Jan Böhmermann. Wohlwissend, dass die Klimaextremisten ihren geringen Vertrauensvorschuss in weiten Teilen der Bevölkerung verspielt haben und sich deren Einfluss nur hält, weil seinesgleichen mit den Chaoten sympathisiert, hat sich der König des schlechten Geschmacks etwas Neues einfallen lassen: um „Letzte Generation“ und Konsorten zu entlasten, die immer mehr in den Ruch einer neuen RAF kommen, haftet er das Etikett der RAF-Wiedergänger schlicht jemand anderem an. In diesem Fall muss die FDP daran glauben.
Dabei ist die Aktion viel weniger ein Angriff auf eine Partei, denn ein Entlastungsangriff zugunsten der eigenen Ideologie. Weil der Klimawandel das wichtigste Thema der Welt ist, dürfen dessen extremsten Exponenten nicht ins mediale Kreuzfeuer geraten, etwa, weil man sie als das bezeichnet, was sie sind. Ähnlich wie man die Erzählung in der Philharmonie auf die Aussage des Sprechers konzentrierte, der seine Sympathien für das Anliegen der Störer bekundete, statt auf die eindeutige Reaktion des Publikums, so opfert man den wohlgefälligen Sündenbock FDP, um das Label „Terroristen“ oder „Neue RAF“ in den sozialen Medien und Hashtags mit der selbst gestreuten Propaganda zu verbinden.
Dass die Bezeichnung „RAFDP“ (dass die AfD auch im Namen enthalten ist, kommt als Nebenschauplatz sehr gelegen) dabei nicht nur vom Magazin, sondern auch vom offiziellen Twitteraccount des ZDF selbst propagiert wird, kann nur dann als Gipfel der Dreistigkeit gelten, wenn man Böhmermanns andere Aktionen bisher verpasst hat. Noch die plumpesten Kindergartenvulgaritäten, die eben nie als Ironie gemeint sind, sondern stets genau das sagen sollen, was sie meinen, kamen bisher durch.
An dem Punkt, an dem es eine Gesellschaft zulässt, dass Kinder als „Pestratten“ bezeichnet werden dürfen, und ein ideologisiertes Publikum eine solche Bezeichnung auch noch beklatscht, weil es sich für intellektuell überlegen hält, hat man das moralische Ende der Fahnenstange erreicht. Jan Böhmermann ist in der Tat eine Figur aus „Des Kaisers neue Kleider“: es existiert kein Witz, man lacht aber dennoch, sonst gerät man in Gefahr, nicht dazuzugehören.
Diesen journalistischen Schattenspielen ist vor allem eines gemein: ein zutiefst diabolischer Charakter. Die wahren Extremisten werden zu Helden verdreht. Die eigene Macht in Sachen Einfluss und Reichweite wird dazu missbraucht, das Reich der Lüge aufzubauen. Solschenizyn, der das Böse seziert hat wie kaum ein anderer Schriftsteller, hat diese Mechanismen eingehend beschrieben. Es sind die Mechanismen einer Gesellschaft, die bereits seit langem ihr demokratisches oder liberales Gewand abgelegt hat. Es wäre zu einfach, man unterstellte bösen Menschen nur böse Absicht. Menschen mit vermeintlich guten Absichten haben schon viel Verheerenderes angestellt.