Gut ein Drittel der „Anne Will“-Sendung ist vorbei, als der erhellendste Moment des Abends kommt – ein Einspieler zu den offenen Briefen, die zu dem Thema pro und contra Waffenlieferungen in die Ukraine an Kanzler Olaf Scholz (SPD) addressiert wurden. Das Erhellende an diesem Moment: Die Will-Redaktion unterlegt den Beitrag mit Bildern von modernen Waffen. Sie hat laut Quellenauskunft diese Bilder von der Nato. Offensichtlich verfügt die ARD oder die Will-Redaktion selbst nicht über solches Material.
Mit dieser Quellenangabe macht die Redaktion etwas klar, das in den vielen deutschen Diskussionen zum Ukraine-Krieg nicht vorkommt. Auch nicht in dieser Folge der Will-Show: Der Ukraine-Krieg wird nicht in Berlin entschieden. Zum einen entscheiden den Krieg die Kämpfe an Don und Dnjepr. Zum anderen spielt eine entscheidende Rolle, wie sich die Nato verhält – und da folgt Deutschland eher, als dass es führt. Wie das funktioniert, zeigte das Treffen der Außenminister im pfälzischen Ramstein: Vorher sagte Bundeskanzler Olaf Scholz, Waffenlieferungen an die Ukraine würden zum Atomkrieg führen. Danach sagte Scholz, Deutschland werde Waffen liefern. Die USA hatten ihn auf Kurs gebracht.
Auch Anne Will stellt diese Frage nicht. Obwohl sie die Scholz-Rede zum Aufhänger der Sendung macht und obwohl sie mit SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert einen Gast hätte, der zumindest für die Kanzlerpartei sprechen kann. Doch statt über den Kern des Konflikts geht es bei Will wieder um die deutsche Befindlichkeit zum Krieg. Darüber, was ein Gerhard Polt oder ein Ruprecht Polenz in offenen Briefen über Waffenlieferungen geschrieben haben. Der ehemalige CDU-Generalsekretär ist – wieder einmal – in der Sendung.
Dieses Um-das-Thema-herum-reden, treibt mittlerweile seltsame Blüten. Die Will-Sendung trägt eine besonders absurde Blüte bei. Der Soziologe und Gegner von Waffenlieferungen, Harald Welzer, spricht im schönsten Vorlesungs-Ton den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk an: Welzer sei aufgefallen, wie „offensiv“ Melnyk seine Gesprächspartner angehe. So weit könnte das vermutlich eine Mehrheit unterschreiben.
Ohnehin steht der Zweite Weltkrieg fast genau so sehr im Studioraum wie der Ukraine-Krieg selbst. Die Sendung findet am 8. Mai statt. Dem Tag, an dem die Kapitulation des Deutschen Reichs in Kraft trat. Gäbe es ein Trinkspiel für die Wortkombination „dieser besondere Tag“, der Zuschauer ginge mit 20 Klaren im Kopf ins Bett.
Spannend ist dann die Diskussion über die Kriegsziele: Wer hat wann was gesagt? Geht es um ein Ende der Kämpfe? Oder muss Russland zuerst seine Landgewinne aufgeben? All diese Fragen sind spannend. Aber nicht so spannend wie die Frage, warum sie überhaupt bei Will diskutiert werden. Denn: Aufhänger der Sendung ist die Scholz-Rede. Dessen zentraler Punkt war, dass Deutschland nicht Kriegspartei werden solle und wolle. Keiner im Studio widerspricht ihm in diesem Punkt. Warum aber sollte ein Land, das überhaupt keine Kriegspartei ist, Kriegsziele definieren? Auch diese Frage bleibt unausgesprochen von und bei Will.
Apropos. Deutschland hat zwei wesentliche Schalthebel, wenn es sich in den Krieg einmischen will – oder muss. Zum einen sind das die Waffenlieferungen. Darum geht es bei Will ausführlich. Wobei die Semantik deutscher Intellektueller stärker im Mittelpunkt steht als die Schusskraft deutscher Waffen. Es gibt aber auch noch einen anderen Hebel: die Frage, wie konsequent Deutschland sich an Sanktionen beteiligt. Doch das Wort „Gas“ kommt in der Will-Sendung nicht vor.
Warum nicht? Als einen von vier Grundsätzen hat Scholz in seiner Rede vorgetragen, dass Deutschland nichts tun werde, was ihm selbst mehr schade als Russland. Diesen Punkt spricht Will gegenüber Kühnert durchaus an. Doch ohne das Wort Gas zu erwähnen, ohne zu fragen, ob Scholz damit angekündigt habe, dass Deutschland Russlands Gas weiterhin beziehen wird, oder gar anzusprechen, was im Falle des Boykotts zuerst stillstehen würde: Industrie oder Heizungen?
Die Will-Sendung ist öde: zwei Politiknasen. Neben Kühnert ist noch Britta Haßelmann da. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag betont, dass Scholz seine Rede ja an einem „besonderen Tag“ gehalten habe. Prost. Dazu kommen zwei, nun nennen wir sie in Ermangelung eines höflichen Begriffs, Intellektuelle, die offene Briefe schreiben. Obendrein Melnyk. Wie immer. Doch seit die USA Scholz auf Kurs gebracht haben, liefert er als Krawallschachtel vom Dienst auch weniger ab. Gut, als er Welzer daran erinnert, kein Student zu sein, dem dieser soziologische Vorträge halten könne – das ist lustig.
Spannend ist die Sendung trotzdem. Nämlich wegen der Fragen, die nicht gestellt werden: Wie viel Einfluss hat Deutschland? Wie weit folgen wir USA und Nato, falls diese vom „Exportweltmeister“ Beschlüsse verlangen, dessen Konsequenzen diesen in seiner Existenzgrundlage treffen? Und was machen wir denn, wenn ohne Gas die Lichter ausgehen? So öde die Debatte bei Will auch ist, so unterhaltsam ist es doch zuzusehen, wie sich hierzulande Vordenker an Unangenehmem vorbei quetschen. Vordenker deshalb, weil es an einem höflichen, anderen Wort fehlt.